Disruption und disruptiver Wandel

Im Zusammenhang mit der Digitalisierung ist auch immer wieder von "Disruption" die Rede. In diesem Kapitel erläutert Marcus Sassenrath, was Disruption eigentlich bedeutet und wie sich disruptiver Wandel von kontinuierlichem Wandel unterscheidet.

Aus Sicht eines Unternehmens unterscheiden sich die drei primären Spielfelder der Digitalisierung, die in Kapitel 1 vorgestellt wurden, darin, wie stark sie das Unternehmen verändern.

Zwischen kontinuierlicher und disruptiver Veränderung

Das Automatisieren von Geschäftsprozessen ist eine eingeübte Praxis. Auch wenn es mit der Digitalisierung noch deutlich zunehmen wird, handelt es sich doch um eine kontinuierliche Veränderung. Dafür verfügen Unternehmen über erprobte Change-Instrumente, die es ihnen ermöglichen, notwendige Veränderungen umzusetzen, ohne das ganze Unternehmen neu aufstellen zu müssen.

Die Digitalisierung der Produkte stellt Unternehmen schon vor größere Herausforderungen. Hier ändern sich nicht nur Prozesse, sondern auch Methoden. Software wird auf eine andere Weise entwickelt als ein Getriebe oder ein Kühlschrank. Wenn immer mehr Wert des Produktes durch Software geschöpft wird, braucht man also andere Methoden und natürlich auch anderes fachliches Know-how. Doch die Veränderung geht noch weiter: Mit Software im Produkt ergibt sich z. B. auch die Möglichkeit – und Herausforderung –, in wesentlich kürzeren Zyklen Produktinnovationen zu liefern. Eine Digitalkamera, die als Hardware bisher vielleicht nur alle drei Jahre durch ein neues Modell abgelöst wurde, lässt sich nun durch ein Firmware-Update alle paar Monate funktional erweitern. Das Gleiche gilt für die intelligente Waschmaschine, ein Fahrzeug oder eine Produktionsanlage. Produktinnovationszyklen werden kürzer. Und das hat vielerlei Auswirkung: Entwicklung, Produktion, Beschaffung, Logistik, Qualität, Personal – fast alle Bereich sind mehr oder weniger stark betroffen, wenn sich die Produkte verändern.

Und wenn sich vieles verändert, vor allem beschleunigt, dann stößt die herkömmliche Verfassung eines Unternehmens bald an ihre Grenzen. Ihre Organisation, ihre Regeln und all ihre Prinzipien, kurz: die „Persönlichkeit” des Unternehmens muss sich weiterentwickeln, um die Veränderungen bewältigen zu können. Es wird ein Change of Mind, eine Weiterentwicklung des Denkens und der Kultur, erforderlich.

Am deutlichsten wird das, wenn nicht nur Prozesse und Produkte sich ändern, sondern digitale Geschäftsmodelle an Bedeutung gewinnen. Wenn Menschen Fotos nicht mehr in erster Linie machen, um damit ihre häuslichen Wände zu schmücken oder sie in Alben zu kleben, sondern um sie anderen auch über räumliche Grenzen hinweg zu zeigen, dann spricht viel dafür, das Geschäftsmodell „Verkauf von Fotoabzügen” zu überdenken und ein digitales Geschäftsmodell zu entwickeln, das es den Kunden ermöglicht, ihre Fotos online zu teilen.

Disruptiv – was ist das eigentlich?  

Damit wären wir beim nächsten Digitalisierungs-Buzzword: Disruption. Denn neue, digitale oder zumindest digital ermöglichte Geschäftsmodelle unterbrechen tatsächlich häufig das alte Geschäftsmodell. Deutlich wird das beim Beispiel Fotografie, wo gleich zwei Disruptionen alles auf den Kopf gestellt haben: die Digitalisierung der Fotos mit der Entwicklung von Digitalkameras und anschließend ein durch das Internet ermöglichtes Konsumentenverhalten, das Fotos nicht mehr so sehr in Alben aufbewahren möchte, sondern vor allem anderen, nicht Anwesenden zeigen will. Die erste Disruption hat manchen etablierten Kamerahersteller überrollt und vom Markt verschwinden lassen oder zum Übernahmekandidaten für die Player gemacht, die nicht in der Feinmechanik, sondern in der Elektronik zu Hause waren. Das Gleiche galt für die Hersteller von Filmen: In wenigen Jahren war deren Kernkompetenz in der Herstellung lichtempfindlicher Beschichtungen für Folien praktisch wertlos geworden.

Hier erläutert der "Erfinder" des Begriffs der disruptiven Innovation, Clayton Christensen, im Interview mit der Haufe Online-Redaktion, was Disruption bedeutet.

Disruptiver Wandel in der Fahrzeugbranche

Die wichtigste deutsche Industrie, die Fahrzeugbranche, steht vor einem disruptiven Wandel, der sich zwar nicht so schnell vollziehen wird wie in der Fotobranche, aber vergleichbare Disruptionen auslösen könnte: Wenn vollautonome Fahrzeug als Taxis weniger kosten als das eigene Auto, dann bricht der Pkw-Markt dramatisch ein. Wenn elektrisch angetriebene, vollautonome Container Transportaufträge erfüllen, dann braucht es den Truck als Zugmaschine nicht mehr.

Disruptive Innovationen - eine Gefahr für etablierte Unternehmen?

Natürlich müssen nicht alle neuen Geschäftsmodelle gleich eine existenzielle Gefahr für etablierte Unternehmen darstellen. Doch neue Geschäftsmodelle haben immer gemein, dass sie die Erfolgsfaktoren verändern, also die Voraussetzung, unter denen ich als Unternehmer erfolgreich bin. Wenn ich als Anlagenbauer nicht mehr für gelieferte Produktionsmaschinen bezahlt werde, sondern für Betriebsstunden oder sogar für gefertigte fehlerfreie Teile, dann ändert sich meine Wertschöpfungskette. Auf einmal muss ich mit einem Partner zusammenarbeiten, der europaweit Vor-Ort-Service erbringt, oder ich muss Mitarbeiter der Instandhaltung übernehmen, die bisher beim Kunden nach meinen Anlagen geschaut haben. Auf einmal muss ich mich um die Qualität der Zulieferprodukte kümmern, mit denen meine Anlage bei meinem Kunden seine Produkte erzeugt. Auf einmal lohnt es sich, mit dem jahrzehntelang bekämpften Wettbewerber zusammenzuarbeiten und dessen Kernkompetenz bei der Anlagenbestückung in die eigene Maschine zu integrieren, um dann in Summe einen höheren Kundenwert zu niedrigeren Kosten zu liefern.

Disruption muss sich auch im Kopf vollziehen

Es ist offensichtlich: Die größten Veränderungen muss ein Unternehmen bewältigen, wenn sich nicht nur das Produkt, sondern auch die Geschäftsmodelle grundlegend ändern. Spätestens dann ist Disruption auch im Kopf angesagt und Kultur und Mindset müssen sich grundlegend ändern. Das ist auch der Punkt, an dem schon in der Vergangenheit viele Unternehmen gescheitert sind, deren Geschäftsmodelle veraltet waren oder die nicht in der Lage waren, ihre Geschäftsmodelle an neue Technologien, Märkte oder Kundenpräferenzen anzupassen.

Über den Autor:

Marcus Sassenrath verantwortet die Digitalstrategie der BPW Bergische Achsen KG. 2013 wurde er von der Computerwoche unter die besten CIOs im Mittelstand gewält.

 

Buchtipp:

Der obige Text ist ein Auszug aus dem Buch "New Management. Erfolgsfaktoren für die digitale Transformation" von Marcus Sassenrath, das bei Haufe erschienen ist. Sie können das Buch im Haufe-Shop bestellen.