Rz. 23

Soweit die Entlastung von der Abzugsteuer auf die Mutter-Tochter-Richtlinie oder die Zins- und Lizenzrichtlinie gestützt wird, enthalten die genannten Richtlinien Vorbehalte zur Verhinderung von Missbräuchen, sodass sich die Frage nach dem Vorrang stellt.[1]§ 50d Abs. 3 EStG stellt außerdem einen Eingriff in die Grundfreiheiten dar. Betroffen ist bei der Entlastung von der KapESt die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), bei Regelungen zur Portfolio-Beteiligung auch die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV), sowie bei der Entlastung von der Abzugsteuer nach § 50a EStG die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV). Die Einschränkung dieser Grundfreiheiten kann durch das Ziel der Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerumgehung gerechtfertigt sein. Die Regelung muss dann aber angemessen und auf das Notwendige beschränkt sein. Trotz der unterschiedlichen Regelungen in den Richtlinien einerseits und bei der Rechtfertigung des Eingriffs in eine Grundfreiheit andererseits ist beides nach den gleichen Kriterien zu beurteilen, und zwar nach den europarechtlichen Regelungen zur Missbrauchsabwehr.[2] An diesen Kriterien ist § 50d Abs. 3 EStG als Vorschrift zur Verhinderung von Missbräuchen zu messen.

 

Rz. 24

Eine nationale Regelung zur Verhinderung von Missbräuchen ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie konkret rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen verhindern sollen, die zu dem Zweck errichtet worden sind, ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen. Allgemeine Vermutungen genügen diesen Kriterien nicht. Vielmehr muss der jeweilige Vorgang als Ganzes individuell geprüft werden. Dabei begründet der Umstand, dass die Gesellschaft in ihrem Gründungsstaat keine Tätigkeit entfaltet und diese ausschließlich über eine in einem anderen Staat ansässige Tochtergesellschaft ausübt, noch nicht den Vorwurf des Missbrauchs. Es gibt europarechtlich auch keine Vorgaben, welche Tätigkeiten die Gesellschaft ausüben muss und wie hoch die Einkünfte aus eigener Wirtschaftstätigkeit sein müssen. Auch eine Beschränkung auf die Vermögensverwaltung begründet für sich allein noch nicht den Vorwurf einer künstlichen, jeder wirtschaftlichen Realität baren Konstruktion. Dabei müssen auch Gesichtspunkte der organisatorischen, wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Merkmale der jeweiligen Unternehmensgruppe sowie ihre Strukturen und Strategien berücksichtigt werden ("Merkmalsübertragung"). Schließlich ist eine unwiderlegbare Hinterziehungs- oder Missbrauchsvermutung unzulässig. Der Stpfl. muss die Möglichkeit haben, nachzuweisen, dass keine künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktion vorliegt, die allein zu einer ungerechtfertigten Nutzung eines Steuervorteils geschaffen wurde.[3]

 

Rz. 25

Der EuGH hat den Begriff des Missbrauchs bei der Entlastung von Abzugsteuern in den sog. "dänischen Entscheidungen" konkretisiert.[4]

Dabei stützt sich der EuGH auf den allg. Grundsatz des Europarechts, dass sich niemand betrügerisch oder missbräuchlich auf Unionsrecht berufen kann. Dieser Grundsatz sei zwingend; niemand dürfe betrügerisch oder missbräuchlich die vom EU-Recht vorgesehenen Vorteile gelangen. Hieraus folge, dass die Mitgliedstaaten die Anwendung von Vorschriften verweigern müssten, wenn diese nicht geltend gemacht würden, um die Ziele des Unionsrechts zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines Vorteils zu gelangen, obwohl dessen Voraussetzungen nur formal erfüllt seien. Dabei schlössen besondere Vorschriften zur Bekämpfung des Missbrauchs in einer RL die Anwendung dieses allg. Grundsatzes nicht aus. Auch könne sich der Stpfl. nicht auf die Grundfreiheiten des AEUV berufen, wenn der Missbrauchstatbestand einer EU-RL erfüllt sei. Es sei auch nicht erforderlich, dass EU-Recht oder die nationalen Rechtsvorschriften ausdrückliche Bestimmungen zur Bekämpfung des Missbrauchs enthielten. Bei Fehlen solcher geschriebener Bestimmungen zur Verhinderung von Missbrauch sei der ungeschriebene allgemeine Grundsatz anzuwenden.[5]

 

Rz. 26

Ein DBA, das die Entlastung von der Abzugsteuer im Verhältnis zu einem Drittstaat gewähre, schließe für sich genommen die Annahme eines Missbrauchs durch die Einschalung einer Gesellschaft in einem EU-Staat nach dem europarechtlichen Missbrauchstatbestand nicht aus. Der Umstand, dass ein DBA bestehe, beweise nicht, dass dem Vorgang eine reale wirtschaftliche Beziehung zugrunde liege. Würde eine Zahlung an die Drittstaatsgesellschaft aber nach einem DBA zu einer Steuerentlastung ähnlich wie nach einer EU-RL führen, sei es denkbar, dass die Einschaltung einer Durchleitungsgesellschaft in einem EU-Staat nicht rechtsmissbräuchlich sei. Das Gleiche gelte bei einer Weiterleitung an eine EU-Gesellschaft, die nach einer EU-RL oder den Grundfreiheiten des AEUV begünstigt sei.[6]

 

Rz. 27

Missbrauch liege danach vor, wenn die fragliche Gestaltung nicht dem Zweck des EU-Rechts einschließlich der RL diene, gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen und das ordnungsgemäße Funktioni...

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