Humanocracy – was ist das eigentlich?
Das organische Wachstum ist in den meisten Unternehmen der westlichen Welt überschaubar und bleibt hinter den Erwartungen des Managements zurück. Die Innovationsleistung, die Treiber für Wachstum ist, erreicht nicht annähernd die gewünschte Qualität. Das einzige was in den Unternehmen der westlichen Welt zu wachsen scheint, ist die Bürokratie.
Bürokratie und ihre (negativen) Folgen
Kaum ein Beschäftigungsbereich ist in den letzten Jahrzehnten, trotz aller gegenteiligen Voraussagen, so stark gewachsen wie die Administration. Mit gravierenden Folgen:
- Bürokratie sorgt für starre Hierarchien, lange Entscheidungswege, Zentralisierung von Macht und Entscheidungsgewalt bei wenigen und im Ergebnis für geringe Agilität und Dynamik im Unternehmen.
- In bürokratischen Strukturen sind die Aufgaben der Mitarbeiter kleinteilig, sie benötigen keine Originalität und Kreativität. Im Ergebnis fühlen sich viele Mitarbeiter intellektuell unterfordert und reagieren mit Demotivation.
- Bürokratie lässt wenig Spielraum für die Kreativität und Eigeninitiative der Mitarbeiter. In der Folge sind Mitarbeiter demotiviert und leisten in der Mehrzahl maximal "Dienst nach Vorschrift".
- Ausufernde Regeln und Regularien sorgen dafür, dass Mitarbeiter sich wie kleine Kinder behandelt fühlen, sich dummer Konformität unterordnen und ängstlich nach allen Seiten absichern. Im Ergebnis wird in bürokratischen Organisationen die Vorschrift über den Menschen gestellt.
- In bürokratischen Strukturen verbringen nicht wenige Führungskräfte 30 bis 50 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Reporting, dem Führen von institutionalisierten Mitarbeitergesprächen, der Überprüfung von Budgets oder der Kontrolle von Arbeitsergebnissen. Zeit, die für wichtige Initiativen für Innovation, Wachstum und Zukunftsgestaltung fehlt.
Vorteile von bürokratischen Strukturen
Natürlich haben bürokratische Strukturen auch ihr Gutes. Sie sorgen für verlässliche, repetierfähige Qualität durch standardisierte Prozesse. Die Optimierung der bürokratischen Unternehmensstrukturen hat in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich zum gewachsenen Wohlstand beigetragen. Diese Entwicklung kommt jedoch zunehmend an ein Ende. Effizienzgewinne sind nicht mehr zu heben, Bürokratie sichert, wenn überhaupt, den Status Quo. Kleinteiligen Arbeitsinhalten mit wiederkehrenden und eintönigen Arbeitsschritten droht zudem die Automatisierungsgefahr, da viele Stellen keinerlei Originalität benötigen.
Innovation und Wachstum erfordern eine Abkehr von Kontrolle
Die Welt ändert sich rasend schnell, es ist notwendig, dass sich die Organisation in Unternehmen ebenso ändert, um Schritt zu halten. Um in der neuen Welt zu reüssieren, dürfen Unternehmen nicht nur Fleiß, Expertise und Gehorsam honorieren. Diese Fähigkeiten sind in bürokratischen Strukturen essenziell, sie stehen jedoch nicht für Agilität, Innovation und Wachstum. Hierfür und für den Umgang mit tiefgreifenden Veränderungen ist Risikobereitschaft, Mut, Initiative und Proaktivität von jedem einzelnen Mitarbeiter gefragt. Dies erfordert Passion und Leidenschaft. Das geht nicht in Bürokratien. Es erfordert einen neuen Typ der Organisation. Eine Organisation, die sich vom Modell des Kontrollierens und der maximalen Organisationseffizienz löst. Hin zu einer Organisation, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, die die Beteiligung und die Einwirkung des Einzelnen sicherstellt und in den Vordergrund hebt.
Definition: Humanocracy – was bedeutet das?
Gary Hamel und Michele Zanini bezeichnen diese Form der Organisation als "Humanocracy" - eine Organisation, die das Beste hervorbringt, das Menschen geben können ( mehr hierzu erfahren Sie auf der Website humanocracy.com).
Zwei Dinge sind zur Erlangung der neuen, zukunftsfähigen Organisationsform von zentraler Bedeutung: Jeder Mitarbeiter beteiligt sich an der Lösung von Problemen und jeder Mitarbeiter wird höchstmöglich empowert.
Prinzipien der Humanocracy
Jeder Mitarbeiter muss die Möglichkeit haben, sich an der Lösung von Problemen, insbesondere von Kundenproblemen, zu beteiligen. Probleme zu lösen erfordert Kreativität, Leidenschaft und Mut. Im Ergebnis liefert das Lösen von Problemen Innovationen und Wettbewerbsvorteile. In humanokratischen Organisationen sollte es daher keinen Mitarbeiter und kein Team ohne direkten Draht zum Kunden geben. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt ist, dass Stellen, die Kreativität erfordern, nur bedingt von der Automatisierung bedroht sind.
Das Empowerment der Mitarbeiter beinhaltet insbesondere das Abgeben von Macht seitens des Managements. Die humanokratische Organisation ist eher durch kleine, schlagkräftige, sich selbst steuernde und sich selbst organisierende Einheiten geprägt, als durch zentralistische Führung und Entscheidungsfindung in tiefen Hierarchiestrukturen. Jeder Mitarbeiter wird in humanokratischen Organisationen zum (Mit-)Gestalter.
Humanocracy: Ein Beispiel
Das Unternehmen Haier ist ein adäquates Rollenmodell. Haier stellt mit mehr als 70.000 Mitarbeitern "weiße Ware" - vom Kühlschrank bis zur Mikrowelle - her. Das ganze Unternehmen ist in hunderte kleine und eigenständige Mikrounternehmen unterteilt. Jedes Mikrounternehmen wird im Stil eines Profit-Centers geführt, mit eigener Gewinn- und Verlustverantwortung. Hierarchiestrukturen fallen weg, Entscheidungen werden dort getroffen, wo sie getroffen werden müssen. Das Unternehmen erlangt dadurch eine unglaubliche Beweglichkeit und Geschwindigkeit, etwa bei der Entwicklung von Innovationen oder beim Reagieren auf verändertes Kundenverhalten. Das Empowerment der Mitarbeiter ist sicherlich der zentrale Grund für Haiers enorme Innovationsleistung und nachhaltiges Wachstum.
Empowerment heißt auch, dass Mitarbeiter wie Erwachsene behandelt werden. Welches Hotel und welches Verkehrsmittel bei welcher Dienstreise das Adäquate ist, sollte in der Verantwortung des Mitarbeiters oder seines Teams liegen. Gleiches gilt beispielhaft für die Auswahl von Fachliteratur oder den Besuch von Seminaren. Es kann doch nicht sein, dass man einem Verkaufsleiter zugesteht, unternehmenswichtige Verträge zu verhandeln, ihm aber nicht zutraut, zu entscheiden, welches Hotel für ihn am Abend das richtige ist.
Der Weg zur humanokratischen Organisation
Der Weg zur humanokratischen Organisation ist nicht leicht. Bürokratie ist gelernt, sie einfach abzuschaffen führt zu Unsicherheit und im schlimmsten Fall zu Chaos. Der Weg zur humanokratischen Organisation muss ein Zusammenspiel aus organisatorischer Neustrukturierung und kulturellem Change sein.
Erste Schritte können profan wirken, aber bereits Wirkung zeigen. So hat das Unternehmen Sipgate auf dem Weg der Veränderung Mitarbeitern als einen ersten Schritt zur Veränderung das eigenständige Bestellen von Fachliteratur erlaubt, ohne vorher jemanden um Erlaubnis zu bitten. Andere Unternehmen schaffen gleich ganze Reisekostenrichtlinien ab und ersetzen sie durch eine einzige Regelung für jeden mit einer Kreditkarte ausgestatteten Mitarbeiter: "Handel im Sinn des Unternehmens!" Mit der Folge, dass Reisekosten sinken, sich administrative Prozesse in Luft auflösen und sich Mitarbeiter wertgeschätzt fühlen. Vorgesetzte können Mitarbeiter einladen, ihre idealen Stellenbeschreibungen selbst zu verfassen und Teams kann es eingeräumt werden, ihre Ziele eigenständig zu definieren.
Humanocracy: Das mitarbeiterorientierte Unternehmen
Das mitarbeiterorientierte Unternehmen, in dem jeder sein Bestes gibt, in dem Kreativität stimuliert und zugelassen wird, in dem Mitarbeiter wie Erwachsene behandelt werden und Spielräume besitzen, in dem es keine dummen, selbstverwaltenden Tätigkeiten und Regeln gibt, in dem Motivation, Mut und Leidenschaft anzutreffen sind: Das ist Humanocracy, das humanokratische Unternehmen.
Zum Autor: Dr. Jens Knese ist Unternehmensberater, Speaker und Publizist. Er ist Gründer von Knese-Consulting. Seit vielen Jahren berät er Organisationen, Manager und Führungskräfte, vom Mittelstand bis zum Dax-Konzern in den Themen "Strategie", "Innovation" und "Agilität". Sein neuestes Buch mit dem Titel "Learning from the Best – Managementwissen kompakt für Strategie, Agilität und Innovation" ist bei Haufe erschienen.
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