Rz. 22

Das BVerfG hatte gestützt auf § 2 Abs. GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip in den Beschlüssen v. 6.12.2005 (1 BvR 347/98) und 29.11.2007 (1 BvR 2496/07) entschieden, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen ärztliche Behandlungsmethoden in der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr nicht vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen werden dürfen, wenn es

  • um die Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit geht,
  • eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie nicht zur Verfügung steht und
  • hierdurch eine auf Indizien gestützte, nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
 

Rz. 23

In Umsetzung des Beschlusses des BVerfG v. 6.12.2005 hat das BSG schon in einem Urteil v. 4.4.2006 (B 1 KR 7/05 R Rz. 27 ff. – Tomudex®) klargestellt, dass die vom BVerfG betonten verfassungsrechtlichen Schutzpflichten nicht nur die leistungserweiternde Konkretisierung der Leistungsansprüche der Versicherten bestimmen. Diese Schutzpflichten sollen die Versicherten auch davor bewahren, auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht wahrgenommen wird.

 

Rz. 24

Um die Notwendigkeit der Krankenbehandlung i. S. d. §§ 27, 31 mit einem nicht zugelassenen (im konkreten Fall noch aus dem Ausland importierten) Arzneimittel trotz der Anforderungen des § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 über die bisherige BSG-Rechtsprechung hinaus bejahen zu können, bestehen daher neben der nach dem BVerfG erforderlichen Krankheitssituation und den allgemeinen krankenversicherungsrechtlichen Erfordernissen folgende Voraussetzungen:

  • Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen.
  • Unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes überwiegt bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen.
  • Die – in erster Linie fachärztliche – Behandlung muss auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden.
 

Rz. 25

Der Begriff der "schwerwiegenden Erkrankung" für die Eröffnung des off-label-use ist dabei von dem einer "lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden oder zumindest wertmäßig damit vergleichbaren Erkrankung" abzugrenzen, an den das BVerfG in seinem Beschluss v. 6.12.2005 die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des SGB V knüpft, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen. Mit Letzterem wird eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie mit dem Erfordernis einer schwerwiegenden Erkrankung bestimmt wird. Hieran hält das BSG mit der Begründung fest, dass sich ohne einschränkende Auslegung fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten ließen. Das vom BVerfG herangezogene Kriterium würde bei weiter Auslegung sinnentleert, weil nahezu jede schwerwiegende Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohliche Konsequenzen nach sich zieht. Eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf muss sich innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen.

 

Rz. 26

Diese Rechtsprechung veranlasste den Gesetzgeber, mit dem GKV-VStG v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 2983) mit Wirkung zum 1.1.2012 § 2 Abs. 1a einzufügen, der im Wesentlichen die genannten Voraussetzungen übernommen hat, darüber hinaus jedoch den Anspruch auch auf wertungsmäßig vergleichbare Erkrankungen erstreckt hat. Ausweislich der amtlichen Begründung zu § 2 Abs. 1a (BT-Drs. 17/6906 S. 53) bleiben für nicht oder nicht in der betreffenden Indikation zugelassene Arzneimittel neben der mit dem neuen § 2 Abs. 1a vorgenommenen leistungsrechtlichen Klarstellung die vom BSG entwickelten Grundsätze zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, die vom BVerfG beanstandet wurden (Nichtannahmebeschluss v. 30.6.2008, 1 BvR 1665/07), unberührt. Das bedeutet, dass auch bei Anwendung von § 2 Abs. 1a nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklicht wird (BSG, Urteil v. 13.12.2016, B 1 KR 1/16 R Rz. 21 – Immunglobulin-Therapie [IVIG], m. w. N.). Eine derart notstandsähnliche Situation besteht bei einer chronisch progredienten Krankheit...

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