Interview: Martin Seiler über die HR-Strategie der Deutschen Bahn

Martin Seiler wurde vom Personalmagazin als "CHRO of the Year 2020" ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung befragten Stefanie Hornung und Reiner Straub den Personalvorstand der Deutschen Bahn zu seiner HR- und Krisenstrategie. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Gespräch.

Personalmagazin: Herr Seiler, Sie haben einen schweren HR-Job, vielleicht einen der schwersten in diesem Land, und stehen im Rampenlicht. Macht es Ihnen Spaß, mit der Öffentlichkeit umzugehen oder ist das eher eine Bürde für Sie?

Martin Seiler: Die Deutsche Bahn ist ein tolles Unternehmen, das natürlich im Rampenlicht steht. Jeder kennt die Deutsche Bahn. Ich freue mich, dass ich Teil sein darf von großen Veränderungen. Wir wollen mit der Deutschen Bahn einen maßgeblichen Beitrag zur Verkehrswende leisten, das Thema Umwelt in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen die große Tradition, die die Bahn hat, wahren und gleichzeitig in eine innovative Zeit führen. Das ist eine große Herausforderung, aber eben auch genau das, was mir Spaß macht an dem Job: Diese Transformation mitgestalten zu dürfen.

Personalmagazin: Sie sind bald drei Jahre Personalvorstand der Deutschen Bahn. Was war die schwierigste Entscheidung, die Sie treffen mussten in dieser Zeit?

Seiler: Als am 22./23. Februar 2020 die ersten Züge am Brenner angehalten und Dörfer in Italien geschlossen wurden, haben wir quasi über Nacht den Krisenstab ins Leben gerufen. Ich habe dort für den Vorstand die Verantwortung übernommen. Das war schon eine ganz besondere Herausforderung.

Keine radikale Sparpolitik: Bahn hält an ihrem Zukunftsprogramm fest

Personalmagazin: Vor über einem Jahr haben Sie das Zukunftsprogramm "Starke Schiene" vorgelegt, mit dem die Bahn wachsen wollte. Die Fahrgastzahlen sind durch Corona aber stark eingebrochen und bis Juli verzeichneten Sie einen Verlust von 3,7 Milliarden Euro - den größten Verlust der Unternehmensgeschichte.  Brauchen Sie jetzt ein neues Zukunftsprogramm?

Seiler: Nein, wir halten an der Strategie fest. Denn das, was wir in diesem Zukunftsprogramm festgelegt haben, nämlich dass wir in Infrastruktur, Fahrzeuge und Personal investieren wollen, das ist auch in der Krise und nach der Krise richtig. Natürlich sind die Einbrüche durch die Corona-Krise enorm, trotzdem gehen wir jetzt nicht in eine radikale Sparpolitik, sondern versuchen mit Augenmaß auf der einen Seite die Schäden zu minimieren, gleichzeitig aber auch intelligent zu investieren, um die Zukunftsfähigkeit der Bahn nicht aufs Spiel setzen.

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Personalmagazin: Sie haben jüngst einen Tarifvertrag abgeschlossen, den Sie als Meilenstein bezeichnet haben. Enthalten waren eine Lohnerhöhung auf einen Korridor von 0,5 bis 1,5 Prozent, die Fortsetzung der Einstellungsoffensive sowie großzügige Freistellungsmöglichkeiten für Eltern während der Corona-Krise. Das Manager Magazin kommentierte Ihren Tarifabschluss mit der EVG mit der Headline: "Trotz Riesenschulden zahlt die Bahn mehr Lohn". Was antworten Sie?

Seiler: Es war gut, dass die EVG als Gewerkschaft von Anfang an gesagt hat, dass sie bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Wenn man in so einer großen Krise steckt, müssen alle ihren Beitrag leisten. Dieser Tarifabschluss ist ein Meilenstein, weil es uns gelungen ist, moderate Lohnerhöhungen zu ermöglichen, und gleichzeitig das Signal zu geben, dass wir weiterhin investieren. Wir haben Einstellungszusagen für die nächsten zwei Jahre gemacht, jeweils 18.000 Neueinstellungen, davon 4.400 Ausbildungsplätze pro Jahr. Mit diesem Tarifabschluss können beide Seiten viel mit nach Hause nehmen, und das in so schwierigen Zeiten.  Da kann ich nur allen Beteiligten Danke sagen, auch der EVG, denn das ist Ausdruck von Sozialpartnerschaft.

Personalmagazin: Dennoch muss der Bund in den nächsten Jahren Zuschüsse für die Bahn in Milliardenhöhe bereitstellen und verlangt auch von der Bahn eigene Sparbemühungen, auch beim Thema Personal. Vor Wochen stand die Zahl 2 Milliarden Euro an Einsparungen bei Personalkosten bis 2024 im Raum. Müssen Sie nachverhandeln?

Seiler: Der Bund als Eigentümer hat gleich zu Beginn der Krise gesagt, dass wir diese gemeinsam bewältigen wollen. Der Deal ist, dass der Bund und die Bahn jeweils die Hälfte an Unterstützung leisten. So kam das genannte Sparziel zustande. Einen maßgeblichen Beitrag leistet dieser Tarifabschluss. Aber es kommen noch andere Dinge dazu: Der Vorstand verzichtet in diesem Jahr komplett auf den Bonus, auch die Führungskräfte leisten Beiträge. Außerdem haben wir statt auf Kurzarbeit sehr stark auf den Abbau von Überstunden und Urlaub gesetzt, um Rückstellungen aufzulösen. Wir sind auf einem guten Weg, tatsächlich den erforderlichen Beitrag leisten zu können.

Veränderte Anforderungen der Fahrgäste

Personalmagazin: Für die Klimaziele der Bundesregierung spielt die Bahn eine zentrale Rolle. Das Ziel lautet "doppelt so viele Bahnkunden bis 2030", doch mit Corona sind die Fahrgastzahlen massiv eingebrochen. Wie wollen Sie wieder mehr Fahrgäste in die Züge bekommen?

Seiler: Wir wollen bis 2050 komplett klimaneutral sein. Dieses Ziel bleibt. Was die Fahrgastzahlen angeht, stehen wir durch die Corona-Krise jetzt natürlich vor einer riesigen Herausforderung, und wir brauchen einen längeren Atem als ursprünglich geplant. Im Fernverkehr hatten wir in der Krise bis zu 90 Prozent weniger Fahrgäste, im Regionalverkehr teilweise mehr als 50 Prozent weniger. Wir gehen davon aus, dass wir erst 2022/23 wieder auf dem Fahrgastniveau von 2019 sind.

Wir müssen uns jetzt die veränderten Anforderungen der Reisenden anschauen. Ein Beispiel: Wenn Pendler, die bisher eine Monatskarte hatten, jetzt nur noch ein bis zweimal pro Woche ins Büro fahren und ansonsten im Homeoffice arbeiten, dann lohnt sich die Monatskarten nicht mehr. Diese Kunden brauchen vielleicht 10er- oder 20er-Karten, die flexibler genutzt werden können. Da müssen wir unsere Angebote differenzieren. Ein weiterer Punkt ist natürlich der Infektionsschutz. Gemeinsam mit der Charité betreiben wir eine Studie, um zu erforschen, wie sicher das Reisen in unseren Zügen ist. Erfreulicherweise zeigen die ersten Ergebnisse, dass unsere Beschäftigten in den Zügen kein größeres Risiko haben, sich mit Covid-19 anzustecken, als andere Referenzbeschäftigte. In einem ICE wird innerhalb von sieben Minuten die Luft einmal komplett ausgetauscht.  Das ist für die Beschäftigten und die Kunden gleichermaßen wichtig.

Recruiting-Offensive wurde auch während der Corona-Krise fortgesetzt

Personalmagazin: Sie haben bereits ihre Rekrutierungsoffensive angesprochen Wir hat sich das Recruiting in der Corona-Krise verändert?

Seiler: Das Recruiting ist bei uns ein gigantischer Prozess. Pro Jahr bewerben sich circa 400.000 Menschen bei der Bahn. Während des Lockdowns standen wir – wie anderen Unternehmen auch - vor der Situation: Wie machen wir das denn jetzt?  Wir haben innerhalb von 14 Tagen den kompletten Prozess von der Bewerbung, über das Vorstellungsgespräch bis hin zum Onboarding vollumfänglich digitalisiert  – das ist eine fantastische Leistung unserer Recruiting-Teams zusammen mit unserer IT! Dadurch konnten wir in dieser Zeit in einer ähnlichen Größenordnung einstellen wie unter herkömmlichen Rahmenbedingungen. Wir haben dieses Jahr bislang 22.500 Einstellungszusagen gemacht, davon sind 4.700 Ausbildungsverträge. Und wir werden die 25.000, die wir uns für dieses Jahr zum Ziel gesetzt hatten, definitiv schaffen.

Personalmagazin: In welchen Bereichen stellen Sie die neuen Mitarbeiter ein?

Seiler: Wir konzentrieren uns sehr stark auf die operativen Berufe: Lokomotivführer, Stellwerksmitarbeiter, Gleisbauer - die klassischen Bahn-Berufe also. Aber auch im Bereich Digitalisierung und IT werden wir einstellen.

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Brücken bauen, nachhaltig arbeiten, Freiräume geben

Personalmagazin: In der Laudatio zur Preisverleihung hat Julia Bangerth, die Vorjahresgewinnerin, ihre Brückenbauer-Funktion hervorgehoben, die Personaler immer wieder zu erfüllen haben. Sie müssen unterschiedliche Interessen zusammenbringen. Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wie viel Konfliktfähigkeit braucht eigentlich ein CHRO?

Seiler: Für Arbeit von HR-Verantwortlichen ist ein Begriff wichtig: Nachhaltigkeit. Wir haben keine Einzelentscheidungen zu treffen, sondern leben in einer Langzeitbeziehung mit den Beteiligten. Deswegen ist es wichtig, verlässlich und nachhaltig zu arbeiten, und dem Gegenüber auch bestimmte Freiräume zu geben - gerade in einer Sozialpartnerschaft. Konfliktfähigkeit hat mehr Dimensionen als nur hart oder weniger hart zu verhandeln. Konfliktfähigkeit bedeutet Brücken schlagen – zwischen Themen, zwischen Einheiten, zwischen Generationen. Die Bahn ist ein Traditionsunternehmen und wir wollen diese Tradition wahren – und gleichzeitig die Transformation vorantreiben und das Unternehmen in die Zukunft führen. Wir haben Kolleginnen und Kollegen, die dreißig, vierzig, fünfzig Jahre dabei sind, mit viel Erfahrung und Fachwissen. Und jetzt stellen wir pro Jahr 25.000 neue Mitarbeiter ein. Da können Konflikte entstehen. Wir als Personaler sind gefragt, Jung und Alt zusammenzubringen – eben Brücken zu schlagen.

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Personalmagazin: Manche sagen, für die Transformation braucht es einen Bulldozer, der hart durchgreift und einfach mal alles umkrempelt.

Seiler: Ich musste auch schon harte Entscheidungen treffen, weil es unternehmerisch erforderlich war. Aber ich sage immer: Es gibt auch den Tag nach der Sanierung. Und da muss es immer noch etwas geben, woran man anknüpfen kann.

Die Corona-Krise als Chance für HR

Personalmagazin: Sie haben als CHRO den Krisenstab geleitet. Auch in anderen Unternehmen war HR oft federführend beim Krisenmanagement. Hat der CHRO in der Corona-Krise an Bedeutung gewonnen?

Seiler: Ich bin davon überzeugt, dass die Krise eine große Chance für die HR-Funktion ist.  Denn die Veränderungen, die wir jetzt sehen, sind so groß und kommen so schnell, dass es uns auch wirklich braucht, um diese Transformation zu gestalten.  Wir sind jetzt gestärkt, aber wir müssen diesen Freiraum, dieses Zeitfenster auch nutzen, um Antworten auf die drängenden Fragen zu finden - natürlich gemeinsam im Schulterschluss mit den operativ Verantwortlichen und mit den anderen Vorstandsmitgliedern.

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Personalmagazin: Und persönlich?

Seiler: Ich leite jetzt seit 31 Wochen den Krisenstab – natürlich ist meine Visibilität innerhalb des Konzerns in dieser Zeit gestiegen. Beim Krisenmanagement geht es ja nicht nur um HR-Themen, sondern auch um Kommunikation, Gesundheitsmanagement, Einkauf, IT. Wenn einem da die Steuerung gut gelingt, hat man als Person natürlich nochmal ein anderes Standing. Und die Chance, die sich daraus ergibt - und das weiß ich auch von meinen Kolleginnen und Kollegen in vergleichbarer Situation - sollten wir auch gemeinsam nutzen.

Krisenszenarien und Infektionsschutzkonzepte für den Herbst

Personalmagazin: Alle reden im Moment von einem schwierigen Herbst, der uns bevorsteht. Die Bundeskanzlerin hat  die Menschen nochmals eindringlich gewarnt, die Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Wie bereiten Sie sich als Bahn und als Leiter des Krisenstabes auf den Herbst vor?

Seiler: Es ist in der Tat wieder eine kritische Situation, einiger Regionen überschreiten bereits die Grenzwerte. Wir als Deutsche Bahn und insbesondere der Krisenstab beobachten sehr genau die Situation. Das Ziel bleibt immer: Den Gesundheitsschutz der Beschäftigten und der Kunden sicherstellen und gleichzeitig die Mobilität aufrecht zu erhalten. Dafür tun wir viel. Beispielsweise haben wir ein eigenes Labor, in dem wir selbst Covid-19-Tests durchführen können. Wir stellen Desinfektionsmittel selbst her. Wir haben die Reinigungsfrequenz erhöht. An den Bahnhöfen lenken wir die Verkehrsströme anders. Wir tun alles, um die Hygiene, die Abstandsregeln und die Vorsorgemaßnahmen wirklich zu nutzen. Aber wir müssen und wir werden uns auch immer den jeweiligen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen anpassen. Dabei kommt es darauf an, dass wir das möglichst schnell tun. Aber wir sind gut aufgestellt, wir haben das ja auch im Frühjahr hingekriegt.  

Personalmagazin: Sie haben durchaus auch Gefahren für den Betrieb. Ich denke da an das Stellwerk Mainz 2013, als wegen Personalmangels der Bahnhof Mainz geschlossen werden musste und Züge ausgefallen sind. Pandemie heißt ja auch, dass im schlimmsten Fall ganze Mitarbeitergruppen in Stellwerken oder Bahnhöfen betroffen sein könnten. Haben Sie dafür Krisenszenarien?

Seiler: Natürlich müssen wir unsere Beschäftigten schützen und Sie haben einen der kritischsten Bereiche angesprochen: unsere Stellwerke. Wir haben es geschafft, dass in der Krise bisher kein einziges zugemacht werden musste. Natürlich haben wir Vorkehrungen getroffen. Es gibt beispielsweise einen kontaktlosen Schichtübergang. Es dürfen nur noch die Menschen die Räume betreten, die wirklich betrieblich erforderlich sind. Wir bilden Schichten gruppenweise, sodass sich bestimmte Gruppen gar nicht treffen, damit wir - wenn es tatsächlich einen Fall gibt - entsprechend Ersatz haben. Dasselbe gilt auch für andere Bereiche, in denen Menschen auf engem Raum zusammenarbeiten müssen, zum Beispiel in der Werkstatt. Wir haben das Bereich für Bereich durchdekliniert – und dabei auch sehr intensiv mit dem Betriebsrat zusammengearbeitet. Wir haben für jeden einzelnen Bereich Konzepte entwickelt, um einen höchstmöglichen Schutz für die Beschäftigten zu gewährleisten.

Personalmagazin: Wie gehen Sie da vor? Werden diese Konzepte in der Zentrale ausgetüftelt und nachher in den Regionen ausgerollt?

Seiler: Nein, für diese Konzepte haben wir dezentrale Stäbe, denn wir sind ein sehr heterogenes Unternehmen mit unterschiedlichsten Anforderungen. Also das Konzept für die Stellwerke beispielsweise wurde in der Netz AG entwickelt. Zentral wird nur vorgegeben, dass ein Konzept zu erstellen ist und welche Voraussetzungen es erfüllen muss. Unser Betriebsarzt steht auch beratend zur Seite. Aber die Frage der Ausgestaltung und der konkreten Umsetzung liegt in den Einheiten und ich finde, da gehört das auch hin.

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Personalmagazin: Sie haben einen Großteil der Beschäftigten auf der Strecke im Betrieb. Wie schaffen Sie es eigentlich, dass die Leute zur Arbeit gehen und sich nicht krankmelden? Müssen Sie da besondere Anreize geben oder ist das kulturbedingt?

Seiler: Wir haben dieses Jahr trotz Pandemie einen geringeren Krankenstand gehabt wie in den vergangenen fünf Jahren. Ich denke, das ist schon ein Stück weit kulturbedingt. Die Leute sagen: Ich kremple die Ärmel hoch, ich will meinen Beitrag leisten. Umgekehrt haben wir auch wenig Kurzarbeit gemacht, was uns viele Mitarbeiter positiv zurückgespiegelt haben. Beispielsweise die Bordgastronomie in den Zügen: Da haben wir die Beschäftigten eben nicht in Kurzarbeit geschickt, sondern sie anderweitig beschäftigt oder alten Urlaub abgebaut.

Personalmagazin: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wie halten Sie sich selbst up-to-date?

Seiler: Ich habe das Glück gehabt, dass ich in meinen beruflichen Stationen immer wieder Menschen gehabt habe, die mir etwas zugetraut haben, die mich gut begleitet und gefördert haben. Diese Begleitung ist wichtig. Der zweite Punkt ist, dass mir mein Job einfach sehr viel gibt. Da kommt das Engagement immer wieder dazu zu lernen ganz von alleine. Und ich bleibe immer positiv und lache gerne, auch wenn die Situation gerade noch so schwierig ist.


Zur Person: Martin Seiler ist seit Januar 2018 Vorstand Personal und Recht der Deutschen Bahn AG. Während der Corona-Pandemie leitete er den Krisenstab des Konzerns. Von den Leserinnen und Lesern des Personalmagazins wurde er zum "CHRO of the Year 2020" gewählt.


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