[1] Die Selbstbeschaffung einer beantragten Leistung, auf die ein materiell-rechtlicher Anspruch besteht und die vom Leistungskatalog der GKV umfasst wird, ist in jedem Fall nach Eintritt der Genehmigungsfiktion als zulässig selbstbeschafft zu betrachten.

[2] Bei einer Leistung, für die das Recht der GKV allerdings keinen Anspruch vorsieht, trifft dies nach der aktuellen Rechtsprechung nur dann zu, wenn die Versicherten zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung gutgläubig waren, also nicht wussten oder grob fahrlässige Unkenntnis darüber hatten, dass kein Rechtsanspruch auf die beantragte Leistung bestand. Diese Voraussetzung stellt eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung dar, wonach die mit § 13 Abs. 3a SGB V verfolgten Zwecke (Verfahrensbeschleunigung und Sanktionierung der Krankenkasse bei Nichteinhaltung der normierten Fristen) ihre Grenze beim Rechtsmissbrauch finden (vgl. BSG, Urteil vom 27.8.2019, B 1 KR 9/19 R). In seinem Urteil vom 26.5.2020 (Rn. 23) hat der 1. Senat diesen Rechtsgedanken näher konkretisiert, indem er den in der Parallelnorm (Genehmigungsfiktion nach § 18 Abs. 5 SGB IX) gesetzlich geregelten Verschuldensmaßstab auch auf die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V für anwendbar erklärt hat.

[3] Zu dem Begriff der groben Fahrlässigkeit verweist das BSG in seinem Urteil vom 26.5.2020 auf die Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, wonach derjenige grob fahrlässig handelt, der die erforderliche Sorgfalt in besonderem Maße verletzt. Das BSG greift dabei zur näheren Beschreibung der "Verletzung der Sorgfaltspflicht in besonders schwerem Maße" auf bereits durch Rechtsprechung und Gesetzesbegründungen normierte Maßstäbe zurück.

[4] Grobe Fahrlässigkeit liegt insbesondere dann vor, wenn schon einfachste und ganz naheliegende Überlegungen von den Leistungsberechtigten nicht angestellt werden und die Umstände, die im gegebenen Sachverhalt jedem einleuchten müssen, nicht beachtet werden. Das Maß der Fahrlässigkeit ist dabei insbesondere an der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit und dem Einsichtsvermögen der Versicherten und den besonderen Fallumständen zu bemessen. Die nähere Kenntnis der Versicherten über das Recht der GKV darf dabei nicht vorausgesetzt werden. Von einer grob fahrlässigen Unkenntnis der Versicherten zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der beantragten Leistung kann ausgegangen werden, wenn diese ganz offensichtlich außerhalb des GKV-Leistungskataloges liegt. Von einer Bösgläubigkeit ist daher auszugehen, wenn sich Versicherte der eindeutige Sach- und Rechtslage verschließen (vgl. BSG, Urteil vom 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R, Rn. 24).

[5] Bösgläubigkeit ist aber nicht schon dann anzunehmen, wenn [korr.] eine Vertragsärztin oder ein Vertragsarzt den Versicherten empfiehlt, eine aus seiner Sicht medizinisch notwendige Leistung vorab direkt bei der Krankenkasse zu beantragen, weil er im Verhältnis zu der Krankenkasse nicht das Vergütungsrisiko tragen wolle. Lehnen Krankenkassen die beantragte Leistung auf Grundlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des MD ab und halten später an dieser Entscheidung im Vorverfahren fest, so führt auch dies nicht automatisch zur Bösgläubigkeit bei den Versicherten. Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen von Bösgläubigkeit in diesem Zusammenhang ist die Qualität der fachlichen Argumente der Krankenkassen sowie deren Nachvollziehbarkeit durch die Versicherten und nicht allein die formale Ablehnung der Leistung. Die Gutgläubigkeit wird grundsätzlich nicht dadurch beseitigt, dass unterschiedliche Meinungen über die rechtlichen und tatsächlichen Umstände einschließlich unterschiedlich gutachterlicher Bewertungen bestehen; dies gilt auch noch während eines Klage- und Rechtsmittelverfahrens (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 25).

[6] Allerdings beruht die Gutgläubigkeit der Versicherten auf einem tatsächlichen Umstand, der sich im weiteren Verlauf zur Bösgläubigkeit verändern kann. Zwar können sich Versicherte die Leistung auch während eines anhängigen Verfahrens noch selbst beschaffen, zum Zeitpunkt des Beschaffungsvorgangs selbst darf dann jedoch keine Bösgläubigkeit vorliegen. Dies wäre dann der Fall, wenn die Versicherten zu diesem Zeitpunkt wissen, dass kein materiell-rechtlicher Anspruch (mehr) auf die Leistung besteht. Bedeutung kann die Veränderung des tatsächlichen Umstands insbesondere bei beantragten Dauerleistungen haben (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 26).

[7] Der Grad der Unkenntnis der Versicherten spielt allerdings dann keine Rolle mehr, wenn diese sich die Leistung zu einem Zeitpunkt selbst beschaffen, nachdem die Krankenkasse die Leistung bereits bestandskräftig abgelehnt oder ein Gericht eine entsprechende Klage rechtskräftig abgewiesen hat. Ein Kostenerstattungsanspruch besteht dann nicht mehr.

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