Rz. 60

Zum Teil wird bzw. wurde vertreten, dass von der Genehmigungsfiktion nur Leistungen umfasst sind, die dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen und damit von der Krankenkasse auch als Sachleistung erbracht werden dürften (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 13.9.2016, L 4 KR 320/16; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 26.5.2014, L 16 KR 154/14 B ER; Helbig, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 13 Rz. 154, Stand 30.6.2021). Hiergegen spricht aber vor allem, dass die Fristüberschreitung der Krankenkasse so im Ergebnis sanktionslos bliebe und der Versicherte stets das Kostenrisiko dafür trüge, dass die von ihm selbst beschaffte Leistung, für ihn möglicherweise überhaupt nicht erkennbar, diesen Geboten nicht entspricht. Nach Rechtsprechung des BSG (vgl. nur Urteil v. 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R; BSG, Urteil v. 11.7.2017, B 1 KR 26/16 R) und h. M. im Schrifttum (vgl. nur Schifferdecker, in: KassKomm. SGB V, 115. EL Dezember 2021, § 13 Rz. 136b; Noftz, in: Hauck/Noftz SGB V, § 13 Kostenerstattung, Rz. 58l) sind deswegen die Kosten der Selbstbeschaffung nach Eintritt der Genehmigungsfiktion grundsätzlich auch dann erstattungsfähig, wenn das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung einen entsprechenden Leistungsanspruch nicht vorsieht. Danach liegt der spezifische Zweck der Genehmigungsfiktion nämlich gerade in dem Druck, den diese auf die Krankenkasse ausübt, dass diese sich nach Ablauf der Frist nicht mehr auf die materielle Rechtswidrigkeit der beantragten Leistung berufen kann und die Vorschrift soll ihre Wirkung insbesondere in Fällen entfalten, in denen nach materiellem Leistungsrecht kein Naturalleistungsanspruch besteht (BSG, Urteil v. 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R).

Dies gilt allerdings nicht ohne Einschränkung und für jeden denkbaren Anspruch. Zu fordern ist vielmehr ein Bezug zum Sachleistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, sodass jedenfalls systemfremde Leistungen nicht von der Genehmigungsfiktion umfasst sein können (vgl. etwa Schifferdecker, in: KassKomm. SGB V, 115. EL Dezember 2021, § 13 Rz. 136b). Das BSG hat die Grenze hier insoweit zunächst beim Rechtsmissbrauch gezogen (BSG, Urteil v. 8.3.2016, B 1 KR 25/15 R; BSG, Urteil v. 11.7.2017, B 1 KR 26/16 R) und darauf abgestellt, dass die Begrenzung auf erforderliche Leistungen eine Beschränkung auf subjektiv für den Versicherten erforderliche Leistungen bewirke, die "nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges der GKV" liegen. Diese Rechtsprechung hat es in seiner neuen Rechtsprechung "fortentwickelt" und verlangt für das Eintreten der Genehmigungsfiktion nunmehr, dass der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung gutgläubig ist und keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs hat (BSG, Urteil v. 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R). Den Maßstab der Gutgläubigkeit entnimmt das BSG dabei dem zum 1.1.2018 eingeführten § 18 Abs. 5 SGB IX, der die Erstattungspflicht nach Eintritt einer Genehmigungsfiktion für Teilhabeleistungen regelt, wozu sich das BSG im Hinblick auf die Parallelität der Regelungen "berechtigt und verpflichtet" gesehen hat (kritisch dazu etwa Knispel, KrV 2021 S. 14). Nach § 18 Abs. 5 SGB IX besteht keine Erstattungspflicht, wenn und soweit kein Anspruch auf Bewilligung der selbst beschafften Leistungen bestanden hätte und die Leistungsberechtigten dies wussten oder infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt nicht wussten. Grob fahrlässig handelt dabei nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, d. h. wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (st. Rspr.; vgl. BSG, Urteil v. 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R; BSG, Urteil v. 11.6.1987, 7 RAr 105/85). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (st. Rspr.; vgl. BSG, Urt. v. 13.3.2019, B 8 SO 85/18 B; BSG, Urteil v. 8.2.2001, B 11 AL 21/00 R). Das Tatbestandsmerkmal der groben Fahrlässigkeit soll aber nur eine Kostenerstattung offensichtlich rechtswidriger Leistungen ausschließen. Eine nähere Kenntnis des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung darf den Versicherten hingegen nicht abverlangt werden (BSG, Urteil v. 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R; vgl. zu § 18 Abs. 5 SGB IX insoweit auch BT-Drs. 18/9522 S. 238). Je offensichtlicher die beantragte Leistung damit außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, desto eher ist von einer zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis (Bösgläubigkeit) der Versicherten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung auszugehen. Grobe Fahrlässigkeit liegt jedenfalls dann vor, wenn sich der Versicherte trotz erdrückender Sach- und Rechtslage besserer Erkenntnisse verschließt (BSG, Urteil v. 26.5.2020, B 1 KR...

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