Rz. 163

Im Beschluss vom 1.2.2024 schloss sich der 2. Senat des BAG der Auffassung des 6. Senats, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit der erforderlichen Massenentlassungsanzeige keinerlei rechtlichen Einfluss auf die Beendigung des gekündigten Arbeitsverhältnisses hat, nicht an, sondern vertrat ein anderes Rechtsfolgenverständnis und legte zur Absicherung seiner Auffassung die Sache dem EuGH nach Art. 267 AEUV vor.[1]

 

Rz. 164

In Übereinstimmung mit dem 6. Senat ging der 2. Senat davon aus, dass es zur Nichtigkeit der – im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung ausgesprochenen – Kündigung nach § 134 BGB führt, wenn das Konsultationsverfahren (Art. 17 Abs. 2 KSchG, Art. 3 MERL) vor Ausspruch der Kündigung gänzlich unterblieben oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Denn das Konsultationsverfahren diene – anders als das Anzeigeverfahren – vorrangig der Vermeidung von Kündigungen.[2]

 

Rz. 165

In Bezug auf Fehler im Anzeigeverfahren nahm der 2. Senat hingegen eine differenzierte Auffassung ein.[3] Fehle eine erforderliche Anzeige vollständig, führe dies zu einer dauerhaften Entlassungssperre, was der Nichtigkeit bzw. Unwirksamkeit der Kündigung gleichkomme. Sei die Anzeige hingegen erstattet worden, jedoch fehlerhaft, führe dies nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, sondern eine ordnungsgemäße Anzeige könne nachgeholt werden. Die Entlassungssperre laufe dann ab Nachholung der ordnungsgemäßen Anzeige. Die bereits ausgesprochene Kündigung entfalte mit Ablauf der Sperrfrist des § 18 Abs. 1 bzw. 2 KSchG seine Beendigungswirkung (vorbehaltlich der übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen).

 

Rz. 166

Für den Fall der gänzlich unterbliebenen Massenentlassungsanzeige treten die Rechtswirkungen der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung nach Auffassung des 2. Senats erst dann ein, wenn die Massenentlassungsanzeige nachträglich erstattet, d. h. nachgeholt worden ist und der Agentur für Arbeit die aus ihrer Sicht notwendige Vorbereitungszeit für die Vermittlung zur Verfügung steht. Dieser Zeitraum bestimme sich im nationalen Recht nach § 18 Abs. 1 und 2 KSchG (sog. Entlassungssperre). Das gekündigte Arbeitsverhältnis bestehe bis zum Ablauf der Entlassungssperre mit seinen bisherigen Rechten und Pflichten fort. Die Rechtswirkungen der Kündigung träten bis zum Ablauf des Monatszeitraums des § 18 Abs. 1 KSchG oder des von der Agentur für Arbeit nach § 18 Abs. 2 KSchG festgesetzten Zeitpunkts nicht ein. Der Arbeitgeber müsse dem Arbeitnehmer jedenfalls bis zum Ablauf der Entlassungssperre nach § 615 BGB die vereinbarte Vergütung fortzahlen, auch wenn er ihn nicht beschäftige.[4] Der 2. Senat versteht Art. 4 Abs. 1 MERL – anders als der 6. Senat – folglich so, dass das im Zuge einer nach Unionsrecht anzeigepflichtigen Massenentlassung gekündigte Arbeitsverhältnis vor Ablauf der Entlassungssperre des § 18 Abs. 1 und 2 KSchG nicht beendet sein könne. Bis zu deren Ablauf seien die Wirkungen der Kündigung "ausgesetzt". Die Entlassungssperre wirke insofern als "Mindestkündigungsfrist". Das verdeutliche Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 Hs. 2 MERL, wonach die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen unberührt blieben.[5]

 

Rz. 167

Nach Auffassung des 2. Senats ist eine ohne gebotene (ordnungsgemäße) Massenentlassungs­anzeige ausgesprochene Kündigung nicht "unrettbar" nichtig bzw. unwirksam. Der Zweck des Anzeigeverfahrens werde vielmehr auch dann vollständig erreicht, wenn der Arbeitgeber eine – den Vorgaben in Art. 3 Abs. 1 UAbs. 4 MERL entsprechende – Massenentlassungsanzeige nachholen und so die Entlassungssperre (nachträglich) beseitigen könne. Hierzu bedürfe es keiner neuen Kündigung. Durch das Anlaufen der Entlassungssperre erst mit der nachgeholten Anzeige sei sichergestellt, dass der zuständigen Behörde vor der Auflösung der betreffenden Arbeitsverhältnisse in jedem Fall der durch die Entlassungssperre verkörperte Mindestzeitraum zur Verfügung stehe, um auf der Grundlage der erforderlichen Angaben nach Lösungen für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (vgl. Art. 4 Abs. 2 und 3 MERL).[6]

 

Rz. 168

Im Vorlagebeschluss vom 1.2.2024 vertrat der 2. Senat ferner die Auffassung, dass allein die Agentur für Arbeit die Ordnungsgemäßheit einer vom Arbeitgeber erstatteten Massenentlassungsanzeige überprüfe und das Ende der im konkreten Fall eingreifenden Entlassungssperre feststelle, was vom Arbeitnehmer nicht mit Erfolg angefochten werden könne und von den Gerichten für Arbeitssachen als insoweit bindend zugrunde zu legen sei.[7] Neben den übrigen Vorlagefragen fragte der 2. Senat den EuGH, ob dieses Verständnis mit Art. 6 MERL im Einklang steht.

[1] BAG, Vorlagebeschluss v. 1.2.2024, 2 AS 22/23 (A), NZA 2024, 257.
[3] BAG, Vorlagebeschluss v. 1.2.2024, 2 AS 22/23 (A), NZA 2024, 257, 10 ff.
[5] BAG, Vorlagebeschluss v. 1.2.2...

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