Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Juli 1972 aufgehoben, soweit es über die Kosten entschieden sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. November 1970 geändert und diese verurteilt hat, die Verletztenrente des Klägers um 10 v.H. zu erhöhen. Auch insoweit wird die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Im Revisionsverfahren ist nur noch streitig, ob die dem Kläger durch den – während des zweiten Rechtszugs erteilten – Bescheid vom 10. November 1970 für die Zeit vom 8. August 1968 bis 28. Februar 1969 in Höhe der Vollrente gewährte Verletztenrente nach § 582 der Reichsversicherungsordnung (RVO) um 10 v.H. zu erhöhen ist.

Die Beklagte gewährte diese Rente vom Tag des Arbeitsunfalls an, weil sie davon ausgeht, daß der im Jahre 1907 geborene Kläger durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom 8. August 1968 erwerbsunfähig im Sinne von § 1247 RVO geworden ist. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte hatte dem Kläger auf seinen im März 1969 gestellten Antrag vom 1. März 1969 an Rente wegen Berufsunfähigkeit bewilligt, war dann aber verurteilt worden, an deren Stelle Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Seit dem 1. März 1969 erhält der Kläger von der Beklagten Verletztenrente von 50 v.H. der Vollrente (Bescheid vom 12. August 1969).

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Itzehoe durch Urteil vom 13. April 1970 – bei Klagabweisung im übrigen – die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. März bis 11. Juni 1969 (anstelle der Verletztenrente) ein Verletztengeld zu gewähren. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 11. Juli 1972 auf die Berufung der Beklagten die Entscheidung des Erstgerichts geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Auf die Anschlußberufung des Klägers hat es unter Änderung des Bescheides der Beklagten vom 10. November 1970 diese verurteilt, die für die Zeit vom 8. August 1968 bis 28. Februar 1969 gewährte Vollrente um 10 v.H. zu erhöhen.

Zur Begründung hat das Berufungsgericht insoweit ausgeführt: Die Anschlußberufung sei im Hinblick auf § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage gegen den Bescheid vom 10. November 1970 anzusehen, weil dieser den Bescheid vom 12. August 1969 geändert habe. Jener Bescheid sei teilweise rechtswidrig, denn die für die Zeit von 8. August 1968 bis 28. Februar 1969 gewährte Vollrente sei nach. § 582 RVO um 10 v.H. zu erhöhen. Der Kläger sei Schwerverletzter und habe in dieser Zeit infolge des Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen können. In diesem Zeitraum habe er keine Rente aus einer der gesetzlichen Rentenversicherungen bezogen. Die Ansicht der Beklagten, § 582 RVO komme nur den Schwerverletzten zugute, die in einer gesetzlichen Rentenversicherung weder pflicht- noch freiwillig versichert seien, finde im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze; die Gesetzesvorgeschichte zwinge zu keiner anderen Auslegung. Es sei auch rechtlich unerheblich, daß dem Kläger nach § 67 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wegen verspäteter Antragstellung die Erwerbsunfähigkeitsrente erst vom 1. März 1969 an zustehe. § 582 RVO stelle auf den Bezug einer Versichertenrente und nicht auf das Bestehen eines Anspruchs auf diese Leistung ab. Im übrigen treffe den Kläger kein Verschulden an der verspäteten Antragstellung.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Aus der Entstehungsgeschichte des § 582 RVO ergebe sich eindeutig, daß nur diejenigen Verletzten einen Anspruch auf Rentenerhöhung nach dieser Vorschrift hätten, denen überhaupt kein Anspruch auf Rente gegen einen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zustehe. Der Kläger habe jedoch einen solchen Anspruch. Ihm habe die Erwerbsunfähigkeitsrente lediglich wegen verspäteter Antragstellung nicht von Anfang an gewährt werden dürfen. Es komme nicht darauf an, ob den Versicherten hierbei ein Verschulden treffe. Aus dem Antragsprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung und schließlich auch aus § 183 Abs. 7 RVO ergebe sich, daß ein Versicherter zur Vermeidung von Rechtsnachteilen rechtzeitig alles tun müsse, um die ihm zustehenden Leistungen zu erlangen. Es sei nicht Aufgabe der Unfallversicherungsträger, Rechtsnachteile, die dem Verletzten hierdurch entstanden seien, auf dem Wege über § 582 RVO auszugleichen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

  • das Urteil des LSG abzuändern und die gegen den Bescheid vom 10. November 1970 gerichtete Klage abzuweisen,
  • hilfsweise,

    die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Nach § 582 RVO erhöht sich die Verletztenrente eines Schwerverletzten um 10 v.H., wenn dieser infolge des Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann und keine Rente aus den Rentenversicherungen der Arbeiter oder der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung erhält. Die Worte in § 582 RVO „und erhält er keine Rente aus den Rentenversicherungen …” sind ganz abstrakt gewählt und schließen nach ihrem unmittelbaren Wortsinn Verletzte von der Rentenerhöhung aus, die eine der genannten Versichertenrenten erhalten. Das LSG legt diese Vorschrift im Ergebnis aber dahin aus, als ob sie bestimme, die Verletztenrente sei zu erhöhen, „solange” der Schwerverletzte keine Rente aus einer der gesetzlichen Rentenversicherungen bezieht. Auf das mit einer solchen Vokabel zum Ausdruck gebrachte Erfordernis der Gleichzeitigkeit zwischen Anspruchsvoraussetzung und Leistungsdauer (s. BSG 30, 64, 66) stellen verschiedene Vorschriften aus dem Leistungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) ab (vgl. beispielsweise §§ 558 Abs. 1, 560 Abs. 1 Satz 1, 581 Abs. 1, 583 Abs. 1, 587 Abs. 1, 590 Abs. 2 Satz 1 RVO),nicht jedoch § 582 RVO. Da der Gesetzgeber den Ausdruck „solange” danach im Leistungsrecht der UV bewußt verwendet hat, spricht die Tatsache, daß er ihn in § 582 RVO nicht benutzte, gegen die vom LSG für richtig gehaltene Auslegung dieser Vorschrift. Daß es sich insoweit auch nicht etwa um ein Versehen des Gesetzgebers handelt, ergibt sich aus der Gesetzesvorgeschichte. § 582 RVO ist durch den Sozialpolitischen Ausschuß des Bundestags in das Gesetz eingefügt worden. Im Bericht des Ausschusses – BT-Drucks. IV/938 (neu) S. 13 (vgl. auch S. 58) zu § 581 a (in der endgültigen Fassung des Gesetzes § 582) – heißt es u.a.:

„Die von der Fraktion der CDU/CSU beantragte Vorschrift wurde einmütig gebilligt, nachdem der weitergehende Antrag der Fraktion der SPD auf Gewährung von Schwerstverletztenzulage (§ 581) abgelehnt worden war. Auch Schwerverletzte gehen vielfach wieder einer Erwerbstätigkeit nach und bedürfen dann keiner höheren Entschädigung, als sie § 581 vorsieht.

Anders liegen die Verhältnisse, wenn infolge des Unfalls keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden kann. Gehört der Verletzte der Rentenversicherung an, wird er von dort die Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten. Hat er keinen Anspruch auf diese Rente, etwa weil er bereits vor dem Eintritt in die Rentenversicherung verunglückt ist oder ihr als Selbständiger nicht angehört hat, schafft die hier beschlossene Vorschrift einen gewissen Ausgleich.”

Dieser „Ausgleich” sollte sonach nur denjenigen zugute kommen, die entweder der Rentenversicherung nicht angehören oder Jedenfalls „keinen Anspruch” auf eine Versichertenrente haben.

Daß dies der Sinn des § 582 RVO ist, ergibt sich auch aus den Diskussionen während der 2. und 3. Beratung des Entwurfs des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes im Plenum des Bundestags (Stenografischer Bericht über die 62. Sitzung des Bundestags vom 6. März 1963, S. 2820, 2837 ff.). Hiernach sollte nur die Verletztenrente derjenigen Schwerverletzten erhöht werden, die keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zahlen (S. 2838), d.h. keine Altersvorsorge getroffen haben (S. 2837 und 2839), also allein von der Verletztenrente leben müssen (S. 2840). Die 10%ige Verbesserung der Unfallrente sollte bewußt auf diejenigen begrenzt werden, die „keinen Anspruch auf Sozialrente … haben, sondern nur einen Anspruch auf die Unfallrente” (S. 2838). Durch die Erhöhung der Verletztenrente um 10 v.H. sollte ein nicht rentenversicherter Verletzter, der durch einen Arbeitsunfall seine Erwerbsfähigkeit verloren hat (s. § 581 Abs. 1 Nr. 1 RVO), an die aufgrund der Ruhensvorschriften (§§ 1278 Abs. 1 RVO, 55 Abs. 1 AVG) maßgebliche 85 v.H.-Grenze (des der Verletztenrente zugrunde liegenden Jahresarbeitsverdienstes oder der Rentenbemessungsgrundlage der Versichertenrente) herangeführt werden (S. 2839). Dieser Wille der gesetzgebenden Körperschaft hat im Gesetzeswortlaut einen hinreichenden Ausdruck dahin gefunden, daß als wesentliche Voraussetzung der Rentenerhöhung um 10 v.H. bestimmt worden ist, daß der Schwerverletzte keine Rente aus einer der gesetzlichen Rentenversicherungen „erhält”. Er ist deshalb bei der richterlichen Rechtsanwendung unterstützend zu berücksichtigen (s. dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15.8.1972, Band I, S. 190 p IV mit Nachweisen). Der Gesetzgeber ist ersichtlich davon ausgegangen, daß ein Schwerverletzter, der infolge eines Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann und einer der gesetzlichen Rentenversicherungen angehört, im Hinblick auf § 1252 Abs. 1 Nr. 1 RVO (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AVG, § 52 Abs. 1 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes – RKG–) auch bei Erwerbsunfähigkeit auf jeden Fall die Wartezeit erfüllt hat (s. dazu RVO-Verbandskommentar, 6. Aufl., Anm. 2 zu § 1252; AVG-Kommentar von Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, 2.-3. Aufl., Band IV, Anm. B II zu § 29) und ihm daher ein Anspruch auf Versichertenrente zusteht. Er hat somit nicht Schwerverletzte in die Vorschrift einbeziehen wollen, die – wie der Kläger – lediglich infolge verspäteter Rentenantragstellung die Versichertenrente nach § 1290 Abs. 2 RVO (§ 67 Abs. 2 AVG, § 82 Abs. 2 RKG) erst von einem späteren Zeitpunkt an erhalten können.

Die vom Berufungsgericht für Rechtens gehaltene Auslegung würde überdies seit der Änderung des § 1290 Abs. 1 RVO (§ 67 Abs. 1 AVG, § 82 Abs. 1 RKG) mit Wirkung vom 1. Januar 1968 durch das Finanz-Änderungsgesetz 1967 (BGBl I S. 1259), wonach Versichertenrente in der Kegel vom Ablauf des Monats an beginnen, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, dazu führen, daß bei allen Schwerverletzten, die infolge des Arbeitsunfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können, jedenfalls die für die Zeit vom Tag des Arbeitsunfalls bis zum Ende des Unfallmonats zustehende Verletztenrente – und sei es auch nur für einen Tag – auch dann um 10 v.H. erhöht werden müßte, wenn sie zum frühest möglichen Zeitpunkt Versichertenrente beantragt haben und auch eine solche beziehen. Dies ist jedoch ersichtlich nicht der Sinn der Vorschrift. Sie soll nach ihrem Zweck auch nicht etwa einen Ausgleich durch den Träger der UV herbeiführen, wenn der Bezieher einer Berufsunfähigkeitsrente sich ohne triftigen Grund einer ärztlichen Nachuntersuchung oder Beobachtung entzieht und ihm deshalb der Rentenversicherungsträger nach § 1287 RVO die Rente auf Zeit versagt. Das LSG müßte hingegen auch in einem solchen Fall einen Anspruch auf Rentenerhöhung nach § 582 RVO einräumen.

Da der Kläger aus einer der gesetzlichen Rentenversicherungen eine Rente – wenn auch nicht vom frühest möglichen Zeitpunkt an – bezieht, gehört er nicht zu dem Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers durch § 582 RVO begünstigt werden sollte (gleicher Ansicht: Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 550 S. 1; Vollmar, BG 1966, 111, 113 und wohl auch Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand Juli 1972, Anm. 5 zu § 582).

Das Urteil des Berufungsgerichts war deshalb aufzuheben, soweit es den Bescheid der Beklagten vom 10. November 1970, der gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, geändert und diese verurteilt hat, die für die Zeit vom 8. August 1968 bis 28. Februar 1969 gewährte Verletztenrente um 10 v.H. zu erhöhen. Insoweit war die Klage (vgl. BSG 18, 231, 234 ff.) abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Maisch, Schroeder-Printzen, Dr. Kaiser

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 21.08.1973 durch Schuppelius Reg.Hauptsekretär als Urk.Beamter d. Gesch.Stelle

 

Fundstellen

BSGE, 104

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