Kolumne Talent Management: Erfahrungswissen nutzen

Talente können viel von Management-Gurus und Top-Trainern lernen - vorausgesetzt sie erkennen die Erfahrung der Vorbilder als wichtige Wissensressource an. Unserem Kolumnisten Martin Claßen gelang das mit Chris Argyris erst nach Jahren.

In der Organisationsentwicklung gilt Chris Argyris als eine der Hauptfiguren. Auf ihn gehen Konzepte wie die lernende Organisation zurück. Kürzlich ist er im betagten Alter von neunzig Jahren gestorben. Persönlich kennengelernt habe ich ihn zwanzig Jahre zuvor, im Sommer 1993 während des sechswöchigen "International Teachers Program" im Insead. Er war damals einer der Hauptreferenten, längst anerkannter Guru. Gerade war eines seiner Schlüsselwerke namens "Knowledge for Action" erschienen, in dem er sein Konzept des sich selbst hinterfragenden und dabei verbessernden Lernens ("Double Loop Learning") weiterentwickelte.

Ich erzähle dies hier übrigens nicht, um anzugeben nach dem Motto "Hey, ich kenne Chris Argyris persönlich". Das ist eine beliebte Kompetenzanmaßung, gerade auch bei Möchtegern-Talenten, über ein solches "Name Dropping" etwas vom Glanz der Stars auf sich selbst umzubuchen.

Die Erfahrung der Älteren anerkennen

Warum erzähle ich es dann? Weil Argyris ein exzellenter Trainer für uns hätte sein können, mit wertvollen Einblicken in nachhaltige Organisationsentwicklung. Die wir allerdings ob seiner etwas umständlichen Art in keiner Weise zu schätzen wussten.

Wir, das war eine Gruppe junger Führungskräfteentwickler aus der ganzen Welt, die von ihrer jeweiligen Organisation mit Vorschlusslorbeeren samt einem fetten Stipendium nach Fontainebleau geschickt wurden – arrogante Talente eben.

Ich möchte mich keinesfalls ausnehmen, war ich doch einer derjenigen, die Argyris mit fiesen Fragen herausforderte. Er war bereits siebzig, wie gesagt nicht besonders eingängig und vor allem wenig unterhaltsam, typischer Prof eben. Nur allzu leicht ließ er sich durch treudoofe Fragen veräppeln: "Toll, ihre Idee mit dem 'Double Loop Learning". Was halten sie denn vom dreifachen Salto?"

Wir fanden solche Fragerei spritzig. Argyris bemühte sich um eine redliche Antwort, die jedes Mal reichlich kompliziert ausfiel. So ging es ein paar Tage lang. Am Ende gaben wir ihm eine schlechte Bewertung. Er hatte bestimmt keine gute Zeit.

Lob der Lebensweisheit statt Wahn nach Webwissen

Vermutlich liegt es an meinem eigenen Älterwerden, dass ich der Lebensweisheit gelegentlich ein Lob singe. Die Psychologie nennt dies "kristalline Intelligenz" – aus der Erfahrung erlerntes Wissen. Das bringt manche Senioren zu weit besseren Entscheidungen als die Aufgeregtheit junger Talente mit ihrem angeklickten www-Wissen.

In einer Mainzer Karnevalssitzung wurde dies einmal salopp auf den Punkt gebracht: "Ehret die Alten, bevor sie erkalten". Das haben wir bei Argyris damals nicht gemacht. Dafür möchte ich mich zumindest jetzt entschuldigen. 

Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.