Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Familienversicherung. Überschreiten der Einkommensgrenze. Prognose. nachträgliche Kenntnis von einer Änderung des Gesamteinkommens. neue Prognoseentscheidung ab Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Rechtmäßigkeit. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Erlangt die Krankenkasse im Nachhinein Kenntnis von einer Änderung des monatlichen Gesamteinkommens der familienversicherten Person, hat sie die insoweit erforderliche neue Prognose des monatlichen Gesamteinkommens rückblickend auf den - für sie erkennbaren - Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse zu treffen.

2. Maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Prognoseentscheidung ist der Kenntnisstand der Krankenkasse über die im Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse vorliegenden und der Krankenkasse bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens bekannten oder von Amts wegen ermittelbaren Umstände.

3. Umstände, die dem Mitglied und/oder seinen Familienangehörigen bekannt sind, der Krankenkasse aber nicht mitgeteilt werden und von ihr auch nicht mit zumutbarem Aufwand von Amts wegen ermittelbar sind, stellen die Rechtmäßigkeit der Prognose für den bis zu ihrem Bekanntwerden bereits abgelaufenen Zeitraum nicht in Frage.

 

Orientierungssatz

Die rückwirkende Beendigung der Familienversicherung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen Art 6 Abs 1 GG in Verbindung mit Art 3 Abs 1 GG oder Art 2 Abs 1 GG.

 

Normenkette

SGB IV § 16; SGB V § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, Abs. 6 S. 1, § 206 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 02.02.2021; Aktenzeichen L 11 KR 523/20)

SG Freiburg i. Br. (Urteil vom 02.12.2019; Aktenzeichen S 16 KR 3946/18)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Februar 2021 und des Sozialgerichts Freiburg vom 2. Dezember 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Familienversicherung der Klägerin bei der beklagten Krankenkasse in der Zeit vom 1.11.2014 bis zum 28.2.2016 streitig.

Die Klägerin war bei der Beklagten über ihren beigeladenen Ehemann seit 2007 familienversichert. Nachdem sie 2014 und 2015 mitgeteilt hatte, nicht über Einkünfte zu verfügen, wies die Klägerin im August 2016 erstmals auf Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung hin. Der Aufforderung der Beklagten, Einkommensteuerbescheide vorzulegen, kam sie nicht nach. Auf das Ersuchen der Beklagten teilte das zuständige Finanzamt im März 2017 mit, dass der Einkommensteuerbescheid vom 24.10.2014 für das Jahr 2013 Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von (iHv) 6256 Euro sowie Verluste aus Vermietung und Verpachtung iHv minus 398 Euro ausweise; der Einkommensteuerbescheid vom 10.2.2016 für das Jahr 2014 setze Einkünfte aus Kapitalvermögen iHv 2532 Euro sowie Verluste aus Vermietung und Verpachtung iHv minus 369 Euro fest. Die Beklagte stellte daraufhin fest, dass in der Zeit vom 1.11.2014 bis zum 28.2.2016 die Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wegen eines zu hohen Gesamteinkommens von mehr als einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nicht bestanden habe (Bescheid vom 13.10.2017, Widerspruchsbescheid vom 13.8.2018).

Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Familienversicherung der Klägerin festgestellt (SG Freiburg Urteil vom 2.12.2019). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zwar sei im Jahr 2013 die Gesamteinkommensgrenze überschritten gewesen und habe die Beklagte die Einkommensteuerbescheide zur Ermittlung des maßgeblichen Einkommens heranziehen dürfen. Eine Familienversicherung scheide rückblickend aber nur dann aus, wenn zu Beginn des maßgeblichen Zeitraums die Überschreitung der Einkommensgrenze absehbar sei. Die Beklagte habe daher prüfen müssen, ab wann im Jahr 2013 diese Überschreitung absehbar gewesen sei. Auch habe sie die Familienversicherung allenfalls bis zum 31.12.2013 beenden dürfen. Denn wie sich aus den Einkommensteuerbescheiden für 2014 und 2015 ergebe, habe das Gesamteinkommen der Klägerin den Grenzwert in diesen Jahren tatsächlich nicht überschritten. In einem solchen Fall sei für eine Prognoseentscheidung auf der Grundlage des für 2013 ergangenen Einkommensteuerbescheids kein Raum mehr. Selbst bei einer Prognoseentscheidung komme es auf die Art der erzielten Einkünfte an. Aus den schwankenden Einkünften aus Kapitalvermögen in 2013 könne nicht auf entsprechende Einkünfte in den Folgejahren geschlossen werden. Eine andere Auslegung sei nicht mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar (LSG Baden-Württemberg Urteil vom 2.2.2021).

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte sinngemäß die Verletzung des § 10 SGB V. Das Gesamteinkommen sei nach der Rechtsprechung des BSG anhand der Einkommensteuerbescheide festzustellen, weil die Krankenkassen hierfür über kein eigenes Instrumentarium verfügten und es für die Träger der GKV einen unzumutbaren Verwaltungsaufwand bedeute, die Einkommensverhältnisse eines jeden Versicherten anhand von Einzelbelegen zu prüfen. Das gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände der GKV stelle für die Ermittlung des Gesamteinkommens aus selbstständiger Tätigkeit auf den letzten Einkommensteuerbescheid vom Beginn des auf seine Ausstellung folgenden Monats an bis zum Ablauf des Monats der Ausstellung des nächsten Einkommensteuerbescheids ab. Das müsse auch für Kapitalerträge gelten. Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 7.12.2000 (B 10 KR 3/99 R - SozR 3-2500 § 10 Nr 19) eine Prognoseentscheidung ausgehend vom letzten Einkommensteuerbescheid auch bei einer rückblickenden Betrachtung gefordert, selbst wenn später bis zur behördlichen Entscheidung weitere Steuerbescheide ergingen. Die zeitversetzte Berücksichtigung des Steuerbescheids sei nicht unbillig.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 2. Februar 2021 und des Sozialgerichts Freiburg vom 2. Dezember 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend. Die Einkommensgrenze sei im streitgegenständlichen Zeitraum nicht überschritten worden.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben, die Klage ist abzuweisen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 13.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.8.2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie war im streitigen Zeitraum nicht bei der Beklagten familienversichert.

Nach § 10 Abs 1 Satz 1 Nr 5 Teilsatz 1 SGB V (in der Fassung ≪idF≫ des Gesundheitsreformgesetzes vom 20.12.1988, BGBl I 2477) sind die Ehegatten von Mitgliedern der GKV versichert, die kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV überschreitet. Gesamteinkommen ist die Summe der Einkünfte im Sinn (iS) des Einkommensteuerrechts; es umfasst insbesondere das Arbeitsentgelt und das Arbeitseinkommen (§ 16 SGB IV idF der Bekanntmachung vom 12.11.2009, BGBl I 3710). Einkünfte sind daneben auch Einnahmen aus Kapitalvermögen abzüglich des Sparer-Pauschbetrags sowie aus Vermietung und Verpachtung iS des Überschusses der Einnahmen über die Werbungskosten (§ 2 Abs 1 Nr 5 und 6, Abs 2 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 EStG idF der Bekanntmachung vom 8.10.2009, BGBl I 3366; vgl BSG Urteil vom 7.12.2000 - B 10 KR 3/99 R - SozR 3-2500 § 10 Nr 19 S 77 f; BSG Urteil vom 22.5.2003 - B 12 KR 13/02 R - BSGE 91, 83 = SozR 4-2500 § 10 Nr 2, RdNr 5). Das regelmäßige monatliche Gesamteinkommen ist aufgrund einer Prognose für die Zukunft festzustellen (dazu 1.). Bei einer rückwirkenden Entscheidung bleibt es bei der Notwendigkeit einer Prognose (dazu 2.). Die Einschätzung, die Klägerin werde ab 1.11.2014 kein Gesamteinkommen bis zum Grenzbetrag erzielen, ist rechtmäßig (dazu 3.). Die Prognose bleibt rechtmäßig, bis das Bekanntwerden eines abweichenden tatsächlichen Verlaufs Anlass für eine neue zukunftsbezogene Prognose bietet (dazu 4.). Dem stehen weder §§ 45, 48 SGB X (dazu 5.) noch Verfassungsrecht (dazu 6.) entgegen.

1. Bei Statusentscheidungen im Sozialversicherungsrecht ist grundsätzlich eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt (BSG Urteil vom 27.7.2011 - B 12 R 15/09 R - SozR 4-2600 § 5 Nr 6 RdNr 16 mwN; BSG Urteil vom 7.12.2000 - B 10 KR 3/99 R - SozR 3-2500 § 10 Nr 19 S 81). Das gilt im Besonderen für die Beurteilung des monatlichen Gesamteinkommens iS des § 10 Abs 1 Satz 1 Nr 5 Teilsatz 1 SGB V. Schon der Begriff "regelmäßig" setzt eine gewisse Stetigkeit, Dauer und Gesetzmäßigkeit voraus (vgl BSG Urteil vom 28.3.2019 - B 10 LW 1/17 R - BSGE 128, 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr 4, RdNr 21). Er beschreibt einen laufend wiederkehrenden Umstand, auf dessen Eintreten üblicherweise Verlass ist, der also die Prognose erlaubt, dass er wieder eintreten wird.

Auch die Zielsetzung der beitragsfreien Familienversicherung als Maßnahme des sozialen Ausgleichs zur Entlastung der Familie (vgl BVerfG Beschluss vom 7.4.2022 - 1 BvL 3/18, 1 BvR 717/16, 1 BvR 2257/16, 1 BvR 2824/17 - juris RdNr 362, zur Veröffentlichung in BVerfGE vorgesehen) erfordert eine vorausschauende Betrachtung. Durch § 10 SGB V wird die Last der die Krankenversicherung umfassenden Unterhaltsansprüche von Familienangehörigen gegen den Stammversicherten (vgl BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 2/20 R - BSGE 132, 245 = SozR 4-2500 § 10 Nr 13, RdNr 19) in die Verantwortung der Solidargemeinschaft der GKV einbezogen. Dem entspricht es, nur solche Familienangehörige beitragsfrei mitzuversichern, die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft bedürftig sind und bleiben.

Schließlich trägt eine bei Statusentscheidungen regelmäßig gebotene Entscheidung im Wege einer Prognose dem Grundsatz der Vorhersehbarkeit sozialversicherungs- und beitragsrechtlicher Tatbestände Rechnung. Das Postulat der Vorhersehbarkeit prägt das Recht der Pflichtversicherung in der Sozialversicherung (BSG Urteil vom 1.2.2022 - B 12 KR 37/19 R - juris RdNr 22, zur Veröffentlichung in BSGE 133, 245 und SozR 4-2400 § 7 Nr 61 vorgesehen) und umfasst auch die Familienversicherung des § 10 SGB V. Im Interesse sowohl des einzelnen Versicherten als auch der Versichertengemeinschaft und der Versicherungsträger ist die Frage nach einem Versicherungsschutz und einer Leistungsberechtigung vorausschauend zu beantworten, weil es darauf nicht nur für die Entrichtung der Beiträge, sondern auch für die Leistungspflichten der Sozialversicherungsträger und die Leistungsansprüche der Betroffenen ankommt (vgl BSG Urteil vom 10.12.2019 - B 12 KR 9/18 R - BSGE 129, 254 = SozR 4-2400 § 7 Nr 46, RdNr 19 mwN). Auch beitragsfreie Familienversicherte haben grundsätzlich schon zum fraglichen Beginn des Versicherungsverhältnisses ein Klärungsbedürfnis und nicht erst bei Inanspruchnahme von Leistungen (vgl BR-Drucks 200/88 S 161 zu § 10 Abs 5 SGB V). Sie müssen bei fehlender Familienversicherung für eine andere Absicherung sorgen können und bei auftretender Krankheit zuverlässig wissen, wie und wo sie versichert sind (BSG Urteil vom 7.12.2000 - B 10 KR 3/99 R - SozR 3-2500 § 10 Nr 19 S 81). Ein längerer Schwebezustand bis zur Klärung des Versicherungsstatus (für die Vergangenheit) verträgt sich außerdem nicht mit dem Bestreben, die Rückabwicklung erbrachter Leistungen (vgl § 50 SGB X) zu vermeiden und versicherungs- sowie beitragsrechtlich relevante Statusfragen möglichst zeitnah zu klären (vgl BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 2/20 R - BSGE 132, 245 = SozR 4-2500 § 10 Nr 13, RdNr 31).

Diese Grundsätze gelten nach Inkrafttreten der Regelungen über die Auffangpflichtversicherung (§ 5 Abs 1 Nr 13 SGB V idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007, BGBl I 378) und die obligatorische Anschlussversicherung (§ 188 Abs 4 SGB V idF des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15.7.2013, BGBl I 2423) trotz daraus resultierender gleicher Leistungsansprüche fort. Denn es besteht weiterhin ein Interesse Familienangehöriger an zeitnaher Klärung der Beitragspflicht, der Nebenrechte aus einer Mitgliedschaft - zB des Krankenkassenwahlrechts (§§ 173 ff SGB V; vgl BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 38/19 R - juris RdNr 13 ff, zur Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 174 Nr 1 vorgesehen) oder der Sozialversicherungswahlrechte (zB § 46 Abs 1, § 47 Abs 1 Nr 1 SGB IV) und der Möglichkeit, eine für sie gegebenenfalls günstigere private Krankenversicherung abzuschließen. Dem wäre aber mit einer längerfristigen Unklarheit über den Versichertenstatus ebenso wenig Rechnung getragen wie dem Interesse der Versichertengemeinschaft sowie der Träger der Sozialversicherung und der Grundsicherung an der Voraussehbarkeit der Beiträge und der Beitragstragung. Auch dies erfordert weiterhin eine Prognose unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Veränderungen.

2. Diese Erwägungen gelten auch für rückwirkende Entscheidungen über die Familienversicherung. In diesem Fall ist die kraft Gesetzes gebotene vorausschauende Betrachtung nachträglich anzustellen. Grundlage dafür sind die im zurückliegenden Zeitraum für die Beklagte erkennbaren oder ermittelbaren Umstände. Insoweit ist zu fragen, ob der jeweilige Erkenntnisstand hinreichenden Anlass für eine neue Prognose gegeben hat (vgl BSG Urteil vom 28.3.2019 - B 10 LW 1/17 R - BSGE 128 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr 4, RdNr 21 mwN).

Eine Prognoseentscheidung trifft per se eine in die Zukunft gerichtete vorausschauende Einschätzung des zu beurteilenden Lebenssachverhalts. Dafür bedarf es einer ausreichenden Erkenntnisgrundlage. Sachgerechte Prognosen beruhen in der Regel auf Daten und Fakten aus der Vergangenheit, auf deren Basis unter Berücksichtigung zu erwartender Veränderungen eine Vorausschau für die Zukunft getroffen wird (BSG Urteil vom 28.3.2019 - B 10 LW 1/17 R - BSGE 128, 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr 4, RdNr 20 mwN). Relevanten Einkommensentwicklungen ist ggf durch eine neue Prognose angemessen Rechnung zu tragen. Allerdings ist eine von den Verhältnissen in der Vergangenheit abweichende Einschätzung erst dann geboten, wenn Umstände dargelegt werden, die das Erzielen hiervon abweichender Einkünfte nahelegen (vgl BSG Urteil vom 2.4.2014 - B 3 KS 4/13 R - SozR 4-5425 § 3 Nr 3 RdNr 24, 27 mwN). Eine ausreichende Grundlage bieten insoweit nicht allein Einkommensteuerbescheide.

Grundlage für eine nachträgliche Prognose, die ausschließlich einen inzwischen bereits vergangenen Zeitraum betrifft, können jedenfalls nur die bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens - also spätestens bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids - erkennbaren Umstände sein. Maßgebend ist insbesondere der aufgrund der Angaben des Mitglieds und der familienversicherten Angehörigen verfahrensfehlerfrei ermittelte Kenntnisstand der Behörde (vgl BSG Urteil vom 2.4.2014 - B 3 KS 4/13 R - SozR 4-5425 § 3 Nr 3 RdNr 30). Das Mitglied hat die für die Durchführung der Familienversicherung notwendigen Angaben zu melden (§ 10 Abs 6 Satz 1 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21.12.1992, BGBl I 2266; vgl hierzu BT-Drucks 12/3608 S 76 zu Nr 3). Zeitnah sind alle Tatsachen offenzulegen, um zu verhindern, dass der Status der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen unklar bleibt (vgl BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 2/20 R - BSGE 132, 245 = SozR 4-2500 § 10 Nr 13, RdNr 26 ff). Entsprechendes gilt für Familienangehörige (§ 206 Abs 1 Satz 1, § 289 Satz 2 und 3 SGB V). Kommen das Mitglied und die Angehörigen ihren Mitwirkungspflichten nicht nach, ermittelt die Krankenkasse den Sachverhalt von Amts wegen (§ 20 SGB X). Dabei kann sie Dritte heranziehen und insbesondere (im Rahmen der datenschutzrechtlichen Grenzen, vgl §§ 67 ff SGB X, Art 6 ff Datenschutz-Grundverordnung, dazu BSG Urteil vom 27.4.2021 - B 12 R 14/19 R - BSGE 132, 86 = SozR 4-2600 § 212a Nr 1, RdNr 30 ff) Auskünfte der Finanzbehörden einholen (§ 21 Abs 4 SGB X). Lässt sich eine erforderliche Prognose auch nach Ausschöpfung aller vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit hinreichender Sicherheit treffen, tragen die objektive Beweislast das Mitglied und seine Angehörigen (BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 2/20 R - BSGE 132, 245 = SozR 4-2500 § 10 Nr 13, RdNr 25 f, 33 - 34). Denn § 10 Abs 6 SGB V ordnet die familieninternen Verhältnisse grundsätzlich sowohl materiell-rechtlich als auch verfahrensrechtlich der Verantwortungssphäre des Mitglieds zu (BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 2/20 R - BSGE 132, 245 = SozR 4-2500 § 10 Nr 13, RdNr 26).

3. Nach diesen Kriterien hat die Beklagte die Fortführung der Familienversicherung ab dem 1.11.2014 zutreffend abgelehnt. Auf der Grundlage der Auskunft des Finanzamts zum Einkommensteuerbescheid vom 24.10.2014 für das Jahr 2013 und mangels anderweitig zumutbar ermittelbarer Erkenntnisse zum damaligen Zeitpunkt durfte sie davon ausgehen, dass die Klägerin auch ab 2014 Einkünfte aus Kapitalvermögen in ähnlicher Höhe wie 2013 erzielen werde. Auf dieser Erkenntnisbasis war jedenfalls nicht mehr die für das Fortbestehen der Familienversicherung nach § 10 Abs 1 Satz 1 Nr 5 Teilsatz 1 SGB V erforderliche Prognose gerechtfertigt, sie werde kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV überschreitet.

Nach der Auskunft des Finanzamts und den damit übereinstimmenden und nicht mit Revisionsrügen angegriffenen, den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) verfügte die Klägerin im Jahr 2013 über monatliche Einkünfte von 488,16 Euro (6256 Euro - 398 Euro : 12). Damit erzielte sie mehr als ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße von 385 Euro (2013), 395 Euro (2014), 405 Euro (2015) und 415 Euro (2016). Die Verteilung der Einkünfte innerhalb des Kalenderjahres 2013 ist insoweit unbeachtlich. Bei schwankendem Einkommen - wie bei Einkünften aus Kapitalvermögen typisch - ist für die Feststellung, ob ein Gesamteinkommen "regelmäßig im Monat" überschritten wird, vom gezwölftelten Jahresbetrag auszugehen (BSG Urteil vom 7.12.2000 - B 10 KR 3/99 R - SozR 3-2500 § 10 Nr 19 S 76 mwN).

Die Beklagte durfte ihre Prognose, die Klägerin werde kein Gesamteinkommen bis zum Grenzbetrag erzielen, jedenfalls mit Beginn des auf den Einkommensteuerbescheid vom 24.10.2014 folgenden Monats zugrunde legen. Mangels einer Meldung des Beigeladenen (§ 10 Abs 6 SGB V) oder Mitteilung der Klägerin (§ 206 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB V) war für die Beklagte das maßgebende letzte Jahreseinkommen für 2013 nicht vor der Feststellung der Einkünfte durch die Finanzbehörden im Oktober 2014 erkennbar. Die Beklagte ist daher auf der Grundlage der ihr im Zeitpunkt des Erlasses des hier angefochtenen Widerspruchsbescheids bekannten und rückblickend auf den Kenntnisstand im Oktober 2014 ermittelbaren Tatsachen zutreffend zu der Einschätzung gelangt, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs 1 Nr 5 Teilsatz 1 SGB V jedenfalls ab November 2014 nicht mehr vorliegen werden. Diese Vorschrift erfordert nach ihrem Wortlaut keine positive Prognose im Sinne eines den Grenzwert überschreitenden Gesamteinkommens; vielmehr muss die Annahme gerechtfertigt sein, dass die Familienangehörigen kein Gesamteinkommen von regelmäßig mehr als einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße haben (werden). Entscheidend ist daher nicht, ob die Einkünfte der Klägerin in den Vorjahren auf die Bezugsgröße übersteigendes Einkommen ab 1.11.2014 schließen lassen, sondern ob sich die (negative) Prognose rechtfertigen lässt, die Klägerin werde dieses Einkommen nicht wieder erreichen. Aufgrund der Auskunft des Finanzamts hatte die Beklagte nur Kenntnis von der Höhe der Einkünfte. Mangels anderer ermittelter oder ermittelbarer Umstände lag auf der Basis des Kenntnisstands der Beklagten im August 2018 rückblickend auf den Kenntnisstand im Oktober 2014 nicht nahe, dass die Klägerin ab 1.11.2014 keine Einkünfte über einem Siebtel der Bezugsgröße haben würde. Dass die Einkünfte aus Kapitalvermögen (vgl § 20 Abs 1 Nr 1 EStG) auf dem Verkauf und dem damit verbundenen Verlust von Aktien beruhten, also möglicherweise nicht als regelmäßig wiederkehrend angesehen werden können, konnte die Beklagte bei Erlass des Widerspruchsbescheids nicht wissen. Aus datenschutzrechtlichen Gründen lagen ihr nicht die vollständigen Steuerbescheide vor und weitere Ermittlungen waren von ihr nicht zu fordern.

4. Eine auf hinreichender Grundlage zutreffend erstellte Prognose bleibt solange rechtmäßig und verbindlich, bis für eine andere zukunftsbezogene Prognose ein erkennbarer Anlass besteht (vgl BSG Urteil vom 28.3.2019 - B 10 LW 1/17 R - BSGE 128, 1 = SozR 4-5868 § 3 Nr 4, RdNr 20 mwN). Das gilt auch dann, wenn im Nachhinein ersichtlich wird, dass die Entwicklung schon vorher anders als prognostiziert verlaufen ist. Entgegen der Ansicht des LSG ist nicht auf die nachträglich erkennbare tatsächliche Entwicklung abzustellen. Es wäre mit dem Grundsatz der Vorhersehbarkeit des sozialversicherungsrechtlichen Status nicht vereinbar, bei Prüfungen für die Vergangenheit im Nachhinein bekannt gewordene Verhältnisse rückwirkend zu berücksichtigen, obwohl auf Grundlage eines verfahrensfehlerfrei herbeigeführten früheren Erkenntnisstands eine andere Prognose veranlasst und zutreffend war. Insbesondere widerspräche es auch der Wertung des § 10 Abs 6 SGB V, ein Mitglied und dessen Angehörige, die ihren Mitteilungs- sowie Meldepflichten nicht nachkommen und damit eine zeitnahe Prognose umgehen, besser zu stellen als solche, die ihrer Mitwirkungspflicht genügen, auch zu ihren Ungunsten eingetretene Änderungen anzeigen und hinnehmen müssen, dass es bei der Prognose bleibt und eine Familienversicherung solange nicht besteht, bis wieder eine ihnen günstige Prognose zu erstellen ist, obwohl sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht entsprechend der Prognose entwickeln. Maßgebend bleibt auch bei einer Vergangenheitsbetrachtung der bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens verfahrensfehlerfrei unter Berücksichtigung der Amtsermittlungspflicht sukzessiv herbeigeführte Kenntnisstand der Verwaltung über die Änderung der Verhältnisse und nicht deren tatsächlicher Eintritt.

Danach hat die Beklagte die Fortführung der Familienversicherung für die im angefochtenen Bescheid vom 13.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.8.2018 allein erfasste Zeit vom 1.11.2014 bis zum 28.2.2016 insgesamt zutreffend abgelehnt. Insoweit ist die gerichtlich überprüfbare Prognoseentscheidung, ob die Grundlagen für die Prognose richtig festgestellt sowie alle in Betracht kommenden Umstände hinreichend und sachgerecht gewürdigt wurden und den von der Behörde gezogenen Schluss rechtfertigen (BSG Urteil vom 2.4.2014 - B 3 KS 4/13 R - SozR 4-5425 § 3 Nr 3 RdNr 31 mwN), nicht zu beanstanden. Nicht zu entscheiden ist demgegenüber, ob und gegebenenfalls inwieweit die Beklagte berechtigt gewesen wäre, auch für davor oder danach liegende Zeiträume das Nichtbestehen der Familienversicherung festzustellen.

Die Beklagte hatte aufgrund der ihr vorliegenden Erkenntnisse vor Februar 2016 keine Veranlassung zu einer neuen Prognoseentscheidung. Bis dahin hatte sie keine Kenntnis von einer Änderung der Verhältnisse und dem tatsächlichen Unterschreiten der Grenze von einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße im Jahr 2014. Auch haben weder der Beigeladene noch die Klägerin der Beklagten Tatsachen mitgeteilt, die Anlass zu einer Änderung der Prognose aufgrund der tatsächlichen Einkünfte im Jahre 2013 gegeben hätten. Erstmals im Februar 2016 war die Höhe der Einkünfte im Jahr 2014 ermittelbar und damit eine hinreichende Grundlage für die Änderung der zukunftsbezogenen Prognose gegeben.

5. §§ 45 und 48 SGB X (idF der Bekanntmachung vom 18.1.2001, BGBl I 130) über die Aufhebung und Rücknahme von Verwaltungsakten stehen der rückwirkenden Feststellung des Nichtbestehens der Familienversicherung nicht entgegen. Ist - wie hier - ein Verwaltungsakt über das Bestehen der Familienversicherung nicht ergangen, ist die Krankenkasse nicht gehindert, ungeachtet dieser Vorschriften rückwirkend festzustellen, dass ab einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt eine Familienversicherung nicht bestanden habe (BSG Urteil vom 7.12.2000 - B 10 KR 3/99 R - SozR 3-2500 § 10 Nr 19 S 82 mwN; BSG Urteil vom 25.8.2004 - B 12 KR 36/03 R- juris RdNr 25 mwN).

6. Die rückwirkende Beendigung der Familienversicherung verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen Art 6 Abs 1 GG in Verbindung mit Art 3 Abs 1 GG oder Art 2 Abs 1 GG. Es ist bereits fraglich, ob der Status als familienversicherter Ehegatte als solcher von Art 6 Abs 1 GG geschützt ist (vgl dazu BSG Urteil vom 29.6.2021 - B 12 KR 2/20 R - BSGE 132, 245 = SozR 4-2500 § 10 Nr 13, RdNr 23 mwN). Ein angemessener Schutz von Ehe und Familie durch die Familienversicherung wird jedenfalls auch dann gewährt, wenn deren Bestehen von der sozialen Schutzbedürftigkeit und damit von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Betroffenen abhängig gemacht wird. Wenn - worauf das LSG hinweist - durch das Erfordernis einer Prognoseentscheidung die tatsächlichen Einkommensverhältnisse hier nur zeitversetzt berücksichtigt werden können, ist dies nicht unzumutbar. Hätten die Klägerin und der Beigeladene der Beklagten zeitnah die Einkommensverhältnisse mitgeteilt, hätte die ihnen ungünstige Überschreitung der Einkommensgrenze zeitnah ebenso berücksichtigt werden können, wie die spätere ihnen günstige Einkommensunterschreitung. Tatsächlich haben die Eheleute aber weder von sich aus noch auf Nachfrage der Krankenkasse die ihnen vorliegenden Kenntnisse mitgeteilt. Daher können sie auch keinen Vertrauensschutz geltend machen.

Indem die Prognose sowohl bei einer zeitnahen als auch bei einer rückwirkenden Entscheidung der Verwaltung stets an dieselben Voraussetzungen geknüpft wird, ist insoweit auch keine Ungleichbehandlung bei der verfahrensrechtlichen Umsetzung der Vorschrift ersichtlich.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Heinz U. Waßer Padé

 

Fundstellen

Haufe-Index 15414248

NZA 2023, 620

NZS 2023, 390

SGb 2022, 734

Breith. 2024, 10

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