Entscheidungsstichwort (Thema)

Neufeststellung nach gerichtlichem Vergleich. Änderung der Rechtsprechung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Neufeststellung des JAV gemäß RVO § 627 kann auch dann erfolgen, wenn der JAV in einem zwischen den Beteiligten geschlossenen Prozeßvergleich festgesetzt worden ist. Die Änderung der Überzeugung kann nicht nur auf Gründen tatsächlicher oder rechtlicher Art beruhen, sondern kommt auch dann in Betracht, wenn sich nach der letzten bindenden Feststellung eine Rechtsprechung gebildet oder die bisherige Rechtsprechung geändert hat, mit der die frühere Feststellung nicht im Einklang steht.

2. Eine Rechtsprechung, welche die Überzeugung des Versicherungsträgers in einer bestimmten Richtung festzulegen geeignet ist, liegt aber nur dann vor, wenn sie als gesichert anzusehen ist.

3. Eine gesicherte Rechtsprechung liegt vor, wenn entweder der für die zu entscheidende Rechtsfrage einzige Senat des BSG wiederholt im selben Sinne entschieden hat oder wenigstens zwei verschiedene Senate des BSG die streitige Rechtsfrage übereinstimmend beantwortet haben.

 

Normenkette

RVO § 627 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 29.09.1976; Aktenzeichen S 18 U 203/75)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. September 1976 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der am 26. April 1924 geborene Kläger befindet sich seit November 1957 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte gewährt ihm wegen der Folgen eines am 14. September 1941 in O erlittenen Arbeitsunfalls aufgrund eines vor dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen am 22. Oktober 1963 geschlossenen Vergleichs ab 1. Februar 1958 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vH. Der Rentenberechnung wurde nach § 565 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) aF als Jahresarbeitsverdienst (JAV) der Tariflohn eines Facharbeiters von 25 Jahren aus dem Kfz-Gewerbe von 1.680,- DM zugrunde gelegt (Ausführungsbescheid vom 27. April 1964). Der Kläger begehrte, die Rente nach einem höheren JAV festzusetzen. Durch weiteren Vergleich vor dem LSG Nordrhein-Westfalen vom 7. April 1966 verpflichtete sich die Beklagte, der Rentenberechnung einen JAV von 2.184,- DM zugrunde zu legen, wobei sie von einem Stundenlohn von 0,91 DM ausging (Ausführungsbescheid vom 3. Mai 1966). Später wurde die Rente vom 25. November 1957 an, dem Tag der Begründung eines Wohnsitzes des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland, gewährt (Bescheid vom 16. September 1966).

Am 2. Dezember 1974 beantragte der Kläger, den der Rentenberechnung zugrunde liegenden JAV von Anfang an neu festzustellen und dabei die tariflichen Steigerungen nach Berufsjahren bis zur Vollendung seines dreißigsten Lebensjahres (26. April 1954) zu berücksichtigen. Zur Begründung seines Antrags bezog sich der Kläger ua auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. September 1971 - 5 RKnU 32/68 -. Durch Bescheid vom 15. April 1975 lehnte die Beklagte den Antrag auf Neufeststellung gemäß § 627 RVO ab, weil sie sich nach erneuter Prüfung nicht davon habe überzeugen können, daß der der Rentenberechnung des Klägers zugrunde gelegte JAV unrichtig sei. Der JAV von 2.184,- DM beruhe auf dem vor dem LSG Nordrhein-Westfalen abgeschlossenen Vergleich vom 7. April 1966. Dabei handelt es sich um einen Tariflohn, der nach einer vom Kläger vorgelegten Bescheinigung des Statistischen Bundesamts für Facharbeiter in Kfz-Werkstätten im Jahre 1943 (Beendigung der Lehre des Klägers) vom 6. Gesellenjahr an Geltung gehabt habe. Lohnsteigerungen über das 6. Gesellenjahr hinaus seien nicht vorgesehen gewesen. Über diesen Lohn hinausgehende, vom Kläger selbst errechnete fiktive Beträge, könnten bei der Berechnung des JAV keine Berücksichtigung finden. Somit sei das vom Kläger angeführte Urteil des BSG vom 10. September 1971 im vorliegenden Fall vollauf berücksichtigt worden. Der Widerspruch des Klägers wurde mit seiner Zustimmung durch Beschluß der Widerspruchsstelle vom 29. August 1975 gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) dem Sozialgericht (SG) als Klage zugeleitet.

Der Kläger hat beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 15. April 1975 in der Fassung des Beschlusses vom 29. August 1975 aufzuheben. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 29. September 1976 abgewiesen und durch Beschluß des Kammervorsitzenden vom 22. November 1976 die Revision zugelassen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Streitobjekt sei die Frage, ob im Rahmen einer erneuten Überprüfung im Sinne des § 627 RVO die Beklagte sich bei der Erteilung des Bescheides vom 15. April 1975 eines Ermessensmißbrauchs schuldig gemacht habe. Dies besage, daß das Gericht nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Beklagten setzen könne. In der Sache sei streitig, ob der Kläger, der bereits so gestellt worden sei, als ob er den Höchstlohn erreicht habe, nach § 565 RVO aF noch weiter bessergestellt werden könne, weil spätere Tarifverträge, die vor Abschluß des dreißigsten Lebensjahres des Klägers in Kraft getreten seien, eine Neufeststellung zwingend erforderten. Die Beteiligten seien sich insofern offensichtlich darüber einig, daß diese Frage in der Vergangenheit nicht geklärt worden sei und daß es deshalb zu dem in Rede stehenden Vergleich gekommen sei, auf dem die jetzige Rentenzahlung an den Kläger beruhe. Damit entstehe die Frage, ob die Beklagte sich eines Ermessensmißbrauchs schuldig mache, wenn sie es ablehne, eine aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs gezahlte Rente wegen später vorgebrachter Argumente im Rahmen einer erneuten Überprüfung zu ändern. Nach Auffassung des SG sei es gerade Sinn eines Vergleichs, bestehende Unklarheiten auszuräumen und - soweit im öffentlichen Recht überhaupt ein Vergleich möglich sei - diese Unsicherheit durch Schaffung eines entsprechenden Titels zu beseitigen. Dennoch könnte die Beklagte verpflichtet sein, im Rahmen einer erneuten Überprüfung auf ihr durch den Vergleich erworbenes Recht zu verzichten. Sie könnte sich eines Ermessensmißbrauchs schuldig machen, wenn sie sich einer gefestigten Rechtsprechung der höchsten deutschen Gerichte nicht beuge und sich weigere, diese Rechtsprechung auf Fälle wie den vorliegenden anzuwenden. Damit entstehe die Frage, ob ein Urteil eines Senats des BSG ausreiche, um von einer ständigen gefestigten Rechtsprechung sprechen zu können. Aber selbst wenn hiervon ausgegangen werde, ergebe sich aus dem Urteil des BSG vom 10. September 1971 - 5 RKnU 32/68 - noch nicht, daß es eindeutig zugunsten des Klägers spreche. Das BSG sei der Auffassung, daß gemäß § 565 RVO aF auch solche Lohnerhöhungen zu berücksichtigen seien, die nach Abschluß der Berufsausbildung bis zur Vollendung des dreißigsten Lebensjahres des Verletzten wegen der Zahl der Lebens- oder Berufsjahre allgemein festgesetzt seien. Damit seien, so hat das SG ausgeführt, jene Erhöhungen gemeint, die gleichsam automatisch nach Zurücklegung eines weiteren Gesellenjahres bis zur Obergrenze zu gewähren seien. Diese Erhöhungen habe die Beklagte berücksichtigt. Das SG neige zu der Ansicht, daß nach dem Urteil des BSG vom 10. September 1971 vor Vollendung des dreißigsten Lebensjahres in Kraft getretene Tariferhöhungen anzurechnen seien. Es lasse sich aber nicht die Möglichkeit ausschließen, daß das BSG nur solche Verbesserungen habe anrechnen wollen, die, bezogen auf den vorliegenden Fall, dem Kläger tatsächlich gewährt worden seien, während die Frage der allgemeinen prozentualen Lohnerhöhungen hier überhaupt nicht berührt worden seien. Allein das Vorhandensein einer solchen Möglichkeit genüge, um festzustellen, daß die Beklagte sich eines echten Ermessensmißbrauchs nicht schuldig gemacht habe. Da ein Ermessensmißbrauch nicht festgestellt werden könne, sei es nicht möglich gewesen, im Sinne des Antrags des Klägers zu entscheiden.

Dagegen wendet sich der Kläger mit der Revision. Er rügt Verletzungen der §§ 565 RVO aF und 627 RVO. Die Beklagte wäre im Hinblick auf das Urteil des BSG vom 10. September 1971 verpflichtet gewesen, auf ihre Rechte aus dem Vergleich vom 7. April 1966 zu verzichten. Nach diesem Urteil seien nach § 565 RVO aF auch vor Vollendung des dreißigsten Lebensjahres eingetretene Tariferhöhungen zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des SG Düsseldorf vom 29. September 1976 sowie des Bescheides vom 15. April 1975 idF des Beschlusses vom 29. August 1975 die Beklagte zu verurteilen, über den von ihm geltend gemachten Anspruch unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Der Zulassungsbeschluß des SG vom 22. November 1976 sei fehlerhaft, denn es sei nur vom Vorsitzenden allein erlassen worden. Nach der Rechtsprechung des BSG sei die Zulassung der Sprungrevision aber noch als wirksam anzusehen, sofern der Beschluß, wie hier, vor dem 1. Januar 1977 ergangen sei. In der Sache habe das SG nicht geprüft, was es mit den erörterten Lohnerhöhungen auf sich habe. Von ihm sei lediglich entschieden worden, ob ihr Beharren auf den Vergleich vom 7. April 1966 einen Ermessensmißbrauch darstelle. Diese Frage sei vom SG mit zutreffender Begründung verneint worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft. Der Beschluß über die nachträgliche Zulassung der Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Satz 1 SGG) ist zwar allein von dem Vorsitzenden der Kammer des SG erlassen worden, der erkennende Senat hält ihn jedoch für wirksam, da er vor Ablauf einer bis zum 31. Dezember 1976 zu bemessenden Übergangszeit ergangen ist (BSG SozR 1500 § 161 Nr 12 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung des BSG).

Die Revision des Klägers ist aber nicht begründet. Unbeschadet des Umstandes, daß weder dem angefochtenen Urteil noch dem Revisionsvorbringen des Klägers entnommen werden kann, welche weiteren Lohnbeträge nach Meinung des Klägers von der Beklagten bei der Festsetzung des JAV zu berücksichtigen seien, ist der Anspruch auf Neufeststellung nicht begründet.

Nach § 627 RVO hat der Versicherungsträger, wenn es sich bei erneuter Überprüfung überzeugt, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden ist, diese neu festzustellen. Die Höhe des der Berechnung der Rente des Klägers zugrunde liegenden JAV beruht auf dem gerichtlichen Vergleich vom 7. April 1966. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, ist die Festsetzung des JAV als gesonderte Feststellung der Bindungswirkung zugänglich (SozR § 570 RVO Nr 1). Sie kann daher grundsätzlich auch Gegenstand einer erneuten Überprüfung nach § 627 RVO sein. Das gleiche gilt, wenn der JAV nicht durch Verwaltungsakt (Bescheid), sondern durch einen Prozeßvergleich festgestellt worden ist. § 627 RVO gehört zu den Vorschriften, aufgrund deren die materielle Rechtsverbindlichkeit eines Verwaltungsaktes (§ 77 SGG), aber auch die Rechtskraft eines Urteils (§ 141 SGG) durchbrochen werden kann, und zwar zugunsten des Berechtigten. Daher hat die Rechtsprechung von jeher eine Neufeststellung nach § 627 RVO (oder nach den ihm vergleichbaren § 1300 RVO und § 79 AVG) auch dann für zulässig erachtet, wenn die vorausgegangene Ablehnung, Entziehung oder Einstellung der Leistung nicht durch Verwaltungsakt, sondern durch rechtskräftiges Urteil erfolgt war (BSGE 13, 181, 186; 19, 164, 168; 26, 89, 90; 33, 276, 277; SozR § 93 RKG Nr 1; SozR 1300 RVO Nr 12; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl S 606 d und 728 i). Dieser Auffassung liegt die Erwägung zugrunde, daß die Prinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens hinter dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit zurücktreten müssen, wenn der Versicherungsträger von der Unrechtmäßigkeit der früheren Feststellung überzeugt ist oder als überzeugt zu gelten hat, weil die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß der Versicherungsträger dies bei der erneuten Überprüfung hätte erkennen müssen (vgl BSGE 19, 38, 44; 28, 173, 175). Die gleichen Erwägungen müssen auch dann maßgebend sein, wenn das gerichtliche Verfahren nicht durch ein rechtskräftiges Urteil, sondern durch einen Prozeßvergleich beendet worden ist (für das Gebiet der Kriegsopferversorgung vgl BSG SozR 3900 § 40 Nr 2).

Die Änderung der Überzeugung des Versicherungsträgers kann nicht nur auf Gründen tatsächlicher Art, sondern auch auf Gründen rechtlicher Art beruhen (BSGE 26, 89, 91; SozR § 93 RKG Nr 1). Eine neue Feststellung kommt auch dann in Betracht, wenn sich nach der letzten bindenden Feststellung eine Rechtsprechung gebildet oder eine vorhandene Rechtsprechung geändert hat, mit der die frühere Feststellung nicht im Einklang steht (BSGE 26, 89, 91; 28, 141, 142; 33, 276, 278; 36, 120, 123). Eine Rechtsprechung, welche die Überzeugung des Versicherungsträgers in einer bestimmten Richtung festzulegen geeignet ist, liegt aber nur dann vor, wenn sie als gesichert anzusehen ist (BSGE 19, 38, 44; 26, 89, 92). Dies ist hier hinsichtlich der Auslegung des § 565 RVO aF nicht der Fall. Das vom Kläger zur Stützung seiner Meinung in Anspruch genommene Urteil des BSG vom 10. September 1971 - 5 RKnU 32/68 - ist, soweit bekannt, das einzige Urteil, in dem die Auffassung vertreten wird, daß nach § 565 RVO aF bei der Festsetzung des JAV auch solche Lohnerhöhungen zu berücksichtigen seien, die wegen der Zahl der Lebens- oder Berufsjahre erst nach Abschluß der Ausbildung bis zur Vollendung des dreißigsten Lebensjahres in Kraft getreten sind. Demgegenüber wird in der Literatur die Meinung vertreten, daß nur diejenigen Tarifsätze maßgebend seien, die beim Abschluß der Ausbildung des Verletzten bereits in Kraft waren (vgl Jantz AN 1942, 209, 214; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 2. Aufl, Teil 2 S 13; ders BG 1952, 250, 252; Zeihe SozVers 1959, 165; Brackmann aaO S 572 i). Das vom 5. Senat nicht veröffentlichte Urteil hat sich in der Praxis nicht durchgesetzt. Eine gesicherte Rechtsprechung hat sich zu dieser Rechtsfrage nicht gebildet. Sie liegt nur vor, wenn entweder der für die zu entscheidende Rechtsfrage einzige Senat des BSG wiederholt im selben Sinne entschieden hat oder wenigstens zwei verschiedene Senate des BSG die streitige Rechtsfrage übereinstimmend beantwortet haben. Für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung und damit für die Auslegung des § 565 RVO aF sind neben dem 5. Senat (Unfallversicherung für den Bergbau) auch noch der 2. und 8. Senat zuständig. Die beiden zuletzt genannten Senate haben sich zur Auslegung des § 565 RVO aF, soweit es die hier streitige Rechtsfrage betrifft, nicht geäußert. Unter diesen Umständen brauchte sich die Beklagte durch die im Urteil des 5. Senats zum Ausdruck gekommenen Rechtsauffassung nicht von der Unrechtmäßigkeit des der Berechnung der Rente des Klägers durch Prozeßvergleich zugrunde gelegten JAV zu überzeugen (vgl BSG, Urteil vom 27. Mai 1977 - 5 RKnU 8/76 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655259

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