Entscheidungsstichwort (Thema)

Wesen der Witwengrundrente. Anrechnung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Krankenkasse handelt ermessensfehlerhaft, wenn sie Versicherte, die laufend Arzneimittel benötigen, von der Zuzahlung nach RVO § 182a regelmäßig nur unter der Voraussetzung befreit, daß ihr Bruttoeinkommen ein Drittel der Bezugsgröße des SGB 4 § 18 nicht übersteigt.

Die Krankenkasse handelt nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie bei der Befreiung von einer festen (höheren) Einkommensgrenze ausgeht und dabei die Witwengrundrente nach BVG § 40 als Einkommen berücksichtigt.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Entscheidend für den Zweck der Witwengrundrente ist, daß das BVG sie in den Bestimmungen der §§ 40 ff selbst als Leistung mit Unterhaltsersatzfunktion, als Ausgleich des materiellen Schadens behandelt. Der Ausgleich des immateriellen Schadens oder eines Mehraufwands wegen des Todes des Ehemannes tritt in diesen Vorschriften völlig in den Hintergrund.

2. Die Witwengrundrente nach dem BVG wird bei einer Reihe von Sozialleistungen nicht als Einkommen berücksichtigt und insoweit nicht als Leistung zum allgemeinen Lebensunterhalt angesehen. Es ist deshalb beim Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung für jede Sozialleistung besonders zu prüfen, ob die Witwengrundrente auf das Einkommen anzurechnen ist.

 

Orientierungssatz

Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung nach RVO § 182a S 2 - Rechtsnatur der Witwengrundrente:

1. Der laufende Bezug von Arzneimitteln ist ein besonderer Härtefall iS des RVO § 182a S 2, der als Härtefall "vor allem" eben den laufenden Bezug bezeichnet. Wenn der Versicherte laufend Arzneimittel bezieht, kann also nicht zB wegen seines guten Einkommens ein Härtefall als Voraussetzung der Ermessensentscheidung verneint werden.

2. Zum Rechtscharakter (Sinn und Zweck) der Witwengrundrente nach dem BVG.

 

Normenkette

RVO § 182a Fassung: 1977-06-27; BVG § 40; SGB 4 § 18

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 20.02.1980; Aktenzeichen L 4 Kr 57/79)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 16.08.1979; Aktenzeichen S 6 Kr 3/78)

 

Tatbestand

In dem Rechtsstreit geht es um die Befreiung von der Zahlung des Arzneikostenanteils.

Die Klägerin bezieht Witwenrente nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), die sich in der Zeit vom 1. Juli 1977 bis zum 31. Dezember 1978 auf 366,70 DM, ab 1. Januar 1979 auf 383,20 DM und ab 1. Januar 1980 auf 398,60 DM belief und beläuft. Außerdem erhält sie vom Versorgungsamt O Witwengrund- und Ausgleichsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Grundrente betrug und beträgt ab 1. Juli 1977 bis zum 31. Dezember 1978 387,-- DM, ab 1. Januar 1979 404,-- DM und ab 1. Januar 1980 420,-- DM, die Ausgleichsrente ab 1. Juli 1977 bis 31. Dezember 1978 239,-- DM, ab 1. Januar 1979 249,-- DM und ab 1. Januar 1980 259,-- DM.

Am 19. Oktober 1977 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Freistellung von der Zahlung des Arzneikostenanteils wegen besonderer Härte gem § 182a Satz 2 RVO. Damit hatte sie keinen Erfolg. Die Beklagte führte aus, nach den Richtlinien ihres Vorstandes vom 18. August 1977 sei ein Härtefall iS des § 182a Satz 2 RVO nur dann zu bejahen, wenn die monatlichen Gesamteinkünfte des Versicherten 1/3 der Bezugsgröße iS des § 18 des Sozialgesetzbuches, Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) vom 23. Dezember 1976 (BGBl I 3845) bei laufendem Arzneimittelbedarf nicht überstiegen. Das Einkommen der Klägerin liege über dieser Grenze, da ihre Witwengrundrente mit zu berücksichtigen sei. Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin ab 19. Oktober 1977 von der Zahlung des Arzneikostenanteils nach § 182a Satz 2 RVO zu befreien. Es hat ausgeführt, dem Gesetz sei der Grundsatz zu entnehmen, daß die Grundrente nach dem BVG einer anderen, von der Bedürftigkeit des Antragstellers abhängenden Sozialleistung nicht entgegen stehe. Für ihre anders lautende Rechtsauffassung habe sich die Beklagte neben Empfehlungen der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungsträger, die ihren Niederschlag in den Vorstandsrichtlinien der Beklagten vom 18. August 1977 gefunden hätten, auch auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bezogen. Dieser Rechtsprechung könne aber nicht gefolgt werden. Ein laufender Arzneimittelverbrauch der Klägerin sei nachgewiesen. Ihr Einkommen überschreite nicht die von der Beklagten bestimmte Grenze für den Härtefall. Im Fall der Klägerin verdichte sich der Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (§ 54 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) zu einem Rechtsanspruch auf Befreiung von der Zahlung des Arzneikostenanteils.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie führt aus, eine Anrechnung der Grundrente komme immer nur dann nicht in Betracht, wenn dies in den entsprechenden gesetzlichen Vorschriften ausdrücklich - positiv - geregelt sei. Hätte der Gesetzgeber dies bei der Einführung des § 182a RVO ebenfalls beabsichtigt, hätte er eine gleichartige, positive Norm auch hier angeführt. Die Beklagte verweist auf die Rechtsprechung des BSG, nach der die Grundrente nach dem BVG der Sicherung des Lebensunterhalts diene (BSG SozR 5420 § 2 KVLG Nr 8). Weiter führt die Beklagte aus, da das Einkommen der Klägerin unter Einbeziehung der Witwengrundrente die in den Vorstandsrichtlinien vom 18. August 1977 festgesetzten Höchstsätze überschreite und überschritten habe, liege kein Befreiungstatbestand iS des § 182a Satz 2 RVO vor.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen

vom 20. Februar 1980 aufzuheben und die Berufung

der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts

Oldenburg vom 16. August 1979 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie stützt sich auf die überzeugenden Gründe der Entscheidung des LSG.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als sie nicht verurteilt werden kann, die Klägerin von der Zahlung eines Arzneikostenanteils zu befreien. Gerechtfertigt ist nur eine Verurteilung zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Gemäß § 182a RVO in der seit 1. Juli 1977 geltenden Fassung des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG - siehe Art 1 § 1 Nr 7 und Art II § 17) vom 27. Juni 1977 (BGBl I 1069) hat der Versicherte bei der Abnahme von Arznei-, Verbands- und Heilmitteln 1,-- DM für jedes verordnete Mittel an die abgebende Stelle zu zahlen. Die Krankenkasse kann in besonderen Härtefällen, vor allem wenn laufend Arznei-, Verbands- und Heilmittel benötigt werden, von der Zahlung nach Satz 1 befreien. Wie der Senat entschieden hat, handelt es sich bei der Befreiung um eine Ermessensentscheidung der Krankenkasse. Der unbestimmte Begriff "in besonderen Härtefällen" ist nicht nur Voraussetzung, sondern auch Maßstab der Ermessensausübung; er bestimmt die Grenzen und den Inhalt des pflichtgemäßen Ermessens und ragt auch in den Ermessensraum der Verwaltung hinein. Vor der Entscheidung über die Befreiung eines Versicherten vom Arzneikostenanteil muß die Krankenkasse sowohl die wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers als auch die medizinischen Umstände im Einzelfall prüfen. Sie hat vorrangig zu prüfen, ob der Antragsteller laufend Arznei-, Verbands- und Heilmittel benötigt. Dieser laufende Bezug ist als teilweise Konkretisierung der besonderen Härte von Gesetzes wegen anzusehen (BSG SozR 2200 § 182a RVO Nr 1).

Nach den Feststellungen des LSG, an die der Senat gem § 163 SGG gebunden ist, ist ein laufender Arzneimittelbezug der Klägerin nachgewiesen. Die Beklagte hat diese Feststellung nicht mit zulässigen Revisionsgründen angegriffen. Auch ist nicht zu erkennen, daß das LSG etwa den Begriff der laufenden Leistungen verkannt hätte. Der Senat hat deshalb nicht zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein laufender Bezug vorliegt, ob es dafür insbesondere ausreicht, daß die verordneten Mittel wiederholt anfallen oder ob sie mit einer gewissen Häufigkeit benötigt werden, inwieweit etwa durch Verschreibung größerer Packungen der laufende Bezug vermieden werden kann und welcher Zeitraum überhaupt dazu gehört (vgl dazu LSG Berlin 12. September 1979 - L 9 Kr 44/78).

Aufgrund der Feststellungen des LSG liegt die Voraussetzung für eine Ermessensentscheidung nach § 182a Satz 2 RVO vor. Der festgestellte laufende Bezug von Arzneimitteln ist ein besonderer Härtefall iS der Vorschrift, die als Härtefall "vor allem" eben den laufenden Bezug bezeichnet. Wenn der Versicherte laufend Arzneimittel bezieht, kann also nicht zum Beispiel wegen seines guten Einkommens ein Härtefall als Voraussetzung der Ermessensentscheidung verneint werden (aM anscheinend LSG Berlin KVRS 2260/5).

Die angefochtene Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig, da die Beklagte darin von ihrem Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Wenn nämlich ein laufender Bezug von Arzneimitteln und damit ein Härtefall iS des § 182a Satz 2 RVO gegeben ist, entspricht die Befreiung von der Zuzahlung zu den Arzneimitteln regelmäßig dem Zweck der Ermächtigung. Es müssen in diesem Fall schon besondere Umstände vorliegen, wenn die Krankenkasse die Befreiung verneinen will (BSG aaO). Wie dargelegt, wird die Ermessensentscheidung nach § 182a Satz 2 RVO nach Inhalt und Grenzen durch den Maßstab des Begriffs der besonderen Härte bestimmt. Es erscheint daher ausgeschlossen, daß die Krankenkasse die Befreiung auch bei Vorliegen eines besonderen Härtefalls unter im übrigen typischen und regelmäßig gegebenen Umständen ablehnen darf. Wenn der Gesetzgeber den laufenden Bezug von Arzneimitteln als besonderen Härtefall bezeichnet, kann die Krankenkasse die Befreiung nicht von weiteren Umständen abhängig machen, die im typischen und regelmäßig vorliegenden Fall nicht gegeben sind. Die bisherigen Feststellungen des LSG ergeben keine derartigen besonderen Umstände.

Der angefochtene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Dezember 1977 ist darauf gestützt, daß das Einkommen der Klägerin die in den Richtlinien des Vorstands der Beklagten festgesetzten Einkommensgrenzen überschreite. Mit dieser Begründung hält sich die Beklagte allerdings grundsätzlich im Rahmen des in § 182a RVO eröffneten Ermessens. Der Senat hat in der bereits erwähnten Entscheidung ausgeführt, die Krankenkasse dürfe bei ihrer Einzelfallprüfung allgemeine Richtlinien beachten, soweit diese einer gleichmäßigen Ermessensanwendung dienen und mit dem Gesetz in Einklang stehen (BSG aaO). Diese Voraussetzungen erfüllen die Richtlinien der Beklagten indessen nicht. Nach den Feststellungen des LSG entsprechen sie den Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen (abgedruckt in BKK 1977, 244). Danach werden Versicherte, die voraussichtlich für einen Zeitraum von mindestens drei Monaten laufend Arznei-, Verbands- und Heilmittel benötigen, von der Zuzahlung nach § 182a Satz 1 RVO befreit, wenn das Einkommen (Einkünfte iS des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO) 1/3 der Bezugsgröße des § 18 SGB IV nicht übersteigt. Bedeutet die Zuzahlung für den Versicherten aus anderen Gründen eine unzumutbare Härte, so ist er von der Zuzahlung freizustellen.

Nach den Richtlinien sollen mithin Versicherte mit einem Einkommen von mehr als 1/3 der Bezugsgröße des § 18 SGB IV von der Zuzahlung trotz Vorliegens des besonderen Härtefalls des laufenden Bezugs von Arzneimitteln regelmäßig nur bei besonders geringem Verdienst befreit werden. Die Einkommensverhältnisse der demgemäß von der Zuzahlung nicht zu befreienden Versicherten sind aber nicht ohne weiteres "besondere Umstände". Wie dargelegt, müssen beim laufenden Bezug von Arzneimitteln besondere Umstände vorliegen, wenn die Krankenkasse die Befreiung gem § 182a Satz 2 RVO ablehnen will. Dabei kann es sich nicht um Umstände handeln, die für den großen Durchschnitt der Versicherten oder einer gewichtigen und typischen Gruppe von Versicherten gelten. Wenn die Richtlinien alle Versicherten mit einem Einkommen von mehr als 1/3 der Bezugsgröße von der Befreiung regelmäßig ausschließen, dann machen sie damit einen typischen Fall zum besonderen.

Bezugsgröße gem § 18 SGB IV ist das durchschnittliche Arbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten ohne Auszubildende im vorvergangenen Kalenderjahr. Von der Bestimmung des § 182a RVO wird zwar ein anderer Personenkreis erfaßt, nämlich die Versicherten der Krankenversicherung. Das durchschnittliche Einkommen dieses Personenkreises entspricht nicht demjenigen des § 18 SGB IV. Es dürfte, da die Rentner und die Hinterbliebenen hinzukommen, niedriger liegen als jenes. Aber eine wichtige und typische Gruppe der in den gesetzlichen Rentenversicherungen Versicherten ist auch Mitglied der Krankenversicherung und bildet dort die größte und typische Gruppe der Versicherten. Es ist jedenfalls nicht gerechtfertigt, schon alle Einkommen von mehr als 1/3 des durchschnittlichen Verdienstes der Versicherten in den Rentenversicherungen im Verhältnis zu den Einkommen der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung als besondere Umstände zu behandeln.

Für die gewerblichen Arbeiter besteht bereits seit 1883 Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Die Versicherungspflicht wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte auf alle in wirtschaftlicher und persönlicher abhängiger Stellung Beschäftigten ausgedehnt. Allerdings waren die Angestellten von vornherein nur bis zu einer Verdienstgrenze versicherungspflichtig (Übersicht über die soziale Sicherheit, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung 9. Aufl S 152); die Verdienstgrenze (§ 165 Abs 1 Nr 2 iVm § 1385 Abs 2 RVO) liegt aber wesentlich höher als die Bezugsgröße des § 18 SGB IV. Aus einer Zugehörigkeit oder einer Beziehung zum Kreis der als abhängig Beschäftigte versicherungspflichtigen Personen wird schließlich mindestens in der Regel die Versicherungspflicht der Rentner abgeleitet (§ 165 Abs 1 Nr 3 Buchst a RVO - Ausnahme § 165 Abs 1 Nr 3 Buchst b RVO).

Verdienste können aus diesen Gründen nicht schon deshalb besondere Umstände im dargelegten Sinn sein, weil sie mehr als 1/3 des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten betragen. Nach den Ausführungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid ist entsprechend den Richtlinien ihres Vorstandes ein Härtefall nur dann anzunehmen, wenn das monatliche Einkommen 1/3 der Bezugsgröße des § 18 SGB IV übersteigt. Mit dieser Begründung ist der Bescheid der Beklagten ermessensfehlerhaft. Er ist deshalb aufzuheben. Die Beklagte ist zur Erteilung eines neuen Bescheids unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen. Da es an einschlägigen tatsächlichen Feststellungen fehlt, kann der Senat nicht etwa die Revision zurückweisen, so daß die Beklagte verurteilt bliebe, die Klägerin von der Zuzahlung zu Arzneimitteln zu befreien. Insbesondere ergibt sich aus der Zuzahlung der (gekürzten) Ausgleichsrente allein noch nicht, daß die Klägerin neben den festgestellten Renten kein weiteres Einkommen hatte.

Die Beklagte kann bei ihrer neuen Entscheidung wie in ihren Richtlinien von einer festen Einkommensgrenze ausgehen. Indessen müßte diese wesentlich über der bisher festgesetzten liegen. Zu denken wäre etwa an die Bezugsgröße des § 18 SGB IV in voller Höhe. Die Beklagte kann aber auch andere Umstände berücksichtigen, zB die Häufigkeit der Verordnungen.

Bei der Ermittlung des Einkommens der Klägerin hat die Beklagte ohne Ermessensfehler die Grundrente nach § 40 BVG mitberücksichtigt. Die Beklagte überschreitet nicht die Grenzen ihres Ermessens, wenn sie davon ausgeht, daß diese Rente für die Zuzahlung zu den Arzneimitteln nach § 182a Satz 1 RVO ebenso zur Verfügung steht wie anderes Einkommen. Nach ihren Richtlinien werden als Einkommen die Einkünfte iS des § 180 Abs 4 Satz 1 RVO berücksichtigt, dh das Arbeitsentgelt und sonstige Einnahmen zum Lebensunterhalt. Es ist zumindest nicht ermessensfehlerhaft, die Witwengrundrente als diesem Zweck dienend anzusehen.

Das LSG weist allerdings zutreffend darauf hin, daß die Grundrente nach dem BVG der Gewährung einer Reihe anderer von der Bedürftigkeit abhängender Sozialleistungen nicht entgegensteht. Nach den Bestimmungen des § 25d Abs 1 Satz 2 BVG, des § 76 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) idF vom 13. Februar 1976 (BGBl I 289), des § 138 Abs 3 Nr 5 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) vom 25. Juni 1969 (BGBl I 582) der §§ 11 und 21 Abs 4 Nr 1 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) idF vom 9. April 1976 (BGBl I 989), des § 14 Abs 1 Nr 6 des Wohngeldgesetzes idF vom 29. August 1977 (BGBl I 1685), des § 267 Abs 1 und Abs 2 Nr 2 des Lastenausgleichsgesetzes idF vom 1. Oktober 1969 (BGBl I 1909) wird die Grundrente nach dem BVG nicht als Einkommen berücksichtigt. Die Grundrente wird in diesen Vorschriften nicht als dem laufenden Unterhalt dienende Leistung behandelt. Daraus folgt zB, daß etwa die Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 11 BSHG ohne Rücksicht auf eine zustehende Grundrente gewährt wird. Dies gilt allgemein für die Grundrente nach dem BVG, also auch für die Witwengrundrente.

Trotzdem hat aber die Witwengrundrente durch die erwähnten Bestimmungen nicht grundsätzlich und über die Bestimmungen hinaus den Charakter einer für andere Zwecke als den Lebensunterhalt bestimmten Leistung erhalten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte die Grundrente "als bescheidener Ausgleich für die körperliche Beeinträchtigung oder den Verlust des Ehemannes oder Vaters neben sonstigen Einkommen voll gewährt werden". Die Grundrente der Witwe sollte einen gewissen Ausgleich für den durch die Folgen einer Schädigung vorzeitig eingetretenen Verlust des Ehemannes und Ernährers darstellen (Begründung zum Entwurf des BVG in BArbBl 1951 S 45, 47 und 52). Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Bestimmung des § 1 Abs 1 BVG auch auf die Hinterbliebenen angewandt und ausgeführt, da gesundheitliche Folgen der Schädigung in der Person der Hinterbliebenen ausschieden, diene die Hinterbliebenenversorgung dem Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen des Kriegstodes (BVerfGE 17, 38, 47). Das Bundesverwaltungsgericht hat ausgesprochen, die Witwengrundrente habe Unterhaltsersatzfunktion (BVerwG, DÖD 1968, 194). Demgegenüber hat insbesondere Rohwer-Kahlmann die Meinung vertreten, die Witwengrundrente sei dazu bestimmt, einen schädigungsbedingten Mehraufwand abzugelten. Nach § 30 Abs 1 Satz 1 Halbs 2 BVG seien bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Beschädigten auch seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen (BSGE 9, 291, 294). Das müsse auch für die Hinterbliebenen gelten (Zeitschrift für Sozialreform - ZSR - 1968, 577, 588). Nach Ansicht von Krasney hat die Witwengrundrente eine auf den "bescheidenen" Ausgleich immaterieller Schäden gerichtete Komponente; die Witwengrundrente hat zwar nicht nur die Funktion, den Lebensunterhalt der Witwe zu sichern, sie dient aber doch vornehmlich dem Ersatz materiellen Schadens (Krasney ZSR 1973, 688), gemeint ist damit der Schaden aus dem entgehenden Unterhalt.

Entscheidend für den Zweck der Witwengrundrente ist, worauf auch schon Krasney hinweist, daß das BVG sie in den Bestimmungen der §§ 40 ff selbst als Leistung mit Unterhaltsersatzfunktion behandelt. Der Ausgleich des immateriellen Schadens oder eines Mehraufwandes wegen des Todes des Ehemannes tritt in diesen Vorschriften völlig in den Hintergrund. Insbesondere ist nach § 40a Abs 2 BVG zur Feststellung des Schadensausgleichs dem Bruttoeinkommen der Witwe nicht nur ihre Ausgleichsrente, sondern genauso auch ihre Grundrente hinzuzurechnen. Die Witwe erhält als Schadensausgleich 4/10 des Unterschiedsbetrages zwischen ihrem Bruttoeinkommen zuzüglich Grund- und Ausgleichsrente und der Hälfte des Vergleichseinkommens. Da die neben der Grundrente zu berücksichtigende Ausgleichsrente dem allgemeinen Lebensunterhalt dient und beide Leistungen auf das Bruttoeinkommen der Witwe angerechnet werden, kommt im Gesetz zum Ausdruck, daß die Grundrente als Minderung des auszugleichenden Schadens angesehen wird. Der Schadensausgleich selbst dient aber dem teilweisen Ersatz des durch den Tod des Ehemannes entgangenen Unterhalts.

Für die Funktion der Witwengrundrente als Ausgleich des materiellen Schadens spricht auch die Vorschrift des § 42 BVG. Danach steht die frühere Ehefrau nach einer Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe der Witwe gleich, wenn insbesondere der Verstorbene zur Zeit seines Todes Unterhalt nach ehe- oder familienrechtlichen Vorschriften zu leisten hatte. Ein immaterieller Schaden der früheren Ehefrau kommt nicht in Betracht. In ihrem Fall dient die Witwengrundrente ausschließlich dem Ersatz des entgangenen Unterhalts.

Aus diesen Bestimmungen des BVG ist zu entnehmen, daß den vom LSG genannten Vorschriften noch kein allgemeiner Grundsatz entnommen werden kann. Es bleibt nur die Schlußfolgerung, daß die Witwengrundrente bei einer Reihe von Sozialleistungen nicht als Einkommen berücksichtigt und insoweit nicht als Leistung zum allgemeinen Lebensunterhalt angesehen wird. Demgegenüber kommt aber den Vorschriften des BVG, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Regelung der Witwengrundrente bestehen, besondere Bedeutung zu. Es ist deshalb beim Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung für jede Sozialleistung besonders zu prüfen, ob die Witwengrundrente auf das Einkommen anzurechnen ist. Die Witwengrundrente mag zwar geeignet sein, auch einen Ausgleich für immaterielle Schäden und für Mehraufwendungen wegen des Todes des Ehemannes wenigstens in bescheidenem Umfang zu schaffen. Dieser Zweck prägt aber jedenfalls nicht allgemein ihren Charakter. Deshalb ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn er bei der Entscheidung über die Befreiung von der Zuzahlung nach § 182a Satz 2 RVO unberücksichtigt bleibt und die Witwengrundrente hier angerechnet wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1655230

BSGE, 250

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