Tenor

Die Sprungrevision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 29. Oktober 1969 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Rechtsstreit wird in der Revision darum geführt; ob die dem Kläger – durch angenommenes Teilanerkenntnis während des Klageverfahrens – in Höhe der Vollrente gewährte Verletztenrente nach § 582 der Reichsversicherungsordnung (RVO) um 10 v.H. zu erhöhen ist.

Der im Jahre 1943 geborene, als Maschinenschlosser ausgebildete und beruflich tätige Kläger erlitt am 24. November 1966 einen Arbeitsunfall. Dieser hatte insbesondere eine – voraussichtlich noch weiter abklingende – Lähmung des Speichennerven des rechten Arms mit Streckschwäche der Finger und des Handgelenks sowie eine Muskelminderung am rechten Arm mit Beeinträchtigung der groben Kraft der Hand zur Folge.

Auf seinen im Oktober 1967 gestellten Antrag bewilligte ihm die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein vom 1. Oktober 1967 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit und im Anschluß daran vom 1. Januar 1969 an Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Die Beklagte hatte dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls, indem sie davon ausging, daß die Erwerbsunfähigkeit durch den Arbeitsunfall verursacht worden sei, ursprünglich ebenfalls erst vom 1. Oktober 1967 an eine vorläufige Rente, und zwar bis zum 5. Mai 1968 von 70 v.H. und sodann von 30 v.H. der Vollrente bewilligt. In dieser Höhe gewährte sie vom 24. November 1968 an auch die Dauerrente (Bescheid vom 25. November 1968). In dem vom Kläger anhängig gemachten Klageverfahren erklärte sich die Beklagte aufgrund des gerichtlichen Vergleichs vom 29. Oktober 1969 bereit; vom 24. November 1966 bis zum 30. September 1967 die Vollrente sowie anstelle der vorläufigen Rente von 30 v.H. eine solche von 50 v.H. der Vollrente zu gewähren und die Dauerrente auf 40 v.H. festzusetzen.

Da der Kläger aufgrund der Unfallfolgen voraussichtlich nicht mehr in der Lage ist, den erlernten Beruf eines Maschinenschlossers auszuüben, übernahm die Beklagte entsprechend dem Förderungsvorschlag des Arbeitsamts Kiel im Rahmen der Berufshilfe die Kosten einer insgesamt 2-jährigen Umschulung des Klägers zum kaufmännischen Angestellten. Der Kläger begann mit der schulischen Ausbildung am 2. Oktober 1968.

Durch den während des Klageverfahrens ergangenen und vom Kläger innerhalb der Monatsfrist angefochtenen Bescheid vom 9. Juni 1969 lehnte die Beklagte es ab, die für die Zeit vom 24. November 1966 bis 30. September 1967 aufgrund des o.a. Teilanerkenntnisses gewährte Vollrente nach § 582 RVO um 10 v.H. zu erhöhen, weil der Kläger in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sei; daß er von dieser während der genannten Zeit eine Rente erhalte, sei nicht erforderlich.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) Kiel am 29. Oktober 1969 war zuletzt nur noch dieser Bescheid Gegenstand des Rechtsstreits. Das SG hat durch Urteil von demselben Tag die Klage mit folgender Begründung abgewiesen:

Obwohl der Kläger in der Zeit vom 24. November 1966 bis zum 30. September 1967 infolge des Arbeitsunfalls keiner Erwerbstätigkeit mehr habe nachgehen können, habe er keinen Anspruch auf Rentenerhöhung nach § 582 RVO. Diese könnten, wie sich aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift ergebe, nur Personen beanspruchen, die keinen Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung hätten. Dies sei beim Kläger jedoch nicht der Fall.

Das SG hat die Berufung zugelassen.

Die – mit Einwilligung der Beklagten eingelegte – Sprungrevision ist wie folgt begründet: Der Kläger habe in dem strittigen Zeitraum aus der Rentenversicherung keine Rente erhalten. Allein darauf stelle der Wortlaut des Gesetzes ab. Aus der Gesetzesvorgeschichte ergebe sich nichts Gegenteiliges. Es müsse der freien Entschließung des in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten überlassen bleiben; ob er Antrag auf Versichertenrente stellen wolle. Einer rechtzeitigen Beantragung dieser Leistung stünden gewisse Schwierigkeiten entgegen; in der Regel werde ein Unfallverletzter zunächst nicht übersehen können, ob der Arbeitsunfall zu bleibenden Körperschäden führen werde, die den Anspruch auf eine Versichertenrente begründen könnten. Erhalte der Verletzte – wie hier – wegen § 1290 Abs. 2 RVO und bei einer Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit diese Leistung nicht vom sonst frühest möglichen Zeitpunkt an, werde dieser Nachteil durch die Zulage nach § 582 RVO ausgeglichen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 1969 aufzuheben und diese zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 24. November 1966 bis zum 30. September 1967 die Schwerverletztenzulage nach § 582 RVO zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Sprungrevision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. § 582 RVO habe im Gegensatz zu § 587 RVO Fälle im Auge, in denen auf die Dauer keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden könne.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG–).

II

Der Senat konnte unentschieden lassen, ob in der vorliegenden Sache das Rechtsmittel der Berufung ausgeschlossen ist; denn die Sprungrevision ist jedenfalls aufgrund des von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatzes des Vertrauensschutzes statthaft (BSG 2, 135, 139 ff; 3, 276, 277; 5, 140, 143).

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Nach § 582 RVO erhöht sich die Verletztenrente um 10 v.H., wenn ein Schwerverletzter infolge des Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit „nicht mehr nachgehen” kann und er keine Rente aus der Rentenversicherung erhält. Die Worte „nicht mehr” deuten darauf hin, daß der Verletzte überhaupt keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen kann (so zutreffend: Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 4 zu § 582 RVO). In diesem Sinn hat das Bundessozialgericht (BSG) die Vorschrift des § 582 RVO auch bereits gewürdigt. Denn der 2. Senat des BSG hat in seiner am 27. August 1969 zu § 587 RVO gefällten Entscheidung (BSG 30, 64, 69 ff) diese Vorschrift zu der – in der vorliegenden Sache in ihrer Anwendung strittigen – Vorschrift des § 582 RVO in Beziehung gesetzt. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, daß beide – zum Teil ähnliche Anspruchsvoraussetzungen aufweisende – Vorschriften sinnvoll nur nebeneinander bestehen, wenn im Falle des § 587 RVO nach den Umständen des Einzelfalles die Aussicht besteht, der Verletzte werde in absehbarer Zeit trotz seiner Unfallfolgen wieder eine Erwerbstätigkeit verrichten können (aaO S. 70); § 582 RVO wäre überflüssig, wenn der nach § 587 RVO begründete Leistungsanspruch ohne zeitliche Einschränkung gegeben wäre. Wenn in § 582 RVO u.a. vorausgesetzt wird, daß ein Schwerverletzter infolge des Arbeitsunfalls „einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen” kann, so ist damit, wie der 2. Senat des BSG in seiner o.a. Entscheidung zu erkennen gegeben hat, die dauernde Unfähigkeit umschrieben, d.h. an einen Verletzten gedacht, „dessen Erwerbsleben beendet ist” (aaO S. 69 unten). § 582 RVO will sonach einen wirtschaftlichen Ausgleich für die fehlende Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei – voraussichtlich – dauerndem Fehlen von Arbeitseinkommen, § 587 RVO hingegen einen solchen – sofern die übrigen anders gearteten Voraussetzungen vorliegen – bei vorübergehendem Fehlen von Arbeitseinkommen schaffen (gleicher Ansicht: Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 550 S. 1).

Dies ergibt sich auch aus dem Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (BT-Drucks. IV/938 (neu) – S. 13 zu § 581a –). Hier ist gesagt, daß Schwerverletzte „vielfach wieder einer Erwerbstätigkeit” nachgehen und dann keiner Zulage bedürfen.

Der Arbeitsunfall, den der Kläger am 24. November 1966 erlitten hat, hat jedoch nicht dazu geführt, daß der Kläger auf Dauer keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen kann. Aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls ist der Kläger nur zeitweise, nämlich etwas über 2 Jahre lang, erwerbsunfähig im Sinne von § 1247 RVO und im übrigen lediglich gehindert gewesen, seinen erlernten und ausgeübten Beruf eines Maschinenschlossers weiter auszuüben. Er hat sich ab 2. Oktober 1968 Umschulungsmaßnahmen, deren Kosten die Beklagte trägt, unterzogen, mit dem Ziel, künftig als kaufmännischer Angestellter erwerbstätig zu sein. Eine dauernde Unfähigkeit, durch eine berufliche Tätigkeit ein Arbeitseinkommen zu erzielen, hat der Arbeitsunfall somit nicht zur Folge gehabt.

Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es nicht mehr entscheidend darauf an; wie die Fassung: „und erhält er keine Rente aus den Rentenversicherungen…” auszulegen ist.

Da der Rechtsstreit allein darum geführt wird, ob § 582 RVO anzuwenden ist, ist die Sprungrevision nach alledem als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Maisch, Schroeder-Printzen, Dr. Kaiser

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 20.08.1973 durch Schuppelius Regierungshauptsekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

BSGE, 96

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