Entscheidungsstichwort (Thema)

Kfz-Hilfe. Behinderte mit Merkzeichen "G". Kausalität

 

Leitsatz (amtlich)

§ 3 Abs 1 Nr 1 KfzHV verlangt bei Behinderten mit Merkzeichen "G" keine Prüfung, ob sie auch ohne die Behinderung auf ein Kfz angewiesen sind. Dieser Personenkreis ist von Kfz-Hilfe erst ausgeschlossen, wenn im Einzelfall andere zumutbare Transportmöglichkeiten tatsächlich bestehen.

 

Normenkette

KfzHV § 3 Abs. 1 Nr. 1; AFG § 56

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 15.05.1991; Aktenzeichen L 8 Al 390/89)

SG Augsburg (Entscheidung vom 28.09.1989; Aktenzeichen S 15 Al 170/88)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges (Kfz) als berufsfördernde Leistung zur Rehabilitation.

Er ist 1957 geboren und durch einen 1975 erlittenen Unfall mit schweren Brüchen des linken Beines, einer Bein- und Fußverkürzung sowie chronischer Knochenmarkeiterung schwerbehindert. Der Grad der Behinderung (GdB) ist mit 70 anerkannt, außerdem das Merkzeichen "G". Der Kläger arbeitet seit 1980 als Berufskraftfahrer und hat bis zu seinem Arbeitgeber bzw dem Ort der regelmäßigen Arbeitsaufnahme eine Wegstrecke von 5 bis 6 km zurückzulegen. Öffentliche Verkehrsmittel verkehren zwischen diesen Orten direkt nicht. Der Kläger fährt mit seinem eigenen Kfz zur Arbeit.

Seinen Antrag vom 22. Mai 1987 auf Gewährung von Kfz-Hilfe zur Beschaffung eines neuen behindertengerechten Fahrzeuges lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 15. Dezember 1987; Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1988). Der Kläger sei nicht wegen Art und Schwere der Behinderung, sondern wegen des Fehlens einer Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Benutzung eines PKW zwischen Wohnort und Arbeitsplatz angewiesen. Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Augsburg vom 28. September 1989). Die zugelassene Berufung ist zurückgewiesen worden (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 15. Mai 1991): Werde die Benutzung eines Kfz für den Arbeitsweg unabhängig von den gesundheitlichen Einschränkungen im konkreten Fall schon durch das Hinzutreten sonstiger Gründe, insbesondere auch wegen fehlender oder unzureichender Verkehrsmittel, ungünstiger Fahrplangestaltung oder besonderer Arbeitszeiten erforderlich, so werde die Anschaffung eines Kfz nicht gefördert. Auch aus Gründen der Gleichbehandlung dürften Antragsteller mit verkehrsmäßig ungünstigem Wohnort nicht subventioniert werden.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, er sei als anerkannter Schwerbehinderter, der zudem in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sei, was durch das Merkzeichen "G" dokumentiert werde, stets auf ein Kfz angewiesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1991, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 28. September 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 1987 und deren Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger antragsgemäß die Förderung zum Erwerb eines Kraftfahrzeuges nach der Kraftfahrzeughilfeverordnung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Immer wenn ein Behinderter noch in der Lage sei, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, komme Kfz-Hilfe nicht in Betracht. Dann sei nämlich der Mangel an geeigneten öffentlichen Verkehrsmitteln und nicht etwa die Behinderung ausschlaggebend für die Benutzung des Kfz.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Sein Anspruch auf Hilfe zur Beschaffung eines Kfz kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, er sei nicht, wie das in § 3 Abs 1 Nr 1 der Verordnung über Kraftfahrzeughilfe zur beruflichen Rehabilitation (KfzHV) vom 28. September 1987 (BGBl I 2251) voraussetzt, "infolge seiner Behinderung" auf die Benutzung eines Kfz angewiesen, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen.

Das LSG hat festgestellt, der Kläger wäre auch ohne seine Behinderung allein wegen der verkehrsungünstigen Lage seiner Wohnung auf ein Kfz angewiesen. Aus dieser Feststellung ergebe sich, daß die Behinderung nicht als allein ursächlich für das Angewiesensein bewertet werden könne. Die alleinige Ursächlichkeit werde aber von § 3 Abs 1 Nr 1 KfzHV iVm den Motiven des Verordnungsgebers (BR-Drucks 266/87 S 15f) vorausgesetzt.

Diese Auffassung trifft nicht zu. Zwar ist die Feststellung, der Kläger sei auch als Gesunder auf ein Kraftfahrzeug angewiesen, für den Senat bindend. § 3 Abs 1 Nr 1 KfzHV verlangt aber nicht die - möglicherweise schlüssige - Kausalitätsbetrachtung, wie sie das LSG angestellt hat. Diese Vorschrift ist nicht so zu verstehen, daß Kfz-Hilfen nur zu gewähren wären, wenn nur die Behinderung und kein anderer Umstand Ursache für das Angewiesensein auf ein Kfz ist. Eine solche Auslegung verbietet sich schon im Hinblick auf die erkennbar nicht gewollten weittragenden Folgen: Alle Behinderten wären von der Kfz-Hilfe ausgeschlossen, die in Gegenden wohnen, die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln versorgt sind, auch Schwer- und Schwerstbehinderte, auch erheblich Gehbehinderte, selbst Gehunfähige. Das LSG hat diese Konsequenz seiner Auslegung, die weite Teile der Bundesrepublik betreffen könnte, erkannt, aber gemeint, der Verordnungsgeber habe diese Konsequenzen selbst gewollt und die Subventionierung Behinderter ausgeschlossen, die in Gegenden wohnen, wo die Benutzung von Kraftfahrzeugen ohnehin üblich ist.

Die Bundesregierung hat zwar bei Schaffung der Verordnung tatsächlich geäußert, daß die Formulierung "infolge der Behinderung" klarstellen solle, daß Hilfen nur gewährt werden dürfen, wenn die Behinderung alleinige Ursache für das Angewiesensein auf ein Kfz ist. Diese Äußerung hat für die Auslegung auch erhebliches Gewicht, weil sie mit dem Wortlaut der Verordnung durchaus vereinbar ist. Äußerung und Verordnungswortlaut sind aber nicht so zu verstehen, daß zwischen Behinderung und Angewiesensein die Kausalbeziehung bestehen müsse, die das LSG angenommen hat. Es soll nicht gesagt sein, daß andere Ursachen für die Notwendigkeit, ein Kfz zu benutzen, die Wirkung hätten, daß sie die sich aus der Behinderung ergebende Notwendigkeit verdrängen. Die Verordnung ist in Verbindung mit der Äußerung der Bundesregierung vielmehr so zu verstehen, daß die Behinderung so erheblich sein muß, daß sie allein geeignet ist, den Behinderten zur Benutzung eines Kfz zu zwingen. Bei diesem Verständnis gilt dies auch dann, wenn zusätzliche andere Gründe - etwa die ungünstige Verkehrs- oder Arbeitsmarktlage - zur Benutzung eines Pkw zwingen. Nur bei dieser Auslegung des Satzteils "infolge der Behinderung" steht § 3 Abs 1 Nr 1 KfzHV im Einklang mit dem Gesetz, das erheblich Gehbehinderten, denen das Merkmal "G" zuerkannt worden ist, Kfz-Steuerermäßigung gewährt (§ 3a Abs 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz ≪KfzStG≫). Denn das Gesetz gewährt diese Erleichterung zur Haltung eines Kfz auch dann, wenn schon andere Gründe als die Behinderung zu seiner Benutzung zwingen. Es besteht kein Anlaß anzunehmen, daß die KfzHV von einer anderen Grundeinstellung ausgeht als das KfzStG.

§ 3 Abs 1 Satz 1 KfzHV verlangt bei Behinderten, deren erhebliche Gehbeeinträchtigung durch das Versorgungsamt bereits festgestellt ist, nicht die Prüfung, ob der Behinderte auch ohne diese Behinderung auf ein Kfz angewiesen wäre. Bei Behinderten mit dem Merkzeichen "G" verlangt § 3 Abs 1 Satz 1 KfzHV lediglich im Einzelfall zu prüfen, ob sie tatsächlich auf ein Kfz angewiesen sind, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn es öffentliche Verkehrsverbindungen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz oder Beförderungsdienste des Arbeitgebers oder sonstige Transportmöglichkeiten gibt, die trotz der Behinderung benutzt werden können.

Im Vergleich zur bisherigen Praxis der Beklagten und anderer Rehabilitationsträger (vgl zur Rentenversicherung Götz, Mitteilungen der LVA Oberfranken und Mittelfranken 1989, 1, 4 und zur Unfallversicherung Trachte, BG 1988, 212 ff) wird der durch Kfz-Hilfe zu fördernde Personenkreis erweitert. Die Erweiterung beschränkt sich aber auf Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen "G", setzt voraus, daß sie keine anderen tatsächlich nutzbaren Möglichkeiten haben, ihren Arbeitsplatz zu erreichen und ändert nichts daran, daß auch diese Behinderten nur gefördert werden können, wenn sie nach dem Maßstab des § 6 KfzHV bedürftig sind.

Danach hat die Beklagte den Antrag des Klägers auf Zuschuß zur Beschaffung eines Kfz mit der von ihr gegebenen Begründung zu Unrecht abgelehnt. Der Kläger legt den Arbeitsweg "infolge seiner Behinderung" mit dem Kfz zurück. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat aber nicht möglich, weil das LSG nicht festgestellt hat, ob anderweitige, dem Kläger zumutbare Transportmöglichkeiten bestehen. Sollte das nicht der Fall sein, so bleibt weiter zu prüfen, ob die Voraussetzungen für Kfz-Hilfe im übrigen vorliegen (insbesondere: Einkommen des Klägers, § 6 KfzHV und Unzumutbarkeit weiterer Benutzung des vorhandenen Kfz, § 4 Abs 1 KfzHV). Das ist nachzuholen; es ist auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15403655

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