Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorabentscheidungsersuchen. Steuerrecht. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Personen, die der Staatskasse Mehrwertsteuer schulden. Gesamtschuldnerische Haftung des Empfängers einer steuerpflichtigen Lieferung, der von seinem Recht auf Vorsteuerabzug in dem Wissen Gebrauch gemacht hat, dass der Steuerschuldner die Mehrwertsteuer nicht abführen wird. Verpflichtung eines solchen Empfängers, die von diesem Steuerpflichtigen nicht abgeführte Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen für die Nichtzahlung dieser Steuer zu entrichten

 

Normenkette

EGRL 112/2006 Art. 205

 

Beteiligte

ALTI

„ALTI” OOD

Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Plovdiv pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite

 

Verfahrensgang

Varhoven administrativen sad (Bulgarien) (Beschluss vom 16.12.2019; ABl. EU 2020, Nr. C 77/34)

 

Tenor

Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Person, die im Sinne dieses Artikels gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen wird, neben dem vom Steuerschuldner nicht abgeführten Mehrwertsteuerbetrag auch die von ihm darauf geschuldeten Verzugszinsen zu tragen hat, wenn erwiesen ist, dass sie wusste oder hätte wissen müssen, dass der Steuerpflichtige die Steuer nicht abführen wird, und dennoch von ihrem Recht auf Vorsteuerabzug Gebrauch gemacht hat.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 16. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Januar 2020, in dem Verfahren

”ALTI” OOD

gegen

Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Plovdiv pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Plovdiv pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, vertreten durch G. Arnaudov als Bevollmächtigten,
  • der bulgarischen Regierung, vertreten durch L. Zaharieva und E. Petranova als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und Y. Marinova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom14. Januar 2021

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, berichtigt im ABl. 2018, L 329, S. 53).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „ALTI” OOD und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika” Plovdiv pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer-/Sozialversicherungspraxis” Plovdiv bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien, im Folgenden: Direktor) über die gesamtschuldnerische Haftung von ALTI für die Entrichtung der Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 193 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.”

Rz. 4

Die Art. 194 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie bestimmen im Wesentlichen, dass andere Personen als der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, als Mehrwertsteuerschuldner angesehen werden können oder sogar müssen.

Rz. 5

Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.”

Bulgarisches Recht

Rz. 6

Art. 177 („Haftung der Person im Missbrauchsfall”) des Zakon za danaka varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) (DV Nr. 63 vom 4. August 2006) in seiner im Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„(1) Die registrierte Person, die Empfänger einer steuerpflichtigen Lieferung oder Dienstleistung ist, haftet für die von einer anderen registrierten Person geschuldete und nicht gezahlte Steuer, soweit sie vom Recht auf Abzug der Vorsteuer, die in unmittelbarem oder mi...

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