Rz. 36

§ 12 EFZG verbietet Abweichungen von den Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes, die zuungunsten des Arbeitnehmers bzw. der nach den §§ 10 und 11 EFZG Berechtigten wirken. Demnach sind günstigere Regelungen als die gesetzlichen Bestimmungen in vollem Umfang möglich, sei es durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarungen (in den Grenzen des § 77 Abs. 3 BetrVG) oder auf der Grundlage einer einzelvertraglichen Vereinbarung.

Wenn demnach günstigere Regelungen möglich sind, so ist zu klären, wie ein solcher Günstigkeitsvergleich aussehen muss, um der gesetzgeberischen Intention zu genügen. Ähnlich wie im Rahmen des § 4 Abs. 3 TVG, wonach von Tarifverträgen abweichende Abmachungen nur zulässig sind, soweit sie ausdrücklich gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten, ist insbesondere zu fragen, ob nicht Regelungen, die verschiedene Komponenten enthalten, aber insgesamt günstiger für den Arbeitnehmer sind, möglich sein sollen.

2.3.1 Durchführung des Günstigkeitsvergleichs

 

Rz. 37

Nach der Rechtsprechung des BAG[1] bezieht sich der durchzuführende Günstigkeitsvergleich immer nur auf die jeweilige Abweichung von der gesetzlichen Anordnung. Es ist also die konkrete in einem Kollektiv- oder Einzelvertrag enthaltene Regelung mit der entsprechenden gesetzlichen Bestimmung zu vergleichen. Eine Kompensation einer ungünstigen Abweichung mit einer für den Arbeitnehmer günstigen Abweichung vom Gesetz an anderer Stelle erfolgt nicht. Damit ist also ein Einzelvergleich und nicht ein Gesamtvergleich durchzuführen. Diese Auffassung des BAG teilt auch die herrschende Meinung im Schrifttum.[2]

 
Praxis-Beispiel

Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren einzelvertraglich, dass – entgegen § 3 Abs. 1 EFZG – 3 Karenztage gelten sollen, der Arbeitnehmer also erst ab dem 4. Tag Entgeltfortzahlung erhält. Gleichzeitig soll er – über § 3 Abs. 1 EFZG hinaus – einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von 10 Wochen erhalten.

Aus Sicht des Arbeitnehmers ist diese Regelung durchaus interessant, da sich für ihn der Zeitraum, in dem ihm Entgeltfortzahlung zusteht, erheblich verlängert, was insgesamt positiver wiegt als die vereinbarten 3 Karenztage.

Nach der dargelegten Rechtsprechung des BAG ist ein solcher "Gesamtvergleich" jedoch unzulässig: Es kann lediglich jede der beiden Regelungen jeweils getrennt mit dem Gesetz verglichen werden. Danach ist die Vereinbarung von 3 Karenztagen unzulässig.

Ungünstiger wäre eine Regelung etwa auch dann, wenn sie den Entgeltfortzahlungszeitraum verkürzen, dafür aber auf Anzeige- und Nachweispflichten verzichten würde.[3]

Aufgrund der Beschränkung des Verbots in § 12 EFZG auf ungünstigere Regelungen muss eine Abweichung nach Auffassung des BAG[4] allerdings nicht "stets günstiger" als das Gesetz sein. Zulässig ist diese vielmehr auch dann, wenn nach objektiven Maßstäben nicht zweifelsfrei feststellbar ist, dass sie für den Arbeitnehmer ungünstiger ist – sei es, weil es sich um eine "ambivalente" Regelung handelt, bei der es von den Umständen des Einzelfalls abhängt, ob sie sich für den Arbeitnehmer günstiger oder ungünstiger auswirkt; sei es, weil die Regelung neutral ist.[5]

[1] BAG, Urteil v. 22.8.2001, 5 AZR 699/99, NZA 2002, 610, DB 2002, S. 640, AP Nr. 11 zu § 3 EntgeltFG.
[2] ErfK/Reinhard, 23. Aufl. 2023, § 12 EFZG, Rz. 7; KassArbR/Vossen, 2. Aufl. 2000, 2.2, Rz. 407; ausführlich Schmitt/Schmitt, EFZG, 9. Aufl. 2023, § 12 EFZG, Rz. 37 ff. m. w. N.
[3] Knorr/Krasney/v. Creytz, EFZ, Loseblatt, Stand 07/2023, G, S. 206, Rz. 10.
[4] BAG, Urteil v. 6.12.2017, 5 AZR 118/17, AP Nr. 18 zu § 2 EntgeltFG, NZA 2018, 597.
[5] Vgl. auch ErfK/Reinhard, 23. Aufl. 2023, § 12 EFZG, Rz. 7.

2.3.2 Einzelfälle

 

Rz. 38

Unzulässig sind nach dem Vorgenannten etwa die folgenden Abweichungen, weil sie zuungunsten des Anspruchsberechtigten wirken:

  • das Abhängigmachen der Entgeltfortzahlung von der Verpflichtung zur Vorlage einer weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung[1]
  • die Pflicht zur Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines bestimmten, vom Arbeitgeber benannten Arztes[2]
  • die Anrechnung nicht arbeitsunfähigkeitsbedingter Ausfallzeiten auf den Entgeltfortzahlungszeitraum[3]
  • die Verschärfung der materiellen Anspruchsvoraussetzungen, etwa das Verlangen nach einer bestimmten Mindestdauer der Betriebszugehörigkeit (über die 4-Wochen-Mindestdauer nach§ 3 Abs. 3 EFZG hinaus)[4]
  • eine betriebliche Regelung zur flexiblen Arbeitszeit, wonach ein Ausgleich entstandener Zeitschulden lediglich durch tatsächliche Arbeitsleistung, nicht jedoch durch Zeiten von Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit möglich sein sollte[5]
  • eine Regelung, die dem Arbeitgeber das Recht einräumt, für jeden Tag der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall den Arbeitnehmer nacharbeiten zu lassen bzw. im Falle des Vorhandenseins eines Arbeitszeitkontos von diesem Stunden in Abzug zu bringen[6]; zu einer Regelung, wonach die auf einen Feiertag fallende Arbeit vor- bzw. nachgearbeitet wird[7]; zu einer Regelung, wonach die am Tag vor dem Feiertag ausfal...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge