Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I

Streitig ist (noch) die Zahlung von Kurzarbeitergeld (Kug) für die Zeit vom 27. Mai bis 18. November 1991.

Die 1989 gegründete Klägerin vertrieb und verwaltete das sog. Top-12-Kettenbriefsystem der Top-12-Zentrale K. -H. G. Ein Betriebsrat bestand nicht.

Am 23. Mai 1991 bzw. am 10. Juli 1991 zeigte sie für den Zeitraum vom 27. Mai bis Ende Juli 1991 bzw. bis 30. September 1991 Kurzarbeit für mehrere Arbeitnehmer an. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Kug ab, weil die Auftragsausfälle auf die Bindung der Klägerin an einen einzigen Auftraggeber und die Eigenart des Kettenbriefsystems zurückzuführen seien, das sich naturgemäß irgendwann erschöpfe. Bei dieser Sachlage gehörten Auftragsausfälle zum normalen Betriebsrisiko. Kug könne deshalb nach § 64 Abs. 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) nicht gewährt werden (Bescheide vom 14. Juni 1991 und 23. Juli 1991; Widerspruchsbescheid vom 28. August 1991). Während des Klageverfahrens lehnte die Beklagte auf zwei weitere Schreiben der Klägerin, mit denen die Verlängerung des Kug-Zeitraums bis 31. Oktober 1991 bzw. 31. Dezember 1991 (am 11. September 1991 bzw. am 21. Oktober 1991) angezeigt worden war, Kug auch für diese Folgezeiträume ab (Bescheide vom 20. September 1991 und 30. Oktober 1991).

Die Klage hatte erst- und zweitinstanzlich keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts [SG] vom 27. August 1992; Urteil des Landessozialgerichts [LSG] vom 20. Januar 1994). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der von der Klägerin angezeigte Arbeitsausfall sei wegen der Struktur eines Kettenbriefsystems und der Beschränkung auf einen Auftraggeber betriebsüblich gewesen; Kug sei deshalb gemäß § 64 Abs. 3 AFG nicht zu gewähren.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 64 Abs. 3 AFG. Sie ist der Ansicht, der Begriff der Betriebsüblichkeit setze einen Arbeitsausfall voraus, der aufgrund der Eigenart des Betriebes mit gewisser Regelmäßigkeit auftrete. Dies treffe für sie jedoch nicht zu.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 14. Juni 1991 und 23. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. August 1991 sowie unter Aufhebung der Bescheide vom 20. September 1991 und vom 30. Oktober 1991 zu verurteilen, Kug für den Zeitraum vom 27. Mai bis 18. November 1991 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, es sei nicht Aufgabe des Kug, Schwankungen der Beschäftigungslage aufzufangen, die durch die Eigenart des Betriebs bedingt seien.

II

Die Revision ist i.S. der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), da es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung durch den Senat fehlt.

Das Begehren der Klägerin ist auf Zahlung von Kug für den Zeitraum vom 27. Mai bis 18. November 1991 gerichtet; insoweit ist sie gesetzliche Prozeßstandschafterin der betroffenen Arbeitnehmer (BSGE 67, 11, 13 m.w.N. = SozR 3-4100 § 63 Nr. 1; BSG SozR 3-4100 § 65 Nr. 2). Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bescheide der Beklagten vom 14. Juni 1991 und 23. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. August 1991 sowie die gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens gewordenen Bescheide vom 20. September 1991 und 30. Oktober 1991; mit den bezeichneten Bescheiden hat es die Beklagte abgelehnt, die allgemeinen und betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug anzuerkennen - sog. negative Anerkennungsbescheide (BSGE 65, 238, 240 = SozR 4100 § 72 Nr. 11). Ob der während des Berufungsverfahrens ergangene und damit gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG streitbefangene (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 15. Februar 1990 - 7 RAr 22/89 -, DBlR Nr. 3679a zu § 54 SGG) negative Leistungsbescheid vom 7. Oktober 1992, mit dem die Beklagte die gesonderten Leistungsanträge der Klägerin auf Gewährung von Kug abgelehnt hat, trotz Nichtbeachtung durch das LSG zum Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden ist, bedarf keiner Entscheidung (zur allgemeinen Rügepflicht im Revisionsverfahren bei Verstoß gegen § 96 SGG: BSGE 65, 272, 275 = SozR 4100 § 78 Nr. 8; BSG SozR 1500 § 53 Nr. 2; SozR 3-4100 § 249e Nr. 5; SozR 3-2500 § 57 Nr. 4). Dieser Bescheid ist ohnedies nach Zurückverweisung der Sache vom LSG zu beachten (vgl. BSGE 74, 96, 101 = SozR 3-4100 § 112 Nr. 17).

Gegen die Ablehnung von Kug wehrt sich die Klägerin, wie sich aus ihrem erst-und zweitinstanzlichen Vorbringen unter Berücksichtigung ihrer Erklärung im Revisionsverfahren ergibt, zulässigerweise mit der Anfechtungs- und Leistungsklage. Nur diese Auslegung entspricht vernünftigerweise dem von der Klägerin Gewollten; an den Wortlaut der Anträge ist der Senat nicht gebunden (§ 123 SGG). Lehnt nämlich das Arbeitsamt schon auf die Anzeige des Arbeitsausfalls trotz des üblichen zweistufigen Verwaltungsverfahrens (erste Stufe: Entscheidung über die allgemeinen und betrieblichen Voraussetzungen; zweite Stufe: Entscheidung über den Leistungsantrag) die Leistung gänzlich ab, ist ausschließlich die Anfechtungs-und Leistungsklage die richtige und zulässige Klageart (BSGE 65, 238, 240 = SozR 4100 § 72 Nr. 11; BSG, Urteil vom 15. Februar 1990, a.a.O.). In diesem Falle liegt bereits im Widerspruch gegen den negativen Anerkennungsbescheid der nach § 72 Abs. 2 Satz 2 AFG i.V.m. § 72 Abs. 1 Satz 1 AFG erforderliche Leistungsantrag (BSGE 65, 238, 240f. = SozR 4100 § 72 Nr. 11).

Ob die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer der Klägerin jedoch Anspruch auf Kug nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AFG haben, kann nicht beurteilt werden, weil das LSG seine Entscheidung lediglich darauf gestützt hat, daß Kug wegen Betriebsüblichkeit des Arbeitsausfalls nicht zustehe. Die für diese rechtliche Wertung erforderlichen tatsächlichen Umstände sind indes nicht festgestellt, und die tatsächlichen Feststellungen des LSG zu den sonstigen Voraussetzungen des Kug (allgemeine Voraussetzungen - § 63 AFG; betriebliche Voraussetzungen - § 64 AFG; persönliche Voraussetzungen - § 65 AFG) reichen für eine abschließende Entscheidung im Sinne einer Leistungsablehnung ebensowenig aus.

Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AFG i.d.F. des Einigungsvertrags i.V.m. dem Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl. II 885) wird (unter weiteren Voraussetzungen anderer Vorschriften) Kug bei vorübergehendem Arbeitsausfall in Betrieben gewährt, in denen regelmäßig mindestens ein Arbeitnehmer beschäftigt ist, wenn zu erwarten ist, daß durch die Gewährung von Kug den Arbeitnehmern die Arbeitsplätze und dem Betrieb die eingearbeiteten Arbeitnehmer erhalten werden. Gemäß § 64 Abs. 3 AFG (hier i.d.F. des Achten Gesetzes zur Änderung des AFG vom 14. Dezember 1987 - BGBl. I 2602 - [8. AFG-ÄndG]) gilt dies allerdings nicht, wenn der Arbeitsausfall überwiegend branchenüblich, betriebsüblich oder saisonbedingt ist oder ausschließlich auf betriebsorganisatorischen Gründen beruht. Ob dies für die Klägerin zutrifft, bedarf näherer Untersuchung. Das LSG hat hierzu ausgeführt, Ursache für die Kurzarbeit bei der Klägerin sei ein 30%iger Rückgang des Auftragseingangs. Seit der Gründung der Klägerin sei diese personal- und einrichtungsmäßig ausschließlich bereit und in der Lage gewesen, den Top-12-Kettenbrief der Top-12-Zentrale K. -H. G. zu betreiben. Sie habe sich somit an einen einzigen Auftraggeber gebunden, worin ein hohes Betriebsrisiko liege. Zu bedenken sei außerdem, daß der einzige tatsächliche Geschäftszweck das Betreiben von Kettenbriefspielen sei, sich derartige Spiele indes systembedingt früher oder später erschöpften, weil keine neuen Mitspieler mehr gewonnen werden könnten. Diese Feststellungen genügen nicht, um einen der Ausschlußgründe des § 64 Abs. 3 AFG bejahen zu können; insbesondere kann hieraus noch nicht auf eine überwiegende Betriebsüblichkeit des bei der Klägerin aufgetretenen Arbeitsausfalls geschlossen werden.

Betriebsüblich ist ein Arbeitsausfall, der auf der Eigenart des Betriebs beruht (Gagel, AFG-Komm, Stand September 1994, § 64 RdNr 41). Dabei kann weder nach dem Wortlaut des § 64 Abs. 3 AFG noch nach den Materialien zum AFG eine gewisse Regelmäßigkeit des Arbeitsausfalls in dem Sinne verlangt werden, daß einmalige Ereignisse - wie bei der Klägerin - nicht hierunter fallen könnten (Gagel, a.a.O.). Zur Begründung des § 64 Abs. 3 AFG ist nämlich im Regierungsentwurf zum AFG angeführt, den Betrieben solle nicht das gesamte Betriebsrisiko abgenommen werden (BT-Drucks V/2291 S. 71 zu § 59 Abs. 3). Es solle nicht Aufgabe des Kug sein, Schwankungen der Beschäftigungslage aufzufangen, die durch die Eigenart der Betriebe bedingt sind oder regelmäßig wiederkehren (BT-Drucks V/2291 S. 55 rechte Spalte). Diese doppelte Zielsetzung macht deutlich, daß zumindest die betriebsbedingten und die betriebsorganisatorischen Gründe des § 64 Abs. 3 AFG nicht notwendig regelmäßig wiederkehren müssen, sondern daß es sich auch um einmalige Ereignisse handeln kann, wenn sich besondere Risiken des Betriebs in diesem Ereignis konkretisieren (Gagel, a.a.O., § 64 RdNr 37).

Zwar sind die Überlegungen des LSG zur Betriebsüblichkeit des Arbeitsausfalls bei der Klägerin damit nicht verfehlt. Jedoch ergibt sich ihre Richtigkeit noch nicht alleine daraus, daß sich die Klägerin an einen einzigen Auftraggeber und an ein einziges Projekt gebunden hat. Es fehlen jegliche tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts zu Art und Inhalt des Top-12-Kettenbriefsystems und zur Einbindung der Klägerin in dieses Spiel. Andererseits ist weder dem Senat bekannt noch ist aus den Akten ersichtlich, wie dieses Spiel abläuft. Die Bezeichnung als Kettenbrief ersetzt trotz gewisser damit verbundener allgemeiner Vorstellungen keine genauen Feststellungen hierzu. Dies gilt um so mehr, als ein Kettenbriefsystem nicht zwangsläufig und jederzeit das Risiko einer Unterbrechung und damit eines Arbeitsausfalls nach sich zieht. Entscheidend ist vielmehr u.a. die Laufzeit des spezifischen Spiels und die sich daraus ergebende Risikoerhöhung auf der Basis von Erfahrungswerten. Erst dann läßt sich eine konkrete Aussage darüber treffen, ob und in welchem Maße der Arbeitsausfall der Klägerin durch das Spielsystem und die Bindung an die Top-12-Zentrale K. -H. G. bedingt ist. Derartige Feststellungen können nicht, wie dies in der Entscheidung des LSG geschehen ist, durch terminologische Umschreibungen und eine abstrakte - wenn auch nachvollziehbare - Schilderung des mit Kettenbriefen im allgemeinen verbundenen Risikos ersetzt werden.

Sollte allerdings die überwiegende Betriebsüblichkeit des Arbeitsausfalls nach näheren Untersuchungen durch das LSG zu verneinen sein, wären neben den verfahrensrechtlichen (§ 72 AFG i.d.F. des 8. AFG-ÄndG) alle sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug zu prüfen. Insoweit könnten sich insbesondere Zweifel hinsichtlich des Vorliegens folgender Anspruchsvoraussetzungen ergeben: Erwartung des Erhalts von Arbeitsplätzen und Arbeitnehmern (§ 63 Abs. 1 Satz 1 AFG), unabwendbares Ereignis (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 AFG), Unvermeidbarkeit des Arbeitsausfalls (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 AFG), nicht ausschließlich betriebsorganisatorische Gründe für den Arbeitsausfall (§ 64 Abs. 3 AFG), ungekündigte Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse (§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AFG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des AFG und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand vom 20. Dezember 1988 - BGBl. I 2343), vermindertes oder ausfallendes Arbeitsentgelt infolge des Arbeitsausfalls (§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AFG). Das LSG wird außerdem über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden und dabei zu berücksichtigen haben, daß die Revision teilweise zurückgenommen worden ist; insoweit bedarf es keines Antrags auf Kostenentscheidung (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl. 1993, § 193 RdNr 2). Der Senat kann selbst noch keine Teil-Kostenentscheidung treffen (vgl. BSGE 65, 198, 203 m.w.N. = SozR 5870 § 2 Nr. 62).7 RAr 28/94

BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

NZA 1996, 1118

Breith. 1996, 160

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