Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung Betriebswegeunfall und Wegeunfall bei Vereinssitzungen.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Als betriebliche Tätigkeit des Schädigers i.S.d. § 105 Abs. 1 SGB VII ist grundsätzlich jede gegen Arbeitsunfall versicherte Tätigkeit zu qualifizieren. Entscheidend ist, ob es sich um eine betriebsbezogene Tätigkeit handelt, die dem Schädiger von dem Betrieb oder für den Betrieb übertragen war oder die von ihm im Betriebsinteresse ausgeführt worden ist.

2. Der Begriff der betrieblichen Tätigkeit ist weit auszulegen und objektiv zu bestimmen. Erforderlich ist eine unmittelbar mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung zusammenhängende und dem Betrieb dienliche Tätigkeit. Es kommt darauf an, ob der Schaden in Ausführung einer betriebsbezogenen Tätigkeit verursacht wurde und nicht nur bei Gelegenheit.

3. Zur Abgrenzung der Unfälle, die unter das Haftungsprivileg der §§ 104 f. SGB VII fallen, von sonstigen Wegeunfällen i.S.d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGV VII, bei denen eine Entsperrung der Haftung erfolgt, ist zu prüfen, ob nach der ratio legis der §§ 104 f. SGB VII eine Haftungsbeschränkung geboten ist, weil sich aufgrund der bestehenden betrieblichen Gefahrengemeinschaft ein betriebsbezogenes Haftungsrisiko verwirklicht hat, von dem der Unternehmer auch hinsichtlich eventueller Freistellungs- und Erstattungsansprüche grundsätzlich befreit werden soll. Maßgeblich ist das Verhältnis des Geschädigten zu dem in Anspruch genommenen Schädiger. Im Unfall muss sich das betriebliche Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem manifestiert haben.

4. Die Teilnahme an einer Vorstandssitzung eines Vereins (hier: sozialpolitischer Interessenverband in der Rechtsform des gemeinnützigen eingetragenen Vereins), die in einer privaten Gaststätte stattfindet, kann eine Haftungsprivilegierung i.S.d. § 105 SGB VII begründen. Das gilt für den von der Organisationsherrschaft des Veranstalters erfassten Bereich. Die Nutzung von Räumlichkeiten einer Gaststätte führt aber nicht dazu, dass der Nutzer ohne weiteres die Organisationshoheit über das gesamte Gaststättengelände samt zugehörigem Hof innehat.

5. Bei einem Sturz zu Beginn des Antritts der Rückfahrt nach Beendigung der Sitzung auf dem der Gaststätte vorgelagerten Hofgelände kann es sich um einen Wegeunfall i.S.d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII handeln (hier bejaht), wenn der Unfall nicht Ausdruck der betrieblichen Verbindung der Geschädigten zum Verein war und der Hof ohne die Herrschaft des Vereins, der die betriebliche Tätigkeit (hier: Vorstandssitzung) organisiert hat, anderen Besuchern uneingeschränkt offenstand. Der Unfall unterfällt dann keiner Haftungsprivilegierung.

 

Normenkette

SGB VII § 2 Abs. 1 Nr. 9, § 8 Abs. 1, 2 Nr. 1, § 105 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Verden (Aller) (Aktenzeichen 4 O 234/20)

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 15.02.2021 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 80.201,48 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30.08.2020 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin über Ziff. 1. hinaus nach Maßgabe des die Parteien verbindenden Teilungsabkommens 50 % ihrer weiteren übergangsfähigen Aufwendungen zu ersetzen, die ihr infolge des Unfalls der bei der Klägerin versicherten Frau I. K., geb. ...1940, vom 13.09.2017 auf dem Hof des Gasthauses H. in der Dstr. ... in ... B. entstanden sind und noch entstehen werden.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf die Wertstufe bis 110.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem zwischen ihnen geschlossenen Teilungsabkommen aus dem Jahr 2008. Die Klägerin ist eine Berufsgenossenschaft, die Beklagte ein Haftpflichtversicherer.

Das Teilungsabkommen enthält in § 1 Nr. 1 folgende Regelung:

(1) Werden von der BG (Klägerin) aufgrund des § 116 SGB X Schadenersatzansprüche gegen eine natürliche oder juristische Person erhoben, die bei der ... (Beklagten) haftpflichtversichert ist, werden diese ausschließlich nach diesem Teilungsabkommen abgewickelt. Die ... (Beklagte) verzichtet auf die Prüfung der Haftungsfrage und beteiligt sich nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen an den Aufwendungen der BG mit 50 % auch in den Fällen, in denen der Schaden nachweislich durch das eigene Verschulden des Verletzten (Geschädigten) entstanden ist.

In § 4 Abs. 2 des Teilungsabkommens heißt es:

Ansprüche aus Schadensfällen des Fahrers des bei der ... (Beklagte) versicherten Kraftfahr...

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