Lernen neu denken

Lernen, das kennt jede und jeder von uns. Für die einen eher nervige Bürde, für die anderen Freude und Privileg. Und es hört nie auf. Organisationen fordern seit Langem von ihren Mitarbeitenden, dass sie sich über das ganze Berufsleben hinweg weiterbilden. Zugleich braucht es ein Neudenken, damit Lernen für alle zur wirksamen Ressource wird. 

Der Begriff "lebenslanges Lernen" geistert schon lange durch die Unternehmen – seit den 1970er Jahren auch stark in der Bildungspolitik. Warum reden jetzt wieder alle davon? Die einfache Antwort ist die Transformation. Es ist unverkennbar, dass sich das Arbeitsleben ständig und tiefgreifend verändert. Beschäftigte arbeiten hybrid und virtuell, von überall. New Work hält Einzug oder ist schon überdauernder Standard. Neue Technologien entstehen, Arbeitsplätze verschwinden, neue Anforderungen prasseln auf Beschäftigte ein. Alles wird schneller, digitaler, manches auch einfacher, weil ständiger Zugriff auf Informationen besteht. Was bedeutet das für Lernen und betriebliche Weiterbildung? Wird all das auch "neu"? 

Warum Lernen neu denken?

Lernen an sich ist nichts Neues. Nur der Blick auf Lernen ändert sich – im Zuge neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, technischer Möglichkeiten und wirtschaftlicher Anforderungen. "Es hat schon immer neues Lernen gegeben. Denn schon immer haben Megatrends das Lernen beeinflusst", bestätigt Thomas Jenewein, der als Business Development Manager bei SAP bereits eine Palette solcher Lerntrends verfolgt hat – vom Aufstieg des E-Learnings bis zum Learning Experience Design. Die Transformation, die derzeit auch die Lernlandschaft beeinflusst, hat viele Facetten. Sei es die Digitalisierung und veränderte Zusammenarbeit, steigende Produkt- oder Effizienzerwartungen oder die Transformation von Anforderungsprofilen und Arbeitsplätzen. "Wir werden ein neu gedachtes Lernen brauchen, um als Organisation zukunftsfähig zu bleiben. Lernen neu zu denken, ist für Einzelne und Unternehmen keine Alternative, sondern eine Notwendigkeit", so der Managing Director der Haufe Akademie, Christian Friedrich, der im Besonderen den Markt digitaler Lernlösungen beobachtet. 

Individualisierung und Formatmix helfen, die Motivation anzukurbeln und Reaktanz-Effekte zu verhindern. - Christian Friedrich, Managing Director der Haufe Akademie 

Wie wichtig es ist, in Lernen konzeptionell, finanziell und zukunftsorientiert langfristig zu investieren, hebt auch Katharina Krentz hervor. "Lernen ist nicht eine Ressource, sondern eher die Ressource für die Zukunft", meint sie. Krentz steht für die Lernmethode "Working Out Loud" und begleitet organisationale Transformationen als Gründerin und selbstständige Beraterin. "Wir leben als Nation von Ideen. Wir dürfen diese Ressource nicht ungenutzt lassen. Wir müssen in Weiterbildung investieren", meint auch der Neurowissenschaftler Henning Beck. Nicht zuletzt in seinen Büchern oder Vorträgen deckt er neue Trends der Lernforschung auf. Sein Plädoyer: Neues Lernen heißt Verstehen. 

Lernen und Arbeiten besser verbinden

"Das Neue am Lernen ist, dass es nicht um Auswendiglernen geht, sondern wie man das Wissen situativ anwendet", erklärt Beck weiter. Weg vom Ausspucken reiner Fakten, hin zur Durchdringung von Inhalten und Prozessen. Das bestätigt auch Franziska Schleuter, die beim IT-Unternehmen Maiborn Wolff den Learning Campus leitet. Dort stellt sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen die gesamte Lerninfrastruktur für die Organisation bereit. Lernen umzudenken, heißt, "Lernen und Arbeiten möglichst nah zueinander zu bringen. Es geht um sichtbares Arbeitsverhalten." Schleuters Ziel ist, dass Mitarbeitende wirksam lernen, das heißt individualisiert und kontextbezogen. 

Das Neue am Lernen ist, dass es nicht um Auswendiglernen geht, sondern wie man das Wissen situativ anwendet. - Henning Beck, Neurowissenschaftler

Gezieltes Re- und Upskilling ist die wichtigste Voraussetzung für Unternehmen, um in den kommenden Jahren erfolgreich zu sein. Dabei gewinnen Soft Skills, also Werte und Kompetenzen, immer mehr an Bedeutung. Wissen und Qualifikation sind dafür die notwendige Voraussetzung, aber nicht das Ziel. Dies erfordert neue Werte und Kompetenzen der Personalentwicklerinnen und -entwickler. Das bestätigt auch der promovierte Pädagoge Werner Sauter. "Im Corporate Learning müssen wir Mitarbeitende auf künftige Herausforderungen vorbereiten, die wir heute noch nicht kennen und die sie mit Tools bearbeiten werden, die noch gar nicht entwickelt sind." Sie müssen deshalb in der Lage sein, neue, unbekannte Herausforderungen selbstorganisiert und kreativ bewältigen zu können. Sie benötigen zukunftsorientierte Kompetenzen. Weil Werte unserem Handeln Antrieb und Orientierung geben, plädiert er für einen Paradigmenwechsel: "Wir müssen weg von fremdgesteuerten Lehrveranstaltungen, die auf Curricula basieren, hin zu selbstorganisierter Werte- oder Kompetenzentwicklung", erklärt er. 

Was das Lerndesign angeht, braucht es für Mathias Winde, dessen Blick im Besonderen auf Hochschulen gerichtet ist, eine "neue Verbindung von Inhalten und Lernformaten". Er leitet das Aktionsfeld Wissenschaft beim Stifterverband. Hinter der neuen Verbindung sieht er einen Formatmix von Präsenz-, online und hybridem Lernen, neue Lernarchitekturen und neue Inhalte. 

Formate und Lernformen fürs Corporate Learning

Nicht zuletzt durch den pandemiebedingten Digitalisierungsschub steht der Lernindustrie eine Bandbreite an Tools, Formaten und Konzepten zur Verfügung. Ob virtuell, hybrid oder in Präsenz, ob E-Learning, Learning-Management- oder Experi­ence-Systeme, Blended-Learning-Formate, das Metaverse  oder Chat-GPT– fast alles scheint möglich. Was davon ist relevant, um die genannten Bedingungen im Corporate Learning zu erfüllen und die Möglichkeiten effizient und vor allem effektiv zu verwenden?

Lernerzentrierung und Individualisierung

Die Antwort ist meist: Alles, je nach Kontext, Thema und Lernpräferenz und am besten als Microcontent oder in Form von "Learning Nuggets". Nicht das große Ganze wird auf einmal gelernt, sondern in verarbeitbaren Portionen. Die Stoßrichtung lautet: "Was wir brauchen, ist ein individualisiertes Bildungsangebot. Wer das nicht anbietet, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt", insistiert Henning Beck. Individualisiertes Lernen bedeutet, dass Lerninhalte und -formate auf die Lernenden und deren Bedarfe zugeschnitten sind. 

Im Prinzip ist agiles Lernen gleich Lernerzentrierung. Denn so wie Unternehmen agil arbeiten, um Kundenzentrierung zu erzeugen, soll auch agiles Lernen Lernende in den Mittelpunkt stellen. - Susanne Ambros, Head of Relations & Teamlead Quality Learning bei Quality Minds 

Darum geht es auch beim agilen Lernen. Lernbedarfe individuell ermitteln, klein geschnittene Lernziele definieren und passende Inhalte finden. "Im Prinzip ist agiles Lernen gleich Lernerzentrierung. Denn so wie Unternehmen agil arbeiten, um Kundenzentrierung zu erzeugen, soll auch agiles Lernen, Lernende in den Mittelpunkt stellen“, erklärt Susanne Ambros, Head of Relations & Teamlead Quality Learning bei Quality Minds.

Praxisorientierung und Workplace Learning

Ein weiterer Lerntrend hängt damit eng zusammen: "Learning on Demand" oder "Workplace Learning". Gelernt wird, wenn der Bedarf besteht, situativ und alltagsintegriert, aus der Praxis heraus und dann, wenn eine Frage am Arbeitsplatz aufkommt. So können die Lernenden ihr Wissen auch direkt umsetzen. "Nur so lässt sich wirksam lernen, wenn Beschäftigte ihre individuellen Schritte sichtbar im Arbeitsalltag gehen können", bestätigt Personalentwicklerin Franziska Schleuter. "Corporate Learning muss ein Spiegelbild der Arbeitswelt sein, wenn die Mitarbeitenden auf deren Anforderungen vorbereitet werden sollen", ergänzt Werner Sauter. "Deshalb ist es notwendig, digitale Lösungen im Arbeitsprozess in die Lernwelt zu integrieren. Lern-Bots, wie zum Beispiel Chat GPT, werden die Rolle eines persönlichen Coaches übernehmen, sind nicht mehr nur technischer Gehilfe, Gerät, Instrument, sondern Entwicklungspartner im eigentlichen Werte- und Kompetenzentwicklungsprozess."

Corporate Learning­ muss ein Spiegel­bild der Arbeitswelt sein, um auf deren Anforder­ungen vorzubereiten. - Werner Sauter, wissenschaftlicher Leiter der Valcom GmbH

Individuell und situativ an Bedarfen ausgerichtet lernen – letztlich geht es um die Befähigung, sich selbstgesteuert und selbstorganisiert weiterzubilden. Befähigung meint, dass Lernende auf dem Weg zur Selbstorganisation begleitet werden. Etwa beim agilen Lernen: Zu Beginn hilft ein Lerncoach, bis die Lernenden ihre Lernreise selbst steuern können. Auch Werner Sauter, für den eine Learning Experience Plattform den notwendigen "Ermöglichungsraum" für selbstorganisiertes Lernen bildet, plädiert für eine Übergangslösung. Er empfiehlt, auf "Social Blended Learning" zu setzen, eine Methode, bei der Praxisprojekte den "Roten Faden" der Lernprozesse bilden, die in einem Wechsel aus selbstorganisierten Lernphasen und Workshops gemeinsam mit Lernpartnerinnen und -partnern  sowie Lernbegleitenden bearbeitet werden.

Vernetzung und gemeinsames Lernen

Individuelles Lernen meint also nicht, dass die Lernperson einsam in der stillen Kammer sitzt. Individualisiertes Lernen bedeutet, dass Lernformate und -inhalte auf die einzelnen Lernenden zugeschnitten sind. Ganz im Gegenteil: "Es braucht beides: individuelles und gemeinsames Lernen. Es braucht Gesprächsräume, Vernetzung und eine Community. Wir müssen beginnen, Wissen zu teilen. Denn Menschen mit diversen Erfahrungen kommen zu besseren Lösungen", meint Katharina Krentz, die die Lernmethode "Working Out Loud" anbietet, die für vernetztes Arbeiten und Lernen in Gruppen steht. 

Es braucht beides: individuelles und gemeinsames Lernen. Es braucht Gesprächsräume, Vernetzung und eine Community. Wir müssen beginnen, Wissen zu teilen. - Katharina Krentz, Beraterin

Auf "Peer to Peer Learning" setzt auch das Konzept der Schule 42. Hier lernen alle Coding-Interessierten ohne Lehrkräfte, nur mit und durch andere. Mit ihnen müssen sie ein festgelegtes Programm absolvieren. Natürlich braucht es auch  Expertinnen und Experten von außen, die Impulse geben, aber der Fokus liegt auf dem gemeinsamen Lernen der Studierenden. "Das ‚Peer-to-Peer Learning‘ ist eine natürliche, niedrigschwellige Art zu lernen. Auch für Unternehmen birgt das viel Potenzial", erläutert Janett Kalina, Operations Lead bei 42 Wolfsburg. Was sich aber gezeigt habe: Beim "Peer-to-Peer Learning" spielt physische Präsenz keine unbedeutende Rolle. 

Das ‚Peer-to-Peer Learning‘ ist eine natürliche, niedrigschwellige Art zu lernen. Auch für Unternehmen birgt das viel Potenzial. - Janett Kalina, Operations Lead bei 42 Wolfsburg

Auch im Bereich Hochschule soll der Trend zu mehr Zusammenarbeit gehen, wie Mathias Winde erklärt. Es braucht neue Lernräume, mehr forschungsorientiertes Arbeiten und Projektlernen. Zudem fordert er mehr interdisziplinäre Lernformen und Kooperationen mit außerhochschulischen Lernpartnern. 

Future Skills sind die wichtigsten Lerninhalte

Die Inhalte, die schon immer wichtig waren, sind ebenso heterogen wie die Formate und Methoden. Klar ist: Es wird weiter fachliche Pflichtthemen geben, trotz aller Individualisierung und Kontextsensibilität. Überhaupt beobachtet der SAP-Mann Jenewein, wie hoch die Dynamik bei rein fachlichen und technischen Themen ist. Dies bedingt unter anderem, dass es Updateschulungen in engen Zyklen braucht. Technisches Know-how als Hard Skill ist das eine. Dazu kommen einige Soft Skills, die in der Zukunft immer wichtiger werden. Sei es Teamfähigkeit in der virtuellen Welt – auch und gerade in der Entwicklerbranche, so Janett Kalina – oder Urteilsfähigkeit, um im Informationsdschungel Überblick zu behalten. "Wir müssen Beschäftigte mit zukunftsgerichteten Kompetenzen ausstatten, die nicht über klassische Lernformate zu vermitteln sind", appelliert auch Mathias Winde. Mit anderen Worten: Die wichtigsten Inhalte entsprechen den Future Skills. Hierzu führte der Stifterverband in einem Projekt gemeinsam mit McKinsey bereits 2018 eine Studie durch. In der aktualisierten Fassung von 2021 unterscheiden sie vier Kompetenzbereiche, die Hard und Soft Skills beinhalten: technologische, digitale, klassische (etwa Teamfähigkeit) und transformative Kompetenzen (wie Urteilsfähigkeit). 

Motivation für und Ertrag von Lernen

"Wenn ich etwas lernen will, kann ich etwas Neues lernen", so Katharina Krentz. Das ist aber kein Selbstläufer. Was es braucht, um das Wollen zu befördern: Mitarbeitende in Selbstverantwortung zu verbringen, Räume und Zeit zum Lernen eröffnen, erklärt Krentz weiter. Hier zeigt sich auch, wie viel besonders im Bereich der "Deskless Workforce" zu tun ist, also bei den Mitarbeitenden, die nicht mit Büroarbeit zu den Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeitern zählen. Mitarbeitende lernen motivierter und erfolgreicher, wenn Lernen Relevanz für ihr Leben hat – und das passiert, wenn Lernen auf individuelle Bedarfe einzahlt, betont die agile Lerncoachin Susanne Ambros. Ob das nicht ein organisatorischer und finanzieller Mehraufwand sei, alle Beschäftigten ein individuelles Lernerlebnis zu schaffen? "Ich stelle fest, dass sich langfristig die Kosten reduzieren. Content ist überall verfügbar, die Lernziele sehr kleinschrittig. Vor allem aber werden Mitarbeitende geschult, immer selbstverantwortlicher und ohne Coach zu lernen." Das bestätigt auch Christian Friedrich von der Haufe Akademie. "Individualisierung und Formatmix werden Lernenden helfen, die Motivation anzukurbeln und Reaktanz-Effekte zu verhindern."

Am Ende lässt sich Neues Lernen gut in einer neurologische Analogie zusammenfassen: "Gutes Corporate Learning muss sein wie ein tolles Weihnachtsgeschenk. Wir müssen es einpacken, geheimnisvoll machen", sagt Henning Beck. Denn: Es geht schlicht darum, Neugier zu wecken. 

Dieser Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 2/2023, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App personalmagazin - neues lernen.


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