Leitsatz (redaktionell)

"Krankheit" iS der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, dessen Eintritt entweder die Notwendigkeit einer Heilbehandlung - allein oder in Verbindung mit Arbeitsunfähigkeit - oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.

"Arbeitsunfähigkeit" iS der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Versicherter, der infolge Krankheit seine Arbeit überhaupt nicht oder nur mit der Gefahr, in absehbarer Zeit seinen Zustand zu verschlechtern, fortsetzen kann; da bei ist unter "seiner" Arbeit die vom Versicherten zuletzt ausgeübte Beschäftigung oder eine ähnlich geartete Tätigkeit zu verstehen; eine Verweisung auf andersartige Tätigkeiten, auch innerhalb der die letzte Beschäftigung umfassenden Berufsgruppe, ist nicht zulässig.

Der Annahme von Krankheit und / oder Arbeitsunfähigkeit iS der gesetzlichen Krankenversicherung steht nicht entgegen, daß es sich bei dem vorliegenden Gebrechen um einen Dauerzustand handelt, der möglicherweise nicht völlig behoben werden kann.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff "Arbeitsunfähigkeit" (hier: Epilepsie - Anfallbereitschaft - Verweisungsmöglichkeiten - Dauerzustand).

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1971 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin verlangt mit der am 24. Dezember 1965 erhobenen Klage vom Beklagten den Ersatz von Krankengeld in Höhe von 10.320,- DM; dieses Krankengeld hat sie an ihren 1926 geborenen Versicherten Ernst P (P.) in Höhe von täglich 24,- DM in der Zeit vom 3. August 1963 bis 13. Oktober 1963 und vom 1. Januar 1964 bis 23. Dezember 1964 gezahlt.

Das Versorgungsamt (VersorgA) gewährte P. mit Bescheid vom 7. Juli 1961 Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. wegen der Schädigungsfolgen "Hirnschädigung mit mäßigen nervösen Ausfallerscheinungen und rechtsseitigem Stirnbeindefekt, Narben an Stirn und Wange" und stellte dazu u. a. fest, epileptische Anfälle seien nicht anzunehmen. Im anschließenden Rechtsstreit (S 10 V 301/61) änderte das Sozialgericht (SG) für das Saarland durch Urteil vom 16. Februar 1967 die angefochtenen Bescheide ab, anerkannte zusätzlich als Schädigungsfolgen "hirntraumatische Leistungsschwäche" und "cerebral-organische Anfälle" und erkannte dem Kläger P. ab 1. Februar 1960 Rente nach einer MdE von 70 v. H. und ab 1. Juni 1960 nach einer MdE von 90 v. H. zu. Das SG stützte sich auf zwei Gutachten, die nach stationärer Beobachtung erstattet worden waren, auf einen Befundbericht des behandelnden Nervenarztes Dr. M und auf ein Sitzungs-Gutachten.

P. hatte bis 1957 in Oberschlesien als Oberbuchhalter gearbeitet, diese Tätigkeit dann nach seinen Angaben wegen seines Versorgungsleidens aufgegeben und eine Invalidenrente bezogen. Nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik war er von Juni bis Dezember 1960 als kaufmännischer Angestellter (Rechnungsprüfer), von März 1961 bis Juni 1962 als Buchhalter und Geschäftsführer in einem Möbelgeschäft und ab 18. Juni 1962 als Reisender einer Fabrik für Bauelemente aus Leichtmetall tätig.

Dr. M erklärte P. am 2. August 1963 wegen Schädelbeinverletzungsfolgen für arbeitsunfähig. P. hatte nach seinen Angaben in der Nacht zum 1. August 1963 einen epileptischen Anfall erlitten, und Dr. M hatte dafür typische Anzeichen festgestellt. Er verschrieb Antiepileptika. Am 27. August 1963 bescheinigte der Arzt, die Arbeitsunfähigkeit dauere auf unbestimmte Zeit an. Nach einer Mitteilung der Universitäts-Nervenklinik H, wiedergegeben im vertrauensärztlichen Gutachten von Dr. H vom 10. Oktober 1963, war P. als Kaufmann und Vertreter nicht arbeitsunfähig; sein chronischer Zustand gehe mit gelegentlichen Anfällen einher; für die mit Autofahren verbundene Tätigkeit sei er nicht geeignet. Dr. M bescheinigte am 7. Januar 1964 weiterhin Arbeitsunfähigkeit wegen der Schädigungsfolgen. Dr. H vertrat in seiner Stellungnahme vom 13. April 1964 die Ansicht, P. könne "prinzipiell" als Kaufmann und Vertreter berufstätig sein, die Problematik liege in einer geeigneten Unterbringung. Auf Grund einer Äußerung des Prüfarztes des VersorgA weigerte sich der Beklagte, der Klägerin ihre Krankengeldleistungen zu ersetzen, und behielt bereits ersetzte Beträge im Wege der Aufrechnung ein.

Das SG Düsseldorf verurteilte den Beklagten am 26. September 1968 zur Zahlung des Betrags von 10.320,- DM. Durch Urteil vom 28. Juni 1971 wies das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Beklagten zurück: Der Ersatzanspruch sei nach § 19 Abs. 1 und 3 BVG idF des 1. Neuordnungsgesetzes (NOG) und nach § 19 Abs. 2 idF des 2. NOG begründet, weil die Klägerin das Krankengeld an P. wegen der durch Schädigungsfolgen verursachten Arbeitsunfähigkeit gezahlt habe. P. sei, gemessen an den Anforderungen seiner zuletzt bis August 1963 ausgeübten Tätigkeit als Reisender, arbeitsunfähig gewesen; mit dem Anfall in der Nacht zum 1. August 1963 (mit Zungenbiß und Bewußtlosigkeit) sei eine Erkrankung und damit ein die Krankenversicherungsleistungen auslösender Versicherungsfall eingetreten, der ärztliche Behandlung und das Verschreiben von antiepileptischen Mitteln durch Dr. M erfordert habe. Dieser größere epileptische Anfall habe deutlich gemacht, daß bei P., entgegen den bis dahin erstatteten versorgungsärztlichen Gutachten, eine latente Anfallbereitschaft bestanden habe; diese Auffassung sei in den im Versorgungsstreitverfahren erstatteten Gutachten des Landeskrankenhauses Meisenheim und der Rheinischen Landesklinik für Hirnverletzte sowie von Dr. M vertreten worden. Obwohl die epileptischen Anfälle selten aufgetreten seien, habe P. wegen dieser Anfallbereitschaft kein Kraftfahrzeug führen und den Beruf eines Vertreters nicht ausüben können. Außerdem sei er nach der Beurteilung im Landeskrankenhaus Meisenheim für eine mit "Publikumsverkehr" verbundene Arbeit schlechthin ungeeignet gewesen. Auf eine Beschäftigung als Buchhalter und auf andere Büroarbeiten habe er nicht verwiesen werden können, weil sie keine die Arbeitsunfähigkeit ausschließenden, der des Vertreters ähnlichen Tätigkeiten seien. Der Arbeitsunfähigkeit habe nicht entgegengestanden, daß die Gesundheitsstörung des P. dauernder Art gewesen sei und durch ärztliche Behandlung nicht habe behoben werden können. P. sei erst mit dem Anfall in der Nacht zum 1. August 1963, der seinen Zustand verschlimmert habe, arbeitsunfähig geworden. Dies sei nicht aus der Sicht später gewonnener ärztlicher Erkenntnisse zu beurteilen. Im Versorgungsverfahren habe man aus diesem Anfall auf die seit 1960 bestehende Anfallbereitschaft geschlossen; diese sei aber kein Versicherungsfall der Krankenversicherung gewesen wie die Erkrankung ab August 1963, die P. vor allem behandlungsbedürftig gemacht habe. Schließlich sei ein versichertes Beschäftigungsverhältnis nicht durch einen "mißglückten Arbeitsversuch" ausgeschlossen gewesen; denn P. habe über ein Jahr lang beschwerdefrei als Vertreter arbeiten und bei Beginn dieser Tätigkeit davon ausgehen können, daß ein Anfallsleiden, das dieser Arbeit entgegengestanden hätte, nicht bestanden habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 19 BVG i. V. m. § 182 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er vertritt weiterhin die Ansicht, P. sei in der Zeit, für die die Klägerin einen Ersatz der Krankenversicherungsleistungen begehre, nicht arbeitsunfähig gewesen. Durch den Anfall im August 1963 habe sich das Leiden nicht verschlimmert, weil schon früher solche Anfälle aufgetreten seien. Dies folge aus P.'s eigenen Angaben für die Gutachten des Landeskrankenhauses Meisenheim und der Landesklinik für Hirnverletzte in Bonn. Wegen dieses Zustandes hätte P. schon früher nicht als Vertreter arbeiten können. Auch im Versorgungsstreitverfahren sei keine Verschlimmerung ab August 1963 festgestellt worden. Problematisch sei nur gewesen, P. geeignet unterzubringen; er sei auf seinen Antrag vom 13. Juli 1964 dann auch nach § 26 BVG umgeschult worden.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Ergänzend zu dem angefochtenen Urteil vertritt die Klägerin u. a. die Ansicht, die "ärztliche Feststellung" der Arbeitsunfähigkeit habe nach § 182 RVO eine Tatbestandswirkung; ohne sie könne die Krankenkasse kein Krankengeld gewähren.

II

Die Revision des Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist aber sachlich nicht begründet.

Für die Entscheidung über den Klageanspruch ist es unerheblich, ob sich das maßgebende Recht nach der Zeit, in der die Klägerin die Leistungen an P. erbracht hat, oder nach dem Zeitpunkt der Klageerhebung richtet; die Rechtslage ist im wesentlichen unverändert geblieben. Die Klägerin, bei der P. versichert war, kann ihre Aufwendungen des Jahren 1963 nach § 19 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Halbs. 1 BVG in der damals geltenden Fassung des 1. NOG vom 27. Januar 1960 (BGBl I S. 453) vom Beklagten ersetzt verlangen, wenn der Zusammenhang der Krankheit mit einer Schädigung anerkannt war, und zwar u. a. nach § 19 Abs. 3 Satz 1 BVG bei ambulanter Behandlung das satzungsmäßige Krankengeld, wenn und solange Krankengeld gewährt wurde. Falls der ursächliche Zusammenhang erst während der Heilbehandlung anerkannt wurde, war der Ersatz frühestens von der Anmeldung des Versorgungsanspruchs an zu gewähren (§ 19 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BVG); das galt auch für die erst nach Abschluß der Heilbehandlung zustande gekommene Anerkennung (BSG SozR Nr. 2 zu § 19 BVG und Urteil des 9. Senats des BSG vom selben Tag - 26. August 1965 - 9 RV 52/64). Die Klägerin war nicht nur nach dem BVG gegenüber P. leistungspflichtig; sie hatte außerdem als zuständige Krankenkasse nach § 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO an P. Krankengeld zu gewähren, wenn ihn eine Krankheit arbeitsunfähig machte. Heilbehandlung nach dem BVG, die auch einen Einkommensausgleich entsprechend dem Krankengeld der Krankenversicherung umfaßte (§ 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und Satz 2, § 17 Abs. 1 BVG), hatte sie nach § 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 iVm § 10 Abs. 1 BVG wegen der anerkannten Schädigungsfolgen zu gewähren, um die Gesundheitsstörung oder die dadurch bewirkte Beeinträchtigung der Berufs- oder Erwerbsfähigkeit zu beseitigen oder wesentlich zu bessern, eine Zunahme des Leidens zu verhüten oder körperliche Beschwerden zu beheben (vgl. auch § 14 Abs. 3 Satz 1 BVG). Während des Leistungszeitraumes im Jahre 1964 und zur Zeit der Klageerhebung 1965 bestand nach dem am 1. Januar 1964 in Kraft getretenen 2. NOG vom 21. Februar 1964 (BGBl I S. 85) im wesentlichen die gleiche Rechtslage (§ 19 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und 3, § 10 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5, § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und Satz 2, § 14 Abs. 2 Satz 1 und 2 und Abs. 3 Satz 1, § 17 Abs. 1 BVG). Ungeachtet des Wortlauts der rein verfahrensrechtlichen Regelung des § 19 Abs. 3 Satz 1 BVG sind, nachdem das zur Heilbehandlung führende Leiden als Schädigungsfolge rückwirkend anerkannt worden ist, auch die vorher von der Klägerin erbrachten Leistungen zu ersetzen, soweit für dieselbe Zeit die Anerkennung wirksam ist (BMA, Bundesversorgungsblatt - BVBl - 1965, 3; BMA, BVBl 1967, 48, 51 zu dem insoweit inhaltsgleichen § 19 BVG idF des 3. NOG; BSG vom 26.8.1965 - 9 RV 52/64 -).

Demnach ist der Ersatzanspruch der Klägerin davon abhängig, daß P. in den Zeiten, in denen er 1963 und 1964 von der Klägerin Krankengeld bezog, infolge von cerebral-organischen Anfällen, die auf Grund des Urteils des SG rückwirkend ab Februar 1960 als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG anerkannt sind, arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung war. Das hat das LSG mit Recht angenommen. Zutreffend hat es diese Anspruchsvoraussetzungen selbständig geprüft. Die Stellungnahme des Vertrauensarztes zur Arbeitsunfähigkeit ist in diesem Verfahren nicht etwa als rechtsverbindlich und unüberprüfbar hinzunehmen. Der Vertrauensarzt hatte allein für die Verwaltung die medizinischen Gesichtspunkte der Arbeitsunfähigkeit ärztlich zu prüfen, d. h. zu begutachten (vgl. § 369 b Abs. 1 RVO idF des Krankenversicherungsänderungsgesetzes vom 27. Juli 1969 - BGBl I S. 946, 950, 952 -, vorher idF der Verordnung vom 14. Januar 1932 - RGBl I S. 19, 23 -); über die unbestimmten Rechtsbegriffe einer Arbeitsunfähigkeit und Krankheit haben dagegen im Rechtsstreit die Gerichte zu entscheiden (Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil II, 17. Aufl., § 182 RVO, Anm. 10, f, S. 17/302 f; Anm. 13, b, insbesondere S. 17/310; § 369 b, Anm. 8, S. 17, 876).

"Arbeitsunfähig" im Sinne der Krankenversicherung ist ein Versicherter, der infolge Krankheit seine Arbeit, d. h. die unmittelbar vor dem Versicherungsfall ausgeübte Erwerbstätigkeit, überhaupt nicht oder nur mit der Gefahr, in absehbarer Zeit seinen Zustand zu verschlechtern, fortsetzen kann (BSG 19, 179, 181; Peters, aaO, § 182 RVO, Anm. 10, a, S. 17/296). Wie das LSG, vom Beklagten nicht angegriffen und daher nach § 163 SGG für das Revisionsgericht verbindlich, festgestellt hat, konnte P. ab 2. August 1963 wegen der mit dem schweren nächtlichen Anfall in Erscheinung getretenen Anfallbereitschaft nicht mehr einen Personenkraftwagen fahren und mit Publikum verhandeln und daher die letzte Erwerbstätigkeit als Reisender, die solche Betätigungen erforderte, nicht weiterhin verrichten. Diesen Zustand hat das LSG zutreffend als Krankheit und als Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO bewertet.

Eine die Arbeitsunfähigkeit verursachende "Krankheit" in diesem Sinn begann mit dem Anfall, der auf einer nachträglich als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG anerkannten Anfallbereitschaft beruhte und in dem diese in Erscheinung trat. "Krankheit" im Sinne der Krankenversicherung ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand; sie wird, bedingt durch das versicherte Risiko, zum Versicherungsfall als Rechtsgrund für Ansprüche aus der Krankenversicherung, wenn sie Krankenhilfe (Krankenpflege oder Krankengeld) erfordert und als Voraussetzung dafür entweder ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arznei notwendig oder den Versicherten arbeitsunfähig macht oder beide Zustände zugleich verursacht (§ 182 Abs. 1 RVO; BSG 13, 134, 136; 18, 122, 125; 19, 179, 181 f; 30, 151, 152 f; Peters, aaO, § 182, Anm. 3, c, aa, insbesondere S. 17/266 - 3; 10, e; 12, a). Seit dem Anfall in der Nacht zum 1. August 1963 war die Krankheit des P. behandlungsbedürftig, wie das LSG unangegriffen festgestellt hat. Das bedeutete eine Verschlimmerung, die sich zu einer Erkrankung im Sinne der Krankenversicherung entwickelt hatte. Auf eine wesentliche Änderung der für die Entscheidung über den Versorgungsanspruch maßgebenden Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG kam es dabei nicht an. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt bietet keinen Anhalt dafür, daß eine bestimmte Häufigkeit und Folge von Anfällen schon vorher - in der Zeit, in der P. seit Juni 1962 als Reisender tätig war - zu einer Krankheit im Sinne der Krankenversicherung geführt hätte (RVA, Arbeiterversorgung 1916, 807). Die insoweit vom LSG getroffenen Feststellungen hat der Beklagte nicht mit einer formgerechten Rüge angegriffen. Seine Hinweise auf die von P. zu Versorgungsgutachten angegebenen leichten Anfälle, die fortlaufend aufgetreten seien, und auf gelegentliche große Anfälle bis 1958 oder 1960 stehen dieser Beurteilung für die Zeit ab 1962 nicht entgegen. Auch sonstige Umstände begründeten nach der medizinischen Erkenntnis von 1962 nicht nachweislich die Annahme einer Epilepsiebereitschaft, die in absehbarer Zeit zu einem Anfall hätte führen können und daher zu behandeln gewesen wäre und infolgedessen als "Krankheit" im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO beurteilt werden müßte (vgl. Peters, aaO, § 182, Anm. 3, c, bb, S. 17/267, 269). Die entgegenstehenden Erkenntnisse, die später zur rückwirkenden Anerkennung als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG geführt haben, wurden erst auf Grund des Anfalls vom 1. August 1963 gewonnen. Außerdem war der an diesem Tag eintretende Zustand deshalb eine "Krankheit" im Sinne des § 182 Abs. 1 RVO, weil er P. von diesem Zeitpunkt an arbeitsunfähig machte.

Zwar trifft der Hinweis des Beklagten zu, daß eine Arbeitsunfähigkeit nicht eintreten kann, wenn sie schon bestanden hat; die Krankheit muß den Versicherten arbeitsunfähig gemacht haben (Peters, aaO, § 182, Anm. 10, e; Martens, WzS 1972, 97). Vor dem 1. August 1963 konnte aber P. objektiv seinem Beruf nachgehen, und es bestand für ihn kein Anhalt dafür, daß er schon damals nicht hätte Auto fahren und mit Publikum verkehren können.

Entgegen der Ansicht des Beklagten war die Arbeitsunfähigkeit in der Zeit ab 1. August 1963 nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß P. trotz der festgestellten Erkrankung eine der vor Juni 1962 ausgeübten kaufmännischen Tätigkeiten oder - nach einer Umschulung - eine andere zukünftig hätte verrichten können. Da zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit gehört, daß der Erkrankte "seine" Arbeit nicht mehr leisten kann, ist die Arbeitsunfähigkeit nach seiner letzten Erwerbstätigkeit zu beurteilen, d. h. nach dem letzten oder einem ähnlichen Arbeitsplatz, nicht aber nach andersartigen Tätigkeiten innerhalb einer auch die letzte Tätigkeit umfassenden Berufsgruppe, hier, z. B. der der kaufmännischen Angestellten; solche weitergehenden Verweisungsmöglichkeiten bestehen bei der Beurteilung der MdE "im allgemeinen Erwerbsleben" im Sinne des § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG oder der Berufsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung (§ 1246 RVO, § 23 Angestelltenversicherungsgesetz), die ein andersartiges Versicherungsrisiko schützt (BSG 19, 179, 181 f; 20, 135, 137 f; 26, 288, 290, 292; Peters, aaO, § 182, Anm. 10, a, S. 17/297; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II, S. 390 d), nicht jedoch bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeit als Reisender, die P. zuletzt verrichtete, wies zahlreiche Besonderheiten gegenüber einer kaufmännischen Bürotätigkeit als Buchhalter oder in ähnlicher Stellung auf.

Schließlich stand einer Arbeitsunfähigkeit und einer sie verursachenden Krankheit als Versicherungsfall nicht entgegen, daß es sich bei der Anfallbereitschaft um einen Dauerzustand handelte, der möglicherweise nicht völlig behoben werden konnte (BSG 13, 134, 136; 26, 240 und 288; 30, 151; BSG SozR Nr. 23 zu § 184 RVO, S. Aa 17 R; Peters, § 182, Anm. 3, c, bb, S. 17/267, 270; Anm. 10, a, S. 17/298).

Ein "mißglückter Arbeitsversuch", der ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, damit ein Versicherungsverhältnis zwischen P. und der Klägerin und einen Krankengeldanspruch des P. aus der Krankenversicherung ausgeschlossen hätte, einen Ersatzanspruch aber nur aus § 19 BVG, dagegen nicht aus § 20 BVG, lag nicht vor, wie das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden hat. Weder leistete P. als Reisender bloß Arbeit ohne wirtschaftlichen Wert, noch bestand bei der Aufnahme dieser tatsächlich über ein Jahr lang verrichteten Tätigkeit die Gefahr einer Verschlimmerung in naher Zukunft, noch stand bereits im Juni 1962 fest, daß P. die Beschäftigung binnen kürzester Frist wieder aufgeben müsse (BSG SozR Nr. 61 und 63 zu § 165 RVO).

Nach alledem erweist sich die Revision des Beklagten als unbegründet, so daß sie zurückzuweisen war (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Außergerichtliche Kosten sind nach § 193 Abs. 4 SGG nicht zu erstatten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670214

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