Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerpflegebedürftigkeit. Pflegegeld. häusliche Pflegehilfe. Pflege in einem fremden Privathaushalt. nichtstationäre außerhäusliche Pflege. Gleichbehandlungsgrundsatz

 

Leitsatz (amtlich)

  • Die Regelung des § 55 Abs 1 SGB V über den Anspruch schwerpflegebedürftiger Versicherter auf häusliche Pflegehilfe bei Pflege in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie schloß entsprechende Ansprüche bei außerhäuslicher Pflege (hier: Pflege in einem fremden Privathaushalt) aus.
  • Dies war verfassungsgemäß (Anschluß an BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 1).
 

Normenkette

SGB V §§ 55, 57; SGB XI §§ 36, 41; GG Art. 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 12.10.1994; Aktenzeichen L 4 Kr 75/94)

SG Osnabrück (Urteil vom 08.03.1994; Aktenzeichen S 3 Kr 98/93)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist ein Anspruch nach § 55 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) auf Gewährung häuslicher Pflegehilfe.

Der im Jahre 1989 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) über seinen Vater gemäß § 10 SGB V krankenversicherte Kläger leidet an einer spastischen Tetraparese nach frühkindlicher Hirnschädigung, hochgradiger Sprachentwicklungsverzögerung, Strabismus beiderseits und unter BNS-Anfällen. Er ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100. Ihm sind die Nachteilausgleiche “Hilflosigkeit”, “erhebliche Gehbehinderung” und “Notwendigkeit ständiger Begleitung” (Merkzeichen H…, G… und B…) zuerkannt. Er lebt im Haushalt seiner Eltern und wird von ihnen gepflegt. Aufgrund seiner Schwerpflegebedürftigkeit hat die Beklagte dem Kläger ab 1. Januar 1991 die in § 57 SGB V vorgesehene Geldleistung (Pflegegeld) in Höhe von monatlich 400,-- DM bewilligt; dies geschah zunächst befristet bis zum 31. August 1992 (Bescheid vom 28. Mai 1991) und danach unbefristet (Bescheid vom 23. November 1992). Die Leistungen sind von der Beklagten bis zum 31. März 1995, dem Ende der Zuständigkeit der Krankenversicherung (KV) für Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit, erbracht worden. Ab 1. April 1995 bezieht der Kläger Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – (SGB XI) von der Pflegekasse.

Seit dem 19. Oktober 1992 wird der Kläger wegen einer Erwerbstätigkeit seiner Mutter jeweils montags bis freitags für die Dauer von vier Stunden (8.00 bis 12.00 Uhr) von einer Pflegeperson, einer ausgebildeten Lehrerin für geistig behinderte Kinder, in deren Wohnung pflegerisch betreut. Dafür zahlen ihr die Eltern des Klägers 8,-- DM pro Stunde.

Dem Antrag des Klägers, ihm ab 19. Oktober 1992 statt des Pflegegeldes nunmehr häusliche Pflegehilfe durch seine Pflegeperson, Frau G.…, in deren Haushalt bis zum Höchstbetrag von monatlich 750,-- DM zu gewähren, lehnte die Beklagte mit dem bereits erwähnten Bescheid vom 23. November 1992 ab. Auch der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 18. Juni 1993). Die Beklagte zeigte sich zum Abschluß eines Pflegevertrages mit der Pflegeperson bereit, wenn die Pflege des Klägers im elterlichen Haushalt durchgeführt würde. Häusliche Pflegehilfe als Sachleistung der KV sei nach dem Willen des Gesetzgebers nur im eigenen Haushalt des Versicherten oder in dem seiner Familie möglich; eine Ausnahme sei lediglich für den hier nicht vorliegenden Fall einer Urlaubs- oder Verhinderungspflege nach § 56 Satz 3 SGB V vorgesehen. Die beantragte außerhäusliche Pflegehilfe könne deshalb nicht gewährt werden. Aus diesen Gründen waren auch die Klage des Klägers vor dem Sozialgericht (SG) und seine Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) erfolglos (Urteile vom 8. März 1994 und 12. Oktober 1994).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 55 SGB V. Diese Vorschrift sei weit auszulegen. Die häusliche Pflegehilfe sei 1991 mit dem Ziel eingeführt worden, eine stationäre Unterbringung schwerpflegebedürftiger Personen in Pflegeheimen oder vergleichbaren Einrichtungen nach Möglichkeit zu vermeiden und die Pflege und Versorgung der Betroffenen in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung zu unterstützen. Diesem Ziel werde die gewählte Form seiner vierstündigen Pflege in einem anderen Privathaushalt an Werktagen während der berufsbedingten Abwesenheit seiner Mutter ebenso gerecht. Daß er zur Pflegeperson gebracht werde und diese nicht zu ihm ins Haus komme, beruhe allein auf Praktikabilitätsgründen.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

  • die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Oktober 1994 und des Sozialgerichts Osnabrück vom 8. März 1994 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 23. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 1993 abzuändern und
  • die Beklagte zu verurteilen, ihm häusliche Pflegehilfe durch Frau G.… in deren Haushalt bis zum Höchstbetrag von monatlich 750,-- DM für den Zeitraum vom 19. Oktober 1992 bis zum 31. März 1995 unter Anrechnung des in dieser Zeit gezahlten Pflegegeldes zu gewähren.

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und hält an ihrer Rechtsauffassung fest.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers war zurückzuweisen. Ihm steht der geltend gemachte Anspruch auf häusliche Pflegehilfe für den fraglichen Zeitraum nicht zu.

1. Der Zulässigkeit der Klage auf Gewährung der häuslichen Pflegehilfe als Sachleistung steht nicht der Umstand entgegen, daß der Anspruch einen abgeschlossenen Zeitraum in der Vergangenheit betrifft, die Pflegeleistung durch die Pflegeperson allein aufgrund eines Vertrages mit dem Kläger oder dessen Eltern, ohne parallelen Pflegevertrag der Pflegeperson mit der Beklagten, bereits erbracht worden ist und die Pflegeperson die vereinbarte Vergütung bereits erhalten hat. Der Kläger war nicht gehalten, statt des Sachleistungsanspruchs einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V geltend zu machen. Die KK ist in derartigen Fällen grundsätzlich nicht gehindert, nachträglich einen Pflegevertrag mit der Pflegeperson abzuschließen und die an sie zu zahlende Vergütung bis zum Höchstbetrag von 750,-- DM mit deren Einverständnis unmittelbar dem Pflegebedürftigen zukommen zu lassen, soweit dieser den Vergütungsanspruch bereits erfüllt hat. Es sind hier keine Gründe ersichtlich, die dieser Form der Anspruchserfüllung entgegenstünden. Daher braucht nicht entschieden zu werden, ob der Revisionsantrag zu 2) in einen Kostenerstattungsantrag umgedeutet werden könnte und die Klage nach § 13 Abs 3 SGB V mangels vorheriger Leistungsverweigerung der KK für die Zeit bis zum 16. November 1992 unabhängig von der sonstigen Erfolgsaussicht schon deshalb abgewiesen werden müßte, weil die Beklagte erst an diesem Tag ihre ablehnende Entscheidung den Eltern des Klägers erstmals – mündlich – mitgeteilt hatte.

2. Der streitige Anspruch richtet sich nach den zum 1. Januar 1989 im Rahmen des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) in das SGB eingefügten §§ 53 bis 57 SGB V. Diese Vorschriften sind zwar nach Art 4 Nr 4 des Gesetzes zur Sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz ≪Pflege-VG≫) vom 26. Mai 1994 (BGBl I Nr 30 S 1014) zum 1. April 1995 außer Kraft getreten und zu diesem Zeitpunkt durch die Regelungen des SGB XI ersetzt worden. Sie bleiben aber für die Zeit bis zum 31. März 1995 maßgeblich, auf die es hier allein ankommt.

Nach § 53 Abs 1 SGB V erhalten Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen (Schwerpflegebedürftige), häusliche Pflegehilfe. Nach § 55 Abs 1 SGB V soll die häusliche Pflegehilfe die Pflege und Versorgung schwerpflegebedürftiger Versicherter in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie ergänzen (Satz 1). Sie ist darauf auszurichten, daß Pflegebedürftige möglichst dort verbleiben können und stationäre Pflege vermieden wird (Satz 2). Sie umfaßt die im Einzelfall notwendige Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung bis zu der in dieser Vorschrift genannten Dauer (Satz 3) und darf im Einzelfall 750,-- DM je Kalendermonat nicht übersteigen (Satz 5). Ferner hängt der Anspruch auf häusliche Pflegehilfe davon ab, daß gemäß § 54 SGB V eine bestimmte Mindestversicherungszeit erfüllt ist, wobei es hier auf die Mitgliedschaftszeiten des Vaters des Klägers ankommt (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGB V). Von den genannten Voraussetzungen ist im vorliegenden Fall allein zweifelhaft und streitig, ob die Versorgung des schwerpflegebedürftigen Klägers im Haushalt der Pflegeperson als häusliche Pflegehilfe iS des § 55 Abs 1 SGB V zu gelten hat. Dies haben die Vorinstanzen zu Recht verneint. Eine Auslegung, daß als Anspruchsvoraussetzung die Pflege in einem Privathaushalt genügt, und nur die Heimpflege ausgeklammert wird, ist mit Wortlaut und Sinn der Vorschrift nicht zu vereinbaren; eine solche Regelung kann dem § 55 Abs 1 SGB V auch nicht im Wege entsprechender Anwendung oder im Rückschluß aus der im SGB XI insoweit für spätere Zeiträume getroffenen Regelung entnommen werden.

a) Nach Wortlaut, Sinn und Zweck der Vorschrift des § 55 Satz 1 und 2 SGB V hat der Gesetzgeber den Sachleistungsanspruch auf häusliche Pflegehilfe an die Versorgung des Schwerpflegebedürftigen in seinem Haushalt oder den seiner Familie geknüpft und auch knüpfen wollen. Durch die Eingrenzung auf die “häusliche” Pflegehilfe und deren Funktionsbeschreibung als Ergänzung der Pflege und Versorgung schwerpflegebedürftiger Versicherter “in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie” mit dem Ziel der. Ermöglichung des Verbleibs in dem Haushalt und der Vermeidung stationärer Pflege hat der Gesetzgeber mit hinreichender Klarheit verdeutlicht, daß nicht nur die stationäre Pflege in einer Pflegeeinrichtung den Leistungsanspruch ausschließt, was allerdings dem Hauptzweck der Regelung entspricht, sondern auch die Pflege in einem Privathaushalt außerhalb des eigenen Haushalts oder desjenigen der Familie. Eine Ausnahme bildet lediglich die Regelung des § 56 Satz 3 SGB V über die Pflegehilfe für Versicherte “außerhalb ihres Haushalts oder ihrer Familie” bei Urlaub oder Verhinderung der Pflegeperson für längstens vier Wochen jährlich. Der in § 55 Satz 1 SGB V verwandte Begriff “soll” ist nicht, wie der Kläger meint, dahin auszulegen, daß die Hilfe bei der Pflege eines Kindes im elterlichen Haushalt zwar erfolgen soll, aber nicht muß. Auch die Umschreibung des Pflegeziels in § 55 Satz 2 SGB V, wonach die Pflege darauf auszurichten ist, daß der Pflegebedürftige “möglichst” in der gewohnten Umgebung verbleiben kann, besagt nicht, daß der Gesetzgeber auch andere Pflegeformen, etwa mehrstündige werktägliche Pflegeaufenthalte in einem fremden Privathaushalt, als förderungsfähig ansehen wollte. Vielmehr werden mit den im Gesetz gewählten Formulierungen lediglich Ziel und Zweck der häuslichen Pflegehilfe gekennzeichnet, nämlich die Ergänzung der Pflege und Versorgung schwerpflegebedürftiger Versicherter in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie zur Verbesserung und Sicherung der Möglichkeit ihres dortigen Verbleibs und zur Vermeidung von stationärer Pflege.

b) Auch eine analoge Anwendung des § 55 SGB V auf Versicherte, die sich zeitlich befristet, aber nahezu täglich in einem anderen Privathaushalt aufhalten und dort gepflegt werden, kommt nicht in Betracht. Zu einer derartigen Rechtsfortbildung wäre der Senat nur befugt, wenn eine Regelungslücke vorläge, dh wenn der Gesetzgeber mit Absicht schweigt, um der Rechtsprechung die offene Frage zu überlassen, oder das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, daß sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach dem Erlaß des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (vgl dazu BSGE 39, 143, 146 = SozR 2200 § 1251 Nr 11; BSGE 60, 176, 178 = SozR 2600 § 57 Nr 3). Keine dieser Voraussetzungen ist gegeben. Der Gesetzgeber hat sich im Zuge des GRG vom 20. Dezember 1988 bewußt darauf beschränkt, unterstützende Leistungen für die häusliche Pflege zu regeln. Er sah es als notwendig und vertretbar an, “mit einem begrenzten Finanzvolumen einen deutlich abgrenzbaren Sektor” aus der Gesamtproblematik, nämlich die ambulante häusliche Pflege Schwerpflegebedürftiger, in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen (BT-Drucks 11/2237, S 145). Diese finanzpolitische Überlegung schließt es aus, die Begrenzung auf den Haushalt des Versicherten und den seiner Familie auf jeden Privathaushalt zu erstrecken. In der Gesetzesbegründung weist nichts darauf hin, daß der historische Gesetzgeber mit den Begriffen “häuslicher Bereich”, “häusliche Pflege” usw auch die Pflege in einem fremden Haushalt erfassen wollte. In der Begründung heißt es hierzu (BR-Drucks 200/88, S 182 und BT-Drucks 11/2237, S 182):

“Die Leistungen des Sechsten Abschnitts sind neu. Mit der häuslichen Pflegehilfe, den Leistungen bei Urlaub oder Verhinderung der Pflegeperson und der Geldleistung bei Selbstversorgung trägt die GKV wesentlich zur besseren Versorgung der Schwerpflegebedürftigen im häuslichen Bereich bei. Sie unterstützt und entlastet sowohl die Pflegebedürftigen als auch die pflegenden Angehörigen spürbar, ohne deren Eigenverantwortung zu schmälern. Die Leistungen werden gezielt auf den häuslichen Bereich konzentriert, weil Pflegebedürftige möglichst in der ihnen vertrauten Umgebung versorgt werden sollen. Deshalb sind Fähigkeit und Bereitschaft der Angehörigen zur häuslichen Pflege zu stärken. Zugleich wird davon ausgegangen, daß die häusliche Pflege zu einer Entlastung der Krankenhäuser von Fehlbelegungen durch Pflegefälle führt bzw den Anreiz verhindert, Pflegebedürftige in das Krankenhaus einzuweisen, ohne daß die Voraussetzungen für Krankenhausbehandlung (§ 38) vorliegen…

Dieser Beitrag der GKV zur Lösung des Pflegeproblems macht deutlich, daß Staat und Gesellschaft die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen nicht allein lassen. Mit ihm hat die GKV das ihr im Rahmen ihrer Aufgabenstellung Erforderliche und finanziell Zumutbare geleistet. Weitere Schritte, die zur vollständigen und insgesamt befriedigenden sozialen Absicherung der Pflegebedürftigen noch erforderlich sind, müssen außerhalb der GKV getan werden. Dafür muß noch ein Gesamtkonzept entwickelt werden.”

Zu § 55 SGB V (= § 54 des Entwurfs des GRG) heißt es ferner (BR-Drucks 200/88, S 184 und BT-Drucks 11/2237, S 184):

“Die Regelung verdeutlicht Ziel und Grenzen der häuslichen Pflegehilfe. Die Krankenkassen sollen einen Beitrag zur häuslichen Versorgung der Schwerpflegebedürftigen leisten und dadurch die pflegenden Angehörigen oder sonstige Nahestehende entlasten…

Satz 1 und 2 beschreiben Zweck und Ziel der Leistung. Die Leistung kann nur im Haushalt oder in der Familie des schwerpflegebedürftigen Versicherten erbracht werden. Ist der Versicherte außerhalb dieser häuslichen Umgebung untergebracht (zB in einem Pflegeheim), kann die Leistung nur erbracht werden, wenn der Ausnahmetatbestand des § 55 Satz 2 vorliegt”(= § 56 Satz 3 SGB V).

Die Gesetzesmaterialien zeigen zwar, daß bei den Beratungen des GRG stets nur der Gegensatz zwischen der – förderungswürdigen – Pflege im häuslichen Bereich und der – nach Möglichkeit zu vermeidenden – Pflege in stationären Einrichtungen eine Rolle gespielt und niemand an die Alternative der nichtstationären Pflege außerhalb der “eigenen vier Wände” in einem fremden Privathaushalt gedacht hat. Dies spricht jedoch nicht entscheidend für das Vorhandensein einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke in den §§ 53 bis 57 SGB V. Durch die ausnahmslose Betonung der alleinigen Förderung der Pflege schwerpflegebedürftiger Personen “in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie” (§ 55 Abs 1 Satz 1 SGB V) hat der Gesetzgeber vielmehr zum Ausdruck gebracht, daß er den Leistungsanspruch des Versicherten nicht an den Gegensatz von häuslicher zu stationärer Pflege anknüpft, sondern an den Gegensatz von häuslicher zu außerhäuslicher Pflege. Dem entspricht die Gesetzesfassung in § 55 Abs 1 Satz 1 SGB V, die den Leistungsanspruch positiv umschreibt und von der Pflege schwerpflegebedürftiger Versicherter “in ihrem Haushalt oder demihrer Familie” abhängig macht und nicht etwa eine negative Abgrenzung im Sinne eines Leistungsausschlusses bei stationärer Pflege gewählt hat.

Hat der Gesetzgeber somit – wie hier – bewußt seine Regelungen auf die Pflege im eigenen Haushalt oder dem der Familie beschränkt und will er für die Absicherung des Pflegerisikos im übrigen erst noch eine gesetzliche Grundlage schaffen, ist es den Gerichten mangels Regelungslücke verwehrt, die für diesen begrenzten Bereich geltenden Normen der §§ 53 bis 57 SGB V auf andere, noch nicht geregelte Bereiche entsprechend anzuwenden (so bereits Urteil des BSG vom 11. August 1992 – 1 RK 46/91 – SozR 3-2500 § 53 Nr 1 bei Unterbringung in einem Pflegeheim).

c) Der Gesetzgeber ist inzwischen tätig geworden und hat zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit das PflegeVG vom 26. Mai 1994 (BGBI I Nr 30 S 1014) geschaffen, dessen Regelungen zur häuslichen Pflegehilfe am 1. April 1995 in Kraft getreten sind. Diese Bestimmungen können insofern zur Auslegung des § 55 SGB V herangezogen werden. Sie rechtfertigen indes nicht den Schluß, daß der Gesetzgeber für den hier betroffenen Tatbestand der Pflege durch eine vom Pflegebedürftigen angestellte Pflegekraft im Haushalt der Pflegekraft in Fortführung des bisherigen Rechtzustands einen Leistungsanspruch einräumen wollte. Nach § 36 Abs 1 SGB XI erhalten Pflegebedürftige häusliche Pflegehilfe, die in ihrem Haushalt oder einem anderen Haushalt, in den sie aufgenommen sind, gepflegt werden. Mit dieser Formulierung wird zwar jede Pflege in einem privaten Haushalt im Gegensatz zur Heimpflege erfaßt. Indes bleibt zweifelhaft, ob § 36 SGB XI nur die von der Pflegekasse oder von einer Einrichtung angestellte Pflegekraft betrifft oder auch eine vom Pflegebedürftigen angestellte Pflegekraft. Das schließt die Annahme einer bewußten Fortführung des früheren Rechtszustandes aus.

3. Zu einer gegenteiligen Entscheidung zwingt im vorliegenden Fall auch nicht das Verfassungsrecht.

Es verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG), daß der Gesetzgeber die Schwerpflegebedürftigen, soweit sie sich in außerhäuslicher privater (nichtstationärer) Pflege befinden, nicht in die Regelung der §§ 53 ff SGB V einbezogen hat. Die genannte Verfassungsnorm gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 55, 72, 88; 71, 146, 154 f mwN). Maßgeblicher Bezugspunkt für die Prüfung eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz ist also die Frage, ob eine Personengruppe gegenüber einer anderen ohne hinreichenden sachlichen Grund unterschiedlich behandelt wird (BVerfGE 78, 232, 247 = SozR 5850 § 14 Nr 11).

Wie sich schon aus der zitierten Gesetzesbegründung ergibt, hatte der Gesetzgeber mehrere Gründe, die ihn dazu bewogen haben, im Rahmen der Gesundheits-Reformgesetzgebung zunächst nur Bestimmungen für die häusliche Pflege Schwerpflegebedürftiger zu schaffen. Er wollte damit ua Anreize bieten, daß Schwerpflegebedürftige in ihrem Haushalt oder dem ihrer Familie gepflegt werden können, daß Fehlbelegungen in Krankenhäusern durch Pflegefälle vermieden werden und daß dem Schwerpflegebedürftigen nach Möglichkeit seine häusliche Atmosphäre erhalten bleibt. Darüber hinaus war die Beschränkung auf Leistungen für häusliche Pflege schon deshalb geboten, weil eine weitergehende finanzielle Belastung der gesetzlichen KKen nicht möglich erschien. Dieses alles sind sachlich einleuchtende Gründe, die dem Gesetzgeber gestatten, im Rahmen der ihm obliegenden Gestaltungsfreiheit zunächst nur die Schwerpflegebedürftigen in häuslicher Pflege zu begünstigen.

Zwar wird – und darin ist der Revision zuzustimmen – durch die stundenweise Tagespflege in einem fremden Privathaushalt ein wesentliches Ziel des § 55 SGB V, die Vermeidung stationärer Pflege in einer Pflegeeinrichtung, ebenfalls erreicht. Aus der Sicht des Klägers mag deshalb die vom Gesetzgeber getroffene Regelung, nur Schwerpflegebedürftige in häuslicher Pflege zu begünstigen, als ungerecht erscheinen. Die Gerichte haben indessen, wie das Bundesverfassungsgericht (vgl BVerfGE 33, 171, 189 = SozR Nr 12 zu Art 12 GG) in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraums die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat. Vielmehr endet der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum erst dort, wo eine ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist und mangels einleuchtender Gründe als willkürlich beurteilt werden muß. Von einem willkürlichen Verhalten des Gesetzgebers kann hier indessen keine Rede sein. Die Maßnahmen im Rahmen der Gesundheits-Reformgesetzgebung waren nach dem Willen des Gesetzgebers ein erster Schritt, dem – nach Erarbeitung einer Gesamtkonzeption – weitere Schritte folgen sollten, die zu einer befriedigenden und umfassenden Absicherung des Pflegefallrisikos führen sollen. Daß nach Auffassung des Gesetzgebers ua aus finanziellen Gründen nicht sofort eine Gesamtlösung geschaffen werden konnte, ist im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG nicht verfassungswidrig (so auch BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 1 für in einem Pflegeheim untergebrachte Schwerpflegebedürftige). Im übrigen darf der Gesetzgeber bei komplexen Sachverhalten, zu denen auch die Pflegeversicherung gehört, zunächst eine angemessene Zeit Erfahrungen sammeln und sich in diesem Anfangsstadium mit gröberen Typisierungen und Generalisierungen begnügen (BVerfGE 33, 171, 189; 37, 104, 118). Auch das spricht dafür, die begrenzte Regelung des § 55 SGB V für die häusliche Pflege Schwerpflegebedürftiger und die Nichtberücksichtigung von Pflegebedürftigen bei außerhäuslicher Pflege als jedenfalls im Hinblick auf den Gleichheitssatz verfassungsrechtlich unbedenklich anzusehen (BSG aaO).

Nichts anderes ergibt sich im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip des Art 20 GG. Aus dieser Verfassungsnorm können unmittelbare Ansprüche nur hergeleitet werden, soweit das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist. Auf eine Gefährdung seines Existenzminimums durch die Versagung der beantragten Leistung hat sich der Kläger jedoch nicht berufen noch gibt es dafür Anhaltspunkte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 956147

BB 1997, 267

SozSi 1997, 397

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