Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagter und Revisionsbeklagter

 

Tatbestand

I.

Der Kläger erhielt von der Hessen-Nassauischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft (BG) wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 11. Dezember 1951 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (M.d.E.) um 25 v.H. Auf seinen Antrag gewährte die BG ihm gemäß § 604 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Kapitalabfindung und stellte die Rente vom 1. März 1965 an ein. Wegen eines weiteren Arbeitsunfalles am 27. August 1971 gewährte die Verwaltungs-BG dem Kläger Verletztenrente vom 1. Dezember 1971 bis zum 31. August 1972 nach einer M.d.E. um 40 v.H., vom 1. September 1972 bis zum 31. August 1973 nach einer M.d.E. um 30 v.H. und vom 1. September 1973 an nach einer M.d.E. um 20 v.H.

Den Antrag des Klägers auf Wiedergewährung seiner abgefundenen Rente lehnte der ab 1. Januar 1970 für die Entschädigungsansprüche aus dem Arbeitsunfall vom 11. Dezember 1951 zuständige Beklagte ab, weil der Kläger nicht Schwerverletzter im Sinne von § 606 RVO sei.

Der Kläger hat Klage erhoben. Während des Klageverfahrens hat der Beklagte mit Bescheid vom 26. März 1976 festgestellt, daß der abgefundene Verletztenrentenanspruch wegen der zusätzlichen Folgen des Arbeitsunfalles vom 27. August 1971 wieder aufgelebt sei, und dementsprechend unter Anrechnung der Abfindungssumme und Berücksichtigung des Mindestrentenanspruches bis zum 31. August 1973 wieder Rente gewährt. Den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies der Beklagte zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage auf zeitlich unbegrenzte Weiterzahlung der wiederaufgelebten Rente durch Urteil vom 10. Juni 1976 abgewiesen, da der abgefundene Rentenanspruch nur solange wieder auflebe, wie der Verletzte Schwerverletzter im Sinne des § 606 RVO sei.

Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. März 1977 zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Zu den Voraussetzungen des § 606 RVO gehöre die andauernde Schwerverletzteneigenschaft. Die Begriffsbestimmung Schwerverletzter in § 583 Abs. 1 RVO gelte uneingeschränkt für den gesamten Bereich der Unfallversicherung. Danach sei ein Versicherter nur solange Schwerverletzter als er eine Rente von 50 oder mehr v.H. der Vollrente oder mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung beziehe, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichten. Es komme entscheidend auf die Dauer des Rentenbezugs an. Das entspreche auch dem Zweck des § 606 RVO, solche Versicherte, die nachträglich wegen der Folgen von Arbeitsunfällen um 50 oder mehr v.H. in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert seien, in den vollen Genuß der Leistungen für Schwerverletzte kommen zu lassen. Da diese Zusatzleistungen früher nicht abgefunden gewesen seien, sei es notwendig und gerechtfertigt, diese nunmehr schwerverletzten Versicherten in den Bezug auch der abgefundenen Rente zu setzen. Auch der Gesetzeswortlaut lasse keine andere Auslegung zu. Da die zeitliche Abhängigkeit von dem Rentenbezug in entsprechender Höhe bereits in § 583 Abs. 1 RVO normiert sei, wäre es überflüssig, außer dem Begriff "Schwerverletzter" ein zweites Mal das Wort "solange" zu verwenden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Er trägt vor: Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß ein gemäß § 606 RVO wiederaufgelebter Anspruch auf Verletztenrente nur für die Dauer der Schwerverletzteneigenschaft bestehe. § 583 Abs. 1 RVO enthalte keine eigentliche Definition der Schwerverletzteneigenschaft. § 606 RVO betreffe außerdem den Hauptanspruch auf Verletztenrente. Dabei lasse der Wortlaut an zwei Stellen deutlich erkennen, daß nicht auf eine zeitliche Beschränkung abgehoben sei. Der Gesetzgeber habe nicht die Formulierung gewählt "solange der Verletzte Schwerverletzter ist".

Der Kläger beantragt,unter Aufhebung der Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. März 1977 und des Sozialgerichts Fulda vom 10. Juni 1976 sowie des Bescheides des Beklagten vom 24. August 1973 den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 26. März 1976 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 1976 zu verurteilen, dem Kläger die Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Dezember 1951 über den 31. August 1973 hinaus zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine ausdrückliche zeitliche Beschränkung des Wiederauflebens der Rente sei entbehrlich gewesen, da dies bereits daraus folge, daß Schwerverletzter ein Verletzter nur solange sei, wie er Rente nach einer M.d.E. um 50 v.H. und mehr oder mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung beziehe, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichten.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Revision ist begründet.

Die nach § 604 RVO abgefundene Rente des Klägers wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Dezember 1951 ist gemäß § 606 RVO in vollem Umfang wieder aufgelebt, weil der Kläger nach der Abfindung durch die Folgen des Arbeitsunfalles vom 27. August 1971 Schwerverletzter wurde. Wann die wiederaufgelebte Rente neu festgestellt werden darf, richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften über die Neufeststellung von Leistungen, insbesondere nach § 622 RVO. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist § 606 RVO keine spezielle Regelung des Wegfalls der wiederaufgelebten Rente zu entnehmen.

Das SG und das Berufungsgericht sind zwar zutreffend davon ausgegangen (vgl. auch das Urteil, des Senats vom 28. Juli 1977 - 2 RU 29/76), daß Schwerverletzter auch im Sinne des § 606 RVO ein Verletzter ist, solange er eine Rente nach einer M.d.E. um 50 v.H. oder mehr oder - wie hier - mehrere Verletztenrenten bezieht, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichen (s. § 583 Abs. 1 RVO). Der Kläger war demnach in der Zeit vom 1. Dezember 1971 bis zum 31. August 1973 Schwerverletzter. Daraus ergeben sich jedoch keine rechtlichen Anhaltspunkte für die Beurteilung der hier entscheidenden Frage, ob eine abgefundene Rente gemäß § 606 RVO nur solange auflebt, wie der Versicherte Schwerverletzter ist.

Nach § 606 Satz 1 RVO lebt die Rente auf Antrag in vollem Umfang wieder auf, wenn der Verletzte Schwerverletzter "wird". Eine Einschränkung, daß dies nur solange gilt, wie der Rentenberechtigte Schwerverletzter ist, enthält diese Vorschrift nicht. Sie liegt auch nicht darin, wie das Berufungsgericht meint, daß das Wiederaufleben der Rente gemäß § 606 RVO die Schwerverletzteneigenschaft voraussetzt; denn diese Voraussetzung betrifft das Wiederaufleben der abgefundenen Verletztenrente und nicht die Dauer der Gewährung der in vollem Umfang wiederaufgelebten Rente.

Einer zeitlichen Begrenzung des wiederaufgelebten Rentenanspruches bis zum Wegfall der Schwerverletzteneigenschaft widerspricht neben dem Gesetzeswortlaut auch die Systematik des § 606 RVO. Aus dem Wiederaufleben der Rente in vollem Umfang wird mit Recht geschlossen, daß die wiederaufgelebte Rente wiederum abgefunden werden kann (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl., S. 594 f.; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 606 Anm. 7 Buchst. c). Die von dem Beklagten vertretene Auffassung würde dazu führen, daß die Verletzten, die sich diese Rente erneut abfinden lassen, bei einer wesentlichen Besserung ihrer Unfallfolgen günstiger gestellt wären als diejenigen, die eine - erneute - Rentenabfindung z.B. wegen der gemäß § 607 RVO zu erfüllenden Voraussetzungen nicht verwirklichen können.

Wie ein Vergleich zwischen § 605 und § 606 RVO zeigt, ist nicht nur innerhalb des § 606 RVO die Gesetzessystematik gegen eine zeitliche Begrenzung der nach § 606 RVO wiederaufgelebten Rente für die Dauer der Schwerverletzteneigenschaft anzuführen. Nach § 605 RVO ist der Anspruch auf Verletztenrente trotz der Abfindung "insoweit begründet", als die Folgen des Arbeitsunfalles sich nachträglich wesentlich verschlimmern. Anders als im Rahmen des § 606 RVO bleibt demnach gemäß § 605 RVO der Anspruch hinsichtlich der abgefundenen Rente erloschen; es entsteht lediglich ein Rentenanspruch, soweit er durch die Verschlimmerung begründet ist. Demgegenüber unterscheidet sich § 606 RVO von dieser Regelung schon darin, daß der Rentenanspruch in vollem Umfang wieder auflebt. Ebenso kommt anders als nach § 606 RVO im Rahmen des § 605 RVO eine Anrechnung der Abfindung auf die zu zahlende Rente nicht in Betracht. Die von den Vorinstanzen vertretene Auslegung des § 606 RVO kann, wie auch der vorliegende Fall erkennen läßt (Rest der Abfindungssumme 1.069,-- DM dazu führen, daß der Verletzte z.B. durch einen längeren Bezug einer kurz nach der Abfindung wiederaufgelebten Rente die Abfindung zurückgezahlt hätte, bei einem Verlust der Schwerverletzteneigenschaft dennoch die wiederaufgelebte und ihm bereits voll ausgezahlte Rente wieder verlieren würde.

Gegen die vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Auslegung des § 606 RVO ist außer dem Wortlaut und der Systematik dieser Vorschrift sowie dem Vergleich zwischen § 605 und § 606 RVO deren Entstehungsgeschichte anzuführen. Nach 616 Abs. 3 Satz 2 RVO i.d.F. bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl. I 241) lebte die Rente auf, "solange" die Folgen des Unfalles nachträglich eine wesentliche Verschlimmerung verursachten. Diese zeitliche Begrenzung ist in § 606 RVO nicht übernommen worden. In der amtlichen Begründung zu § 603 des Entwurfes (= § 606 RVO) ist ausgeführt, bei einem Verletzten, der durch eine Verschlimmerung der Unfallfolgen Schwerverletzter werde, erscheine es gerechtfertigt, die Rechtslage wiederherzustellen, die ohne die Abfindung bestehen würde (s. BT-Drucks. IV/120, S. 60). In dem Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik (BT-Drucks. IV/938 - neu -, S. 16) wird es für erforderlich gehalten, bei Eintritt der Schwerverletzteneigenschaft die wiederaufgelebte Rente so anzupassen, "als wenn sie nicht abgefunden worden wäre". Der nach der Entstehungsgeschichte verfolgte Zweck, den Verletzten in den vollen Genuß der besonderen Leistungen für Schwerverletzte kommen zu lassen, rechtfertigt entgegen dem angefochtenen Berufungsurteil gleichfalls nicht, die zeitliche Beschränkung des Wiederauflebens der Rente für die Dauer der Schwerverletzteneigenschaft. Auch eine abgefundene Rente ist bei der Prüfung, ob der Verletzte gemäß § 583 Abs. 1 RVO Schwerverletzter ist, zu berücksichtigen (s. BSG SozR 2200 § 600 Nr. 1; BSG Urteil vom 28. Juli 1977 - 2 RU 29/76; Brackmann a.a.O. S. 580c). Insoweit hätte es danach des Wiederauflebens der abgefundenen Rente nicht bedurft, um den Verletzten in den Genuß der zusätzlichen Leistungen für Schwerverletzte zu bringen.

Der Beklagte war demnach unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen zu verurteilen, dem Kläger über den 31. August 1973 hinaus Verletztenrente aus Anlaß der Folgen des Arbeitsunfalles vom 11. Dezember 1951 unter Anrechnung der Abfindungssumme gemäß § 606 Satz 2 und 3 RVO zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518732

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