Interview: Individuelles Weiterbildungsbudget bei der ING

Knapp 4.000 Bankmitarbeitern der ING in Deutschland steht seit September 2020 ein tariflich zugesichertes, individuelles Weiterbildungsbudget von 500 Euro im Jahr zur Verfügung. Sebastian Harrer, Head of HR, erklärt im Interview, welche Weiterbildungsstrategie die ING damit verfolgt.

Haufe Online Redaktion: Seit September steht allen Mitarbeitenden der ING ein tariflich zugesichertes Weiterbildungsbudget von 500 Euro im Jahr zur Verfügung. Welchen Zweck hat dieses Weiterbildungsbudget?

Sebastian Harrer: "Empowering People" ist Teil unseres Selbstverständnisses und steht für die HR-Arbeit der ING in den letzten Jahrzehnten. 2018 und 2019 kam dann die große Transformation: Wir haben begonnen, die gesamte Bank in die erste komplett agil arbeitende Bank Deutschlands zu transformieren. Bei so einem Unterfangen gibt es natürlich mehrere Stopps, bis man überhaupt das Basislager erreicht und die gesamte Organisation in den Modus der Transformation versetzt hat. Zu Beginn dieser Reise haben wir uns die Frage gestellt: Für diese neue Art zu arbeiten, zum Beispiel in Squads, in crossfunktionalen Teams, die ihre Arbeit selbstgesteuert organisieren, für diese neue Arbeit braucht es auch neue Kompetenzen.

Im Sinne von "T-Shaping" braucht jeder Mitarbeiter nicht nur seine Spezialisierung auf sein Fachgebiet, das symbolisiert der vertikale Balken des "T"s, sondern auch eine Generalisierung, das ist der Querbalken. Im Sinne dieses "T-Shapings" wollen wir Mitarbeitern ermöglichen, auch Aufgaben zu übernehmen, die eher am Rande ihrer Expertise liegen. Wenn das ein Kernelement unserer agilen Organisation ist: Wie kann ich den Mitarbeitern dann ein Instrument an die Hand geben, um sich persönlich weiterzuentwickeln? Wir müssen sicherstellen, dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr persönliches T-Profil selbständig weiterentwickeln können. So kann beispielsweise ein Java-Entwickler nach Eigeninteresse mal in andere Bereiche, zum Beispiel in Customer Analytics, reinschauen und sich dafür das nötige Statistik-Wissen aneignen.

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Haufe Online Redaktion: Ist das bisher nicht möglich?

Harrer: Häufig ist das kein Thema für klassische, betriebliche Weiterbildung. Hier besteht häufig die Gefahr, dass die Führungskraft nur fachspezifische Weiterbildungen genehmigt, also eine IT-Schulung für einen Java-Entwickler. Um genau das zu vermeiden, haben wir uns das Weiterbildungsbudget ausgedacht: Jeder und jede kann digital auf der Plattform Kurse heraussuchen, mit einem Budget, das jeder selbst in der Hand hat, ganz ohne Genehmigungsprozess.

Portfolio ist inhaltlich und qualitativ auf ING abgestimmt

Haufe Online Redaktion: Wie weit weg von der eigenen Kernkompetenz kann so eine Weiterbildungsmaßnahme sein? Kann ich mir davon auch mal einen Gitarrenkurs leisten?

Harrer: (lacht) Diese Frage haben wir tatsächlich auch mit den Tarifkommissionen diskutiert. In der Tat ging es dabei um Beispiele wie Tangokurse oder "Töpfern in der Toskana". Ich persönlich würde grundsätzlich sagen: Es ist immer gut, sich weiterzuentwickeln. Ich selbst bin großer Freund von Essen und Trinken und finde es spannend, weil ich immer wieder Parallelen zwischen der Spitzengastronomie und Themen um Leadership entdecke. Es kann also durchaus sein, dass jemand durch einen Gitarrenkurs Inspiration für seinen Job findet. Trotzdem haben wir gemeinsam mit den Tarifkommissionen entschieden, das Angebot auf Themen zu beschränken, die zumindest im Unternehmen insgesamt verankert sind. Diese Themen sind aber nicht auf einzelne Profile oder Jobgruppen bezogen, denn damit hätten wir unser Ziel verfehlt.

Den Rahmen setzen wir für alle Mitarbeitenden gemeinsam mit den Tarifkommissionen. Dafür haben wir uns die Angebote und Portfolios von verschiedenen Weiterbildungsanbietern angeschaut und entschieden, welche Inhalte für unser Unternehmen relevant sind. Das sind natürlich nicht nur Hardskills wie Statistik oder Java, sondern auch Softskills, etwa zu Moderation oder Sprachkurse. Das Portfolio ist relativ weit, aber es gibt leider keinen Gitarrenkurs.

Wir definieren gemeinsam die Anbieter und die Portfolios, die wir anbieten und arbeiten dabei vor allem mit namhaften Weiterbildungsträgern."


Haufe Online Redaktion: Die inhaltliche Passung ist das eine, aber wie sichern Sie dabei die qualitativen Standards?

Harrer: Das eine ist eine Art der Evaluierung, die wir machen werden, wenn wir den ersten Jahreszyklus durchlaufen haben. Das andere ist die Qualitätssicherung des Angebots durch die gemeinsame Auswahl von HR und der Tarifkommissionen. Wir definieren gemeinsam die Anbieter und die Portfolios, die wir anbieten und arbeiten dabei vor allem mit namhaften Weiterbildungsträgern, die auch für eine gewisse Qualität stehen, etwa mit der Haufe Akademie, mit Neuland oder mit der Zeit Akademie. Unsere Learning-Experten überprüfen dabei natürlich auch die Angebote und die Formate.

Weiterbildungen bis zu 1.500 Euro können gefördert werden

Haufe Online Redaktion: Qualitativ hochwertige Angebote haben aber durchaus einen Preis. Eine Ein-Tages-Fortbildung kann dann schnell eintausend Euro kosten. Reichen dann überhaupt 500 Euro pro Jahr?

Harrer: Das Budget kann über drei Jahre angespart werden. Also ist ein solcher Tagessatz alle zwei Jahre drin, mehrtägige Fortbildungen bis zu 1.500 Euro kann man sich dann eben nach einem Jahr leisten, oder die Mitarbeitenden zahlen privat etwas dazu. Aber dabei darf man nicht vergessen, dass das Weiterbildungsbudget nur eine von drei Säulen unserer Weiterbildungsstrategie ist: Die erste Säule umfasst jobbezogene Weiterbildungen. Wenn neue fachliche Kompetenzen oder neue Zertifikate notwendig sind, werden diese Weiterbildungsmaßnahmen natürlich ohnehin schon übernommen und die Mitarbeitenden werden dafür auch freigestellt. Die zweite Säule bezieht sich auf die Entwicklung von neuen Berufsbildern. Dafür haben wir für alle Mitarbeiter der Bank das "ING-Stipendium". Auch das ist tariflich basiert und umfasst verschiedene Ausbildungsbereiche, die für die ING relevant sind, zum Beispiel im IT- und Tech-Umfeld, aber auch Wirtschaftsberufe. Über dieses Stipendium können Mitarbeiter dann zum Beispiel einen Bachelor oder Master erwerben, wenn sie ihr Jobprofil innerhalb der Bank grundlegend verändern möchten.

Erst bei der dritten Säule kommen wir zum Weiterbildungsbudget. Wir nennen es übrigens "Learn-ING". Dabei geht es darum, sich selbst persönlich weiterzuentwickeln und breiter aufzustellen. Wir wollen damit einen Anreiz schaffen für lebenslanges Lernen und da muss jeder für sich selbst entscheiden, ob ein Tag Präsenzveranstaltung alle zwei Jahre reicht, oder ob ich mir lieber erstmal ein Buch kaufe, die Rechnung einreiche oder zum Beispiel einen Online-Kurs wähle. Dabei gibt es viele Spielarten. Ich glaube, dass Lernen künftig immer seltener im Klassenraum stattfinden wird. Digitale Lernformen werden künftig ohnehin den Großteil ausmachen.

Haufe Online Redaktion: Werden die Mitarbeitenden für diese Weiterbildungen auch freigestellt?

Harrer: In der dritten Säule fördern wir die Weiterbildung über das Budget. Wenn darüber hinaus Fahrtkosten anfallen oder Arbeitszeit ausfällt, müssen die Mitarbeitenden privat dafür aufkommen.

Tarifliche Vereinbarung ist für ING beste Lösung

Haufe Online Redaktion: Wie kam die Idee zustande, das im Tarifvertrag zu verankern?

Harrer: ING Deutschland ist in der Banking-Branche schon lange dafür bekannt, dass wir in jeder Hinsicht versuchen, innovative Lösungen zu bieten, sowohl für unsere Kunden als auch für unsere Mitarbeitenden. Wir haben schon lange einen Haustarifvertrag mit zwei Gewerkschaften und einen Zukunftstarifvertrag. Wir haben dabei schon vor einigen Jahren ein Gesundheitsbudget von 300 Euro im Jahr vereinbart, mit dem Mitarbeitende etwas für ihre Gesundheit tun können, ebenfalls ohne Genehmigung. Über eine Plattform funktioniert das inzwischen sehr gut: Mitarbeiter können Leistungen selbst buchen oder Rechnungen einreichen. Sie können auch hier selbst entscheiden, ob sie ein Resilienz-Coaching oder einen Yogakurs machen, oder ob sie lieber ins Fitnessstudio gehen. Diese Idee haben wir für die persönliche Weiterbildung aufgenommen, denn wenn das so gut funktioniert, wollen wir das auch weiter vorantreiben. Beide Budgets funktionieren nach der gleichen Logik: Das eine zahlt ein auf die persönliche Balance und Resilienz und das andere zahlt ein auf die persönliche Laufbahnentwicklung und die Einsatzmöglichkeiten in der agilen Organisation.

Haufe Online Redaktion: Kam diese Initiative von den Tarifpartnern oder aus dem ING-Management?

Harrer: Wir haben das Weiterbildungsbudget tatsächlich gemeinsam verhandelt und entwickelt. Der Gedanke dazu entstand erstmals 2018 im Rahmen der Transformation der ersten Unternehmensbereiche. Ich habe den Gedanken dann erstmal mit unserem CEO besprochen, der die Idee unterstützte. 2019 war dann der richtige Moment gekommen, weil wir das Thema mit den Gewerkschaften in unserem Zukunftstarifvertrag verankern konnten. Im November 2019 wurde der Zukunftstarifvertrag dann neu aufgelegt und mit dem Tarifabschluss wurde das Gesundheitsbudget um das Weiterbildungsbudget ergänzt.  

Haufe Online Redaktion: Gab es vor der tariflichen Regelung keine vergleichbare Möglichkeit der Weiterbildung?

Harrer: Davor war das Thema von der Absprache mit dem Chef oder der Chefin abhängig. Wenn der Weiterbildungswunsch mit einem guten Argument verknüpft wird, werden natürlich die meisten Führungskräfte den Sinn sehen und zustimmen, gerade in einer agilen Organisation. Aber die tarifliche Lösung bringt natürlich Vorteile: Erstens wird Lernen viel niedrigschwelliger. Zweitens muss niemand mehr um Erlaubnis bitten oder die Meinung des Vorgesetzten antizipieren. Und drittens schafft dieser Standard mehr Fairness, weil der Stellenwert von Weiterbildung nicht mehr vom einzelnen Team abhängt, sondern für alle gleichermaßen möglich ist. Der Zugang zum Lernen muss so einfach sein, wie eine Whatsapp abzuschicken.


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Schlagworte zum Thema:  Weiterbildung, Personalentwicklung