Ergonomie im Homeoffice: "Dann tanzt die Wirbelsäule Salsa"

Viele Beschäftigte arbeiten derzeit im Homeoffice unter schlechten ergonomischen Bedingungen. Für Unternehmen könnten daraus Krankschreibungen, Personalausfall und erhöhte Kosten resultieren. Im Interview erläutert Büroplaner Stefan Kleinhenz, was sich kurzfristig verbessern lässt.

Haufe Online Redaktion: Herr Kleinhenz, inwiefern unterscheiden sich ihr Homeoffice- und ihr Büroarbeitsplatz bezüglich der ergonomischen Ausstattung?

Stefan Kleinhenz: Im Grunde ist mein Homeoffice-Arbeitsplatz ein nahezu vollwertiger Büroarbeitsplatz, mit einem großen Tisch, einem Drehstuhl sowie einer Tischleuchte. Im Gegensatz zum Büro habe ich daheim aber keinen externen Monitor, ich arbeite nur mit dem Laptop. Außerdem ist der Schreibtisch kein Steh-Sitz-Arbeitsplatz.

Bessere Ergonomie im Homeoffice gegen die körperliche Unterforderung

Haufe Online Redaktion: Welche Gefahren entstehen, wenn Mitarbeiter und Unternehmen die Ergonomie nicht beachten?

Kleinhenz: Der Mensch ist bei der Büroarbeit körperlich unterfordert. Unser "Jäger und Sammler"-Körper ist auf den ständigen Wechsel zwischen Tätigkeiten wie Laufen, Springen, Kriechen und Klettern ausgerichtet. Bei der Büroarbeit verbringen wir jedoch lange Zeiträume am Stück mit ein und derselben Haltung. Die Folgen sind erst einmal nervige "Allerweltsleiden" wie Verspannungen und Kopfschmerzen. Langfristig kann es dann aber zu Haltungsfehlern, Vorschädigungen der Bandscheiben, Herz-Kreislauf-Problemen, Verdauungsstörungen und Durchblutungsstörungen in den Beinen kommen.

Wer sich gruseln möchte, kann sich auf Youtube einmal "Emma Office Worker" anschauen. An einer Puppe wird dort modellhaft aufgezeigt, wie sich der menschliche Körper durch die Arbeit im Büro langfristig verändert. Das ist sicherlich überspitzt, allerdings habe ich schon einige "Emmas", weibliche wie männliche, im echten Leben getroffen.

"Im Homeoffice haben wir dieselben Gefahren für den menschlichen Körper, die sich aber gleichzeitig nochmals deutlich verstärken." – Ergonomieinstructor Stefan Kleinhenz


Haufe Online Redaktion: Wieso ist die Ergonomie gerade im Homeoffice wichtig?

Kleinhenz: Bereits im "normalen" Büro werden die Gefahren für den menschlichen Körper oft unterschätzt. Im Homeoffice haben wir dieselben Gefahren, die sich aber gleichzeitig nochmals deutlich verstärken, dadurch dass wir in der Regel wesentlich schlechtere Arbeitsbedingungen vorfinden.

Fehlende Ergonomie im Homeoffice kostet Performance

Haufe Online Redaktion: Wovon hängt es ab, ob gesundheitliche Probleme auftreten?

Kleinhenz: Entscheidend ist die Einwirkdauer: Wenn ich für zwei Wochen unter schlechten Bedingungen arbeite, werde ich deshalb nicht rückwärts vom Stuhl fallen. Wenn das aber über einen längeren Zeitraum geschieht, kann das zu den eben genannten gesundheitlichen Problemen führen.

Haufe Online Redaktion: Wie wirkt sich das auf die Leistung von Mitarbeitern aus?

Kleinhenz: Jegliche Art von Beanspruchung kostet Performance. Ich stelle mir das immer wie ein Balkendiagramm vor, bei dem der Mitarbeiter insgesamt hundert Prozent Leistungsfähigkeit zur Verfügung hat. Alles, mit was sich der Mitarbeiter sonst beschäftigt, wenn ihm zum Beispiel der Rücken zwickt oder die Augen brennen, kappt von diesen hundert Prozent im Diagramm Scheibchen weg. Die Arbeitgeber sollten deshalb für die passenden Arbeitsbedingungen Sorge tragen.

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Haufe Online Redaktion: Wurde die Ergonomie im Homeoffice bisher zu sehr vernachlässigt?

Kleinhenz: Das Thema ist in den meisten Unternehmen nicht relevant. Vielerorts begreift man Homeoffice an sich als ein zusätzliches, für den Arbeitnehmer interessantes Angebot. Grob geschätzt machen sich jedoch 90 Prozent der Unternehmen, die Homeoffice ermöglichen, über die Arbeitsbedingungen bei den Mitarbeitern zuhause keine Gedanken. Es gibt aber auch einige Ausnahmen von Unternehmen, die in der Vergangenheit professionell mit der Ergonomie im Homeoffice umgegangen sind, die Mitarbeiter aktiv beraten und teilweise sogar vor Ort Begehungen durchgeführt haben.

Andere Themen haben in der Corona-Krise Priorität

Haufe Online Redaktion: Glauben Sie, dass sich diese Einstellung durch Corona verändert?

Kleinhenz: Ist das Thema in drei oder vier Wochen gegessen und alle kehren zurück an ihren festen Büroarbeitsplatz, wird es keinen großen Effekt haben. Wenn es aber länger dauert oder solche Krisen in Zukunft häufiger auftreten, werden sich Unternehmen über die Ergonomie der Homeoffice-Arbeitsplätze mehr Gedanken machen müssen. Momentan stehen jedoch verständlicherweise erst einmal andere Themen im Vordergrund, vor allem die Veränderung der Organisationsstruktur, damit der Betrieb von zu Hause aus weiterlaufen kann.

Haufe Online Redaktion: Welche gesetzlichen Vorgaben gibt es?

Kleinhenz: Prinzipiell gilt das Homeoffice als Arbeitsstätte, das heißt es gelten die gleichen Vorschriften wie im Headquarter. Also zum Beispiel bezüglich der Tischhöhe, Beleuchtung und Art der Möblierung. Nach der neuen Arbeitsstättenverordnung von 2016 müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein, damit ein Arbeitsplatz als Homeoffice-Arbeitsplatz gilt. Beispielsweise sollten Mitarbeiter zuhause einen fest eingerichteten Arbeitsplatz haben und Heimarbeit im Arbeitsvertrag festgeschrieben sein. In der aktuellen Krisensituation verordnen viele Unternehmen ihren Arbeitnehmern jedoch Homeoffice, ohne den Großteil der vorgeschriebenen Voraussetzungen zu schaffen.

"Von den Unternehmen jetzt eine ergonomische Runderneuerung aller Homeoffice-Arbeitsplätze einzufordern, wäre fatal." – Ergonomieinstructor Stefan Kleinhenz


Haufe Online Redaktion:  Also handeln Unternehmen gesetzeswidrig?

Kleinhenz: Momentan geht es darum, mit Augenmaß zu agieren. Viele Unternehmen kämpfen ums Überleben. Von ihnen jetzt eine ergonomische Runderneuerung aller Homeoffice-Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter einzufordern, wäre fatal. Der finanzielle und zeitliche Aufwand würde die Situation der Unternehmen weiter verschlechtern. Die ergonomische Situation im Homeoffice kann aber so verbessert werden, dass sie für die Mitarbeiter zuträglich und für die Unternehmen leistbar ist.

Kleine Hilfsmittel können die Situation verbessern

Haufe Online Redaktion: Was heißt das konkret?

Kleinhenz: Kleine Maßnahmen können sofort umgesetzt werden, stiften einen enormen Nutzen und bringen die Unternehmen nicht in Existenznot. Arbeitgeber können über ein Tutorial den Mitarbeitern Hilfestellungen geben, wie sie sich richtig verhalten und damit das Beste aus der bestehenden Situation machen können: Wie richten sie den Laptop richtig zum Licht aus, wie oft sollten sie Pausen einlegen und ihre Körperhaltung ändern. Zudem können bereits kleine Hilfsmittel einen großen Effekt haben. Beispielsweise die Bereitstellung eines externen Bildschirms oder zumindest einer Tastatur und Maus, damit der Laptop weiter von den Augen entfernt und höher platziert werden kann. Drei bis vier sinnvolle Hilfsmittel und ein Tutorial als Anleitung würden schon viel bewegen.

"Man kann sich den Kopf wie einen Ball vorstellen, den man auf den Hals einer Wasserflasche legt." – ein Tipp von Ergonomieinstructor Stefan Kleinhenz


Haufe Online Redaktion: Wieso ist es von Bedeutung, wo der Bildschirm steht?

Kleinhenz: Man kann sich den Kopf wie einen Ball vorstellen, den man auf den Hals einer Wasserflasche legt. Es handelt sich um ein instabiles Gebilde, bei dem der Kopf im übertragenen Sinne auf der Flasche liegen bleiben sollte. Beugt man den Kopf zu sehr nach oben oder unten, würde der Ball herunterfallen. Steht der Laptop in der richtigen Position, bleibt der Kopf in dieser instabilen Mittelage. Diese entspanntere Haltung beugt den viel gehassten Verspannungen vor.

Haufe Online Redaktion: Welche weiteren Hilfsmittel gibt es?

Kleinhenz: Wenn ein Mitarbeiter keinen Büro-, sondern nur einen Küchenstuhl zur Verfügung hat, kann ein Ballkissen helfen. Dieses legt man vier oder fünf Mal am Tag für 15 Minuten auf den Stuhl. Das sorgt für Bewegung im Becken und die ganze Wirbelsäule tanzt Salsa!


Zur Person: Stefan Kleinhenz ist Geschäftsführer von Office Space Consulting in Bamberg und berät als selbstständiger Büroplaner Unternehmen. Daneben ist Kleinhenz als Ausbilder und Trainer tätig, unter anderem als Geschäftsführer von Campus 4, einer Plattform, die Seminare und Weiterbildungen anbietet. 2014 erschien die zweite Auflage seines Buch "Der Büroarbeitsplatz: Handbuch für die Gestaltung von Arbeitsplätzen im Büro".


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