Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen sich der Versicherungsträger bei erneuter Prüfung eines bindend abgelehnten Leistungsantrags überzeugen muß, daß die Leistung zu Unrecht abgelehnt worden ist, falls nur einer von mehreren für das Rechtsgebiet zuständigen Senaten des BSG die maßgebende Rechtsfrage anders entschieden hat.

2. Zur Frage, welcher JAV der Berechnung der Versichertenrente zugrunde zu legen ist, wenn der Versicherte bei Ausübung seines 1. Berufs, dessen Ausbildung bereits beendet war, jedoch während der Ausbildung zu einem 2. Beruf einen Arbeitsunfall (Berufskrankheit) erleidet.

 

Normenkette

SGG § 73 Fassung: 1953-09-03; RVO § 563 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1949-08-10, § 565 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 570 Fassung: 1963-04-30, § 571 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 573 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 619 Fassung: 1924-12-15, § 627 Fassung: 1963-04-30; BKVO 3 § 3 Abs. 3 Fassung: 1936-12-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 06.04.1976; Aktenzeichen L 15 BU 70/74)

SG Dortmund (Entscheidung vom 10.10.1974; Aktenzeichen S 23 BU 142/73)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. April 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Höhe der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, insbesondere die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

Der Ehemann der Klägerin war bis August 1928 im Siegerländer Erzbergbau als Hauer tätig. Danach besuchte er das Predigerseminar des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden. Während der Semesterferien arbeitete er wieder als Hauer, zuletzt am 5. Januar 1929. Nach Beendigung der Ausbildung im Juli 1932 war er als Prediger tätig.

Nachdem der Ehemann der Klägerin 1950 in der DDR an einer Lungentuberkulose erkrankt war, gewährte ihm die Beklagte nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik mit Bescheid vom 13. Mai 1953 die Verletztenvollrente wegen einer Siliko-Tuberkulose. Als JAV setzte sie den auf den 5. Januar 1929 bezogenen 300fachen Betrag des durchschnittlichen Verdienstes für den vollen Arbeitstag im Unternehmen von 8,03 DM mit 2.409,- DM fest.

Der Ehemann der Klägerin starb am 24. Januar 1957 an den Folgen der Berufskrankheit. Die Beklagte gewährte der Klägerin und ihren Kindern mit Bescheid vom 23. Mai 1957 die Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Den JAV setzte sie - ebenso wie bei dem verstorbenen Versicherten - mit 2.409,- DM fest. Dieser Bescheid ist bindend geworden.

Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 16. Mai 1972 die Neufeststellung der Witwenrente gemäß § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Berücksichtigung der Ausbildung des Versicherten zum Prediger. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Juni 1973 ab, weil sich keine Anhaltspunkte für eine andere Berechnung des JAV ergäben. Die Klägerin hat diesen Bescheid mit dem Widerspruch angefochten, den die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Bescheid vom 27. Juli 1973 als unzulässig abgelehnt hat, weil es sich nicht um eine Überprüfung nach § 627 RVO handele.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 10. Oktober 1974 abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung mit dem Antrag eingelegt, unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung und unter teilweiser Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 23. Mai 1957 sowie unter Aufhebung der Bescheide vom 18. Juni 1973 und vom 27. Juli 1973 die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung der Witwenrente der Klägerin als JAV das Gehalt eines Geistlichen der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland (Gehalt eines Volksschullehrers) zugrunde zu legen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 6. April 1976 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Berechnung des JAV könne nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 619 RVO aF und des § 627 RVO nF nachgeprüft werden. Die Feststellung des JAV mit Bescheid vom 23. Mai 1957 sei gemäß § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend geworden. An dieser Bindungswirkung habe sich durch die späteren Umstellungen und Erhöhungen nach den Rentenanpassungsgesetzen nichts geändert. Auch § 565 aF und § 573 nF ständen der Bindungswirkung nicht entgegen, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Schul- oder Berufsausbildung bereits bei der Erteilung des bindend gewordenen Bescheides beendet gewesen sei. Es handele sich bei dem angefochtenen Bescheid der Beklagten auch nicht um einen sogenannten Zweitbescheid, der den Rechtsweg eröffne und eine volle Nachprüfung ermögliche. Der Bescheid bezeichne sich selbst ausdrücklich und unmißverständlich als Bescheid über Ablehnung und Neufeststellung des JAV nach Überprüfung gemäß § 627 RVO. Die Beklagte brauche sich von der Unrichtigkeit des bindend festgestellten JAV nicht zu überzeugen. Zwar habe der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden, daß zwischen der Ausbildung und der zum Unfall führenden Arbeit kein innerer, sondern nur ein zeitlicher Zusammenhang zu bestehen brauche (SozR 2200 Nr. 2 zu § 573). Dabei handele es sich aber noch nicht um eine gesicherte, ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, die zur Überzeugungsbildung der Beklagten führen müsse. Die Beklagte könne sich für ihre Ansicht, daß zwischen der zum Unfall bzw zur Berufskrankheit führenden Arbeit und der Ausbildung ein innerer Zusammenhang bestehen müsse, auf eine gewichtige Meinung im Schrifttum berufen, deren Hauptvertreter sich auch zur Entscheidung des 8. Senats des BSG kritisch und ablehnend geäußert hätten (vgl Wickenhagen in SGb 1975, 187; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Bd. I, Stand Oktober 1975, Anm 6 f zu § 573 RVO). Da der JAV gemäß § 563 RVO aF berechnet worden sei, komme eine Neufeststellung nach billigem Ermessen iS des § 566 RVO aF nicht in Betracht.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, es komme nicht darauf an, ob die Beklagte sich von der Unrichtigkeit des Bescheides vom 23. Mai 1957 überzeuge oder überzeugen müsse. Bei dem Bescheid der Beklagten vom 18. Juni 1973 handele es sich um einen Zweitbescheid, der den Rechtsweg in vollem Umfang eröffne und eine volle Nachprüfung der Berechnung des JAV ermögliche. Nach der Rechtsprechung des BSG komme es für die Berechnung des JAV nicht auf den inneren Zusammenhang zwischen der Ausbildung und der zum Unfall bzw zur Berufskrankheit führenden Arbeit an.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 18. Juni 1973 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 1973 nach dem Klageantrag zu verurteilen;

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet. Da schon das Berufungsgericht der vom BSG vertretenen Ansicht zu § 573 RVO nicht folge, brauche sich der Versicherungsträger erst recht nicht davon zu überzeugen, daß die von ihm vertretene und in der Literatur bestätigte Ansicht offensichtlich unrichtig sei.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat durch die Zurückweisung der Berufung mit Recht das die Klage abweisende Urteil des SG bestätigt.

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berechnung des JAV im Bescheid der Beklagten vom 23. Mai 1957 nicht in vollem Umfang, sondern nur in den Grenzen des § 619 RVO aF, § 627 RVO nF nachgeprüft werden kann. Die Feststellung des JAV in dem genannten Bescheid ist gemäß § 77 SGG bindend geworden. Das BSG hat aus § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO geschlossen, daß die Feststellung des JAV jedenfalls dann bindend wird, wenn er in dem Rentenbescheid besonders festgesetzt ist (vgl. SozR Nr. 1 zu § 570 RVO; ebenso Urteil des erkennenden Senats vom 5. November 1965 - 5 RKn 111/63 -). Das trifft im vorliegenden Fall zu.

Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß sich an der Bindungswirkung der Feststellung des JAV durch die späteren Umstellungen und Erhöhungen der Witwenrente nach den Rentenanpassungsgesetzen nichts geändert hat, denn dabei hat es sich lediglich um eine schematische Vervielfältigung des JAV gehandelt, die von der bindenden Feststellung ausging und sie unberührt ließ.

Schließlich hat auch der Bescheid der Beklagten vom 18.Juni 1973 nicht die Bindungswirkung des Bescheides vom 23. Mai 1957 beseitigt und die volle Nachprüfung der Feststellung des JAV ermöglicht. Zwar kann die Verwaltung nach der Rechtsprechung des BSG einen neuen Verwaltungsakt erlassen, um den Rechtsweg zu eröffnen und die Rechtmäßigkeit der von ihr bereits einmal ausgesprochenen Rechtsfolge der Nachprüfung durch die Gerichte zuzuführen (vgl. SozR Nr. 35 zu § 77 SGG). Es mag dahingestellt bleiben, ob das auch außerhalb des Rechts der Kriegsopferversorgung und für den Fall gilt, daß sich an der Sach- und Rechtslage nichts geändert hat. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedenfalls nicht um einen sogenannten Zweitbescheid, der den Rechtsweg in vollem Umfang, über die Grenzen des § 619 RVO aF, § 627 RVO nF hinaus eröffnet. Für die Beurteilung der Rechtsnatur eines Bescheides daraufhin, ob es sich um einen beschränkt nachprüfbaren Zugunstenbescheid oder um einen voll nachprüfbaren Zweitbescheid handelt, sind die Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Inhalt des Bescheides, maßgebend (vgl. BSG in SozR Nr. 12 zu § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz - VerwVG -). Aus dem Inhalt des Bescheides vom 18. Juni 1973 geht hinreichend deutlich hervor, daß die Beklagte nicht durch die Erteilung eines sogenannten Zweitbescheides eine Neuregelung treffen und den Rechtsweg in vollem Umfang eröffnen wollte, sondern lediglich den ausdrücklich auf § 627 RVO nF gestützten Antrag der Klägerin negativ beschieden hat. Das ergibt sich sowohl aus der Überschrift des Bescheides als auch aus seiner Rechtsmittelbelehrung, die auf den Widerspruch verweist, der nur im Falle eines Bescheides nach § 619 RVO aF, § 627 RVO nF vor Erhebung der Klage vorgeschrieben war. Daran ändert der Widerspruchsbescheid der Beklagten nichts, der den Widerspruch der Klägerin als unzulässig angesehen hat, weil es sich nicht um eine Überprüfung nach § 627 RVO nF handele. Der Widerspruchsbescheid ist insofern unrichtig.

In den Fällen des § 665 RVO aF, § 573 RVO nF steht allerdings die bindende Feststellung des JAV dem Anspruch auf Neufeststellung unter Berücksichtigung der Ausbildung dann nicht entgegen, wenn die Ausbildung zur Zeit der Feststellung des JAV ohne den Unfall bzw. die Berufskrankheit noch nicht beendet gewesen wäre. War bei der bindenden Feststellung des JAV die Ausbildung aber bereits beendet, so geben auch § 565 RVO aF, § 573 RVO nF keinen Anspruch auf Neufeststellung. Vielmehr bleibt es dann bei der bindenden Feststellung des JAV, die nur unter Berücksichtigung der Beschränkungen des § 619 RVO aF, § 627 RVO nF nachgeprüft werden kann.

Die Beklagte ist daher nach § 619 RVO aF, § 627 RVO nF nur dann verpflichtet, den JAV zugunsten der Klägerin neu festzustellen, wenn sie sich von der Unrichtigkeit der Feststellung des JAV im Bescheid vom 23. Mai 1957 überzeugt oder überzeugen muß. Sie muß sich von der Unrichtigkeit der bindenden Feststellung des JAV nur dann überzeugen, wenn die Rechtswidrigkeit so offensichtlich ist, daß die bindende Feststellung unter keinen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten vertretbar wäre (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 619 RVO aF). Die von der Beklagten vertretene Ansicht, sie habe den JAV im Bescheid vom 23. Mai 1957 auch unter Berücksichtigung des § 565 RVO aF richtig festgesetzt, ist nicht so abwegig, daß sie als willkürlich und damit im Rahmen des § 619 RVO aF, § 627 nF als unbeachtlich bezeichnet werden könnte.

Da der Versicherungsfall vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) am 1. Juli 1963 eingetreten ist, richtet sich die Berechnung des JAV zunächst nach § 563 RVO in der bis dahin gültig gewesenen Fassung (aF). Die §§ 570, 571 RVO in der Fassung des UVNG sind nicht auf vorher eingetretene Versicherungsfälle anwendbar, wie Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG bestätigt. Es besteht kein Zweifel darüber und ist auch nicht streitig, daß die Beklagte den JAV nach § 563 Abs. 2 RVO aF richtig errechnet hat. Insbesondere ist sie zutreffend davon ausgegangen, daß als Zeitpunkt des Unfalls im Sinne dieser Vorschrift der 5. Januar 1929 gilt. Nach § 551 Abs. 3 Satz 2 RVO in der Fassung des UVNG gilt bei Berufskrankheiten als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls zwar der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung, oder - wenn dies für den Versicherten günstiger ist - der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Da die Tuberkulose bei dem Ehemann der Klägerin erst im Jahre 1950 festgestellt worden ist, würde bei Anwendung dieser Vorschrift der an die Stelle des Arbeitsunfalls tretende Beginn der Berufskrankheit frühestens auf diesen Zeitpunkt festgesetzt werden können. Aber auch diese Vorschrift ist - wie sich aus Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG ergibt - auf die vor dem 1. Juli 1963 eingetretenen Versicherungsfälle nicht anwendbar. Vielmehr ist darauf weiterhin § 3 der 3. Berufskrankheitenverordnung anzuwenden, nach dessen Absatz 3 für Staublungenerkrankungen, zu denen auch die Siliko-Tuberkulose gehört, für die Berechnung des JAV als Zeitpunkt des Unfalls der letzte Tag gilt, an dem der Versicherte in einem der in Spalte III der Anlage aufgeführten Betriebe Arbeiten verrichtet hat, die ihrer Art nach geeignet sind, die Berufskrankheit zu verursachen. Das ist im vorliegenden Fall eindeutig der 5. Januar 1929, weil der Ehemann der Klägerin an diesem Tage zuletzt im Bergbau unter Tage eine Arbeit verrichtet hat, bei der er dem gefährdenden silikogenen Staub ausgesetzt war. Ist die Beklagte danach bei der Berechnung des JAV zutreffend von dem 5. Januar 1929 als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls ausgegangen und hat sie den JAV nach § 563 Abs. 2 RVO aF richtig berechnet, so braucht sie sich von der Unrichtigkeit dieser Berechnung auch unter Berücksichtigung des § 565 Abs. 1 RVO aF (der ähnlich lautende § 573 Abs. 1 RVO nF ist auf den vor dem 1. Juli 1963 eingetretenen Versicherungsfall nicht anwendbar) nicht zu überzeugen.

Befand sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls (Beginn der Berufskrankheit) noch in einer Schul- oder Berufsausbildung, so wird - wenn es für den Berechtigten günstiger ist - der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung unter Berücksichtigung des Tariflohnes des Ausbildungsberufes nach § 565 Abs. 1 RVO aF neu berechnet. Die zweifelhafte und in der Literatur nicht einheitlich beantwortete Rechtsfrage, ob zwischen der zum Unfall (Berufskrankheit) führenden Arbeit und der Ausbildung ein ursächlicher oder zumindest innerer Zusammenhang bestehen muß, ist vom 8. Senat des BSG dahin beantwortet worden, daß der rein zeitliche Zusammenhang genügt (vgl. SozR 2200 Nr. 2 zu § 573). Gleichwohl braucht sich die Beklagte im vorliegenden Fall nicht davon zu überzeugen, daß der JAV nach § 565 Abs. 1 RVO aF unter Berücksichtigung der Ausbildung des Ehemannes der Klägerin zum Prediger festzusetzen ist. Zwar hat der Versicherungsträger bei seiner Überzeugungsbildung nach § 619 RVO aF, § 627 nF von einer gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung auszugehen (vgl. BSGE 28, 141 und die dort zitierten weiteren Entscheidungen). In dem genannten Urteil ist offengeblieben, was unter einer gesicherten höchstrichterlichen Rechtsprechung in diesem Sinne zu verstehen ist. Im allgemeinen wird auch eine einzige Entscheidung eines einzelnen Senats des BSG genügen, um eine zweifelhafte Rechtsfrage als hinreichend geklärt anzusehen (vgl. zur ähnlichen Rechtslage in der Kriegsopferversorgung § 40 Abs. 2 VerwVG). Das kann jedoch dann nicht gelten, wenn nur einer von mehreren für das Sachgebiet zuständigen Senate des BSG zu der Rechtsfrage Stellung genommen hat und außerdem dieser höchstrichterlichen Entscheidung in der Literatur mit ernsthaften und gewichtigen Gründen widersprochen wird. Eine bereits höchstrichterlich entschiedene Rechtsfrage behält in solchen Fällen ihre grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr.1 SGG, bleibt also zweifelhaft und klärungsbedürftig (vgl. BSG in SozR 1500 Nr. 13 zu § 160 a). Ist die entschiedene Rechtsfrage aber trotz der höchstrichterlichen Rechtsprechung zweifelhaft und klärungsbedürftig geblieben, so ist die vom Versicherungsträger vertretene gegenteilige Rechtsansicht nicht so offensichtlich unrichtig, daß sie deshalb unbeachtlich wäre. Für die hier bedeutsame Auslegung des § 565 RVO aF sind beim BSG außer dem 8. auch der 2. und 5. Senat zuständig, weil sie ebenfalls über Angelegenheiten der Unfallversicherung zu entscheiden haben. Der 2. und 5. Senat haben zu der vom 8. Senat entschiedenen Rechtsfrage noch nicht Stellung genommen. Es ist durchaus offen, ob sie sich der Entscheidung des 8. Senats anschließen würden, zumal dieser Entscheidung in der Literatur mit durchaus ernsthaften und gewichtigen Gründen widersprochen worden ist (vgl. Wickenhagen in SGb 1975, 187; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl. 1976, Anm. 6 f zu § 573 RVO). Die gegen die Entscheidung des 8. Senats geltend gemachten Bedenken sind jedenfalls für den Fall nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, daß der Versicherte nach erfolgreichem Abschluß der Ausbildung zu dem ersten Beruf, aber während der Ausbildung zu einem zweiten Beruf bei - vorübergehender - Ausübung des ersten Berufes einen Unfall (Berufskrankheit) erleidet, ohne daß dadurch der erfolgreiche Abschluß der Ausbildung und die Ausübung des zweiten Berufs beeinträchtigt wird. So aber liegt der vorliegende Fall. Bei Beginn der Berufskrankheit (5. Januar 1929) arbeitete der Ehemann der Klägerin, nachdem er vorher bereits die Ausbildung zum Prediger begonnen hatte, - vorübergehend - im erlernten Beruf als Hauer. Die Berufskrankheit hat ihn nicht gehindert, die Ausbildung zum Prediger erfolgreich zu beenden und danach den Beruf eines Predigers aufzunehmen. Ob ein solcher Fall von § 565 Abs. 1 RVO erfaßt wird, bleibt aus den obigen Gründen trotz der Entscheidung des 8. Senats ernsthaft zweifelhaft.

Das LSG hat auch zutreffend angenommen, daß § 566 RVO aF die Feststellung eines höheren JAV nicht rechtfertigt. Weder ist die Berechnung des JAV nach § 563 RVO aF nicht durchführbar, noch ist der JAV nach den §§ 564, 565 RVO aF berechnet worden.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 34

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