Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf Verletztenrente lebt nach RVO § 606 S 1 Alt 2 erst in dem Zeitpunkt wieder auf, von dem an der Verletzte wegen der Folgen eines oder mehrerer anderer Unfälle Verletztenrente aus der UV (tatsächlich) bezieht, deren Hundertsätze mit dem Hundertsatz der abgefundenen Rente zusammen die Zahl 50 erreichen.

 

Normenkette

RVO § 606 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 28.01.1976; Aktenzeichen L 4 U 21/74)

SG Lübeck (Entscheidung vom 19.02.1974; Aktenzeichen S 1 U 164/72)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1976 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger, der wegen eines im Jahre 1960 erlittenen Arbeitsunfalls Anspruch auf Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. hatte, ist von der Beklagten nach § 616 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. durch Bescheid vom 14. Januar 1963 abgefunden worden. Die Rente fiel mit Ende Januar 1963 weg. Nachdem ihm die Norddeutsche Holz-Berufsgenossenschaft (BG), Bezirksverwaltung Bremen, wegen der Folgen eines am 15. Januar 1971 erlittenen Arbeitsunfalls Rente nach einer MdE von zuletzt 10 v. H. (Bescheid vom 16. Juni 1971) und wegen der Folgen eines am 23. Juni 1971 erlittenen Arbeitsunfalls ab 29. November 1971 Rente nach einer MdE von 25 v. H. gewährte (Bescheid vom 24. Februar 1972), beantragte der Kläger bei der Beklagten die Wiedergewährung der abgefundenen Verletztenrente wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen. Nach anfänglicher Ablehnung gewährte die Beklagte dem Kläger während des Berufungsverfahrens durch Bescheid vom 27. Juni 1975 Rente nach einer MdE von 20 v. H. ab 29. November 1971. Mit seinem Begehren, die Rente bereits ab 23. Juni 1971, dem Tag des dritten Unfalls, wiederzugewähren, ist der Kläger ohne Erfolg geblieben (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts - LSG - vom 28. Januar 1976). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die abgefundene Rente sei nach § 606 Satz 1 2. Alternative RVO wieder aufgelebt, da der Kläger durch die beiden im Jahre 1971 erlittenen Arbeitsunfälle Schwerverletzter geworden sei. Da Schwerverletzter nach § 583 Abs. 1 RVO derjenige sei, der mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung beziehe, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichen, lebe die abgefundene Rente erst mit dem 29. November 1971 wieder auf. An diesem Tag sei der Kläger durch die Gewährung einer Rente wegen des dritten Arbeitsunfalls vom 23. Juni 1971 Schwerverletzter geworden. Entscheidend sei der Tag des Beginns der Rentenzahlung und nicht der Unfalltag.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat das Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: In allen Fällen, in denen der Gesetzgeber die Anspruchsvoraussetzungen für eine Leistung von der Schwerverletzteneigenschaft mit dem zusätzlichen Merkmal des Verletztenrentenbezuges abhängig mache, setze er hinter das Wort "Schwerverletzter" die Bezeichnung "§ 583 Abs. 1", so in § 582 und § 600 Abs. 1 RVO. Dadurch werde zum Ausdruck gebracht, daß die Schwerverletztenzulage und die Witwenbeihilfe, ebenso wie die Kinderzulage, nicht allein von der Tatsache abhängen, daß durch die erwerbsmindernden Unfallfolgen ein Mindestgrad überschritten werde, sondern es müsse als weitere Anspruchsvoraussetzung ein entsprechender Rentenbezug hinzutreten. In § 606 RVO fehle aber ein solcher Hinweis auf § 583 Abs. 1 RVO hinter dem Wort "Schwerverletzter". Das Fehlen sei sachlich berechtigt und gesetzgeberisch notwendig, da anderenfalls die Voraussetzungen zum Wiederaufleben abgefundener Verletztenrenten in vielen Fällen überhaupt nicht erfüllbar wären. Auch im vorliegenden Fall hätte ein Wiederaufleben der abgefundenen Rente nicht erfolgen können, wenn die Rechtsauslegung des LSG richtig wäre. Denn er habe nur je eine Rente nach einer MdE von 10 v. H. und von 25. v. H. tatsächlich bezogen. Hinsichtlich der Rente nach einer MdE von 20 v. H. aus dem ersten Arbeitsunfall sei der Anspruch durch die Abfindung erloschen. Damit das gesetzgeberisch erwünschte Wiederaufleben erfolgen könne, müsse bei der Schwerverletzteneigenschaft im Sinne des § 606 RVO von einem entsprechenden Rentenbezug abgesehen werden und ausreichend sein, daß die Hundertsätze der jeweiligen Unfälle zusammengezählt die Zahl 50 ergeben.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Januar 1976 sowie des Sozialgerichts Lübeck vom 19. Februar 1974 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 27. Juni 1975 zu verurteilen, die ihm für den Unfall vom 20. Juni 1960 zustehende Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. bereits ab 23. Juni 1971 wieder aufleben zu lassen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Der Anspruch des Klägers auf Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls aus dem Jahre 1960 ist erst mit dem 29. November 1971 wieder aufgelebt.

Nach § 606 Satz 1 2. Alternative RVO lebt der Anspruch auf eine nach § 604 RVO abgefundene Verletztenrente auf Antrag in vollem Umfang wieder auf, wenn der Verletzte durch Folgen eines anderen Arbeitsunfalls Schwerverletzter wird. Diese Vorschrift gilt auch für Unfälle, die vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - vom 30. April 1963 (BGBl I 241) am 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) eingetreten und nach § 616 Abs. 2 RVO a. F. abgefunden worden sind (BSGE 36, 271; Urteil vom 9. Dezember 1976 - 2 RU 85/74 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Der Begriff "Schwerverletzter" findet sich in der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) in den §§ 582 (Schwerverletztenzulage), 583 (Kinderzulage), 600 (Witwen- oder Witwerbeihilfe) und 606 RVO (Wiederaufleben der abgefundenen Rente bei Schwerverletzten). Eine Definition des Begriffs "Schwerverletzter" enthält § 583 Abs. 1 RVO. Danach ist Schwerverletzter der Verletzte, der eine Rente von 50 v. H. der Vollrente oder mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung bezieht, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichen. In den §§ 582 und 600 Abs. 1 RVO ist hinter dem Wort "Schwerverletzter" jeweils in Klammern § 583 Abs. 1 RVO eingefügt und damit ausdrücklich auf die dortige Definition des Begriffs "Schwerverletzter" verwiesen. Diese Definition wurde erstmalig durch das Zweite Gesetz über Änderungen in der UV vom 14. Juli 1925 (RGBl I 97) in § 559 b RVO a. F. (Kinderzulage) eingefügt und auf sie auch schon damals in § 595 a RVO a. F. (Witwenbeihilfe) Bezug genommen. Sie gilt seitdem als Legaldefinition des Begriffs "Schwerverletzter" im Sinne des Dritten Buches der RVO (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 580 b). Das UVNG ist bei der Begriffsbestimmung und der Bezugnahme auf sie verblieben; sie wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens auch bei der Regelung der Schwerverletztenzulage (§ 581 a des Entwurfs; jetzt § 582 RVO) eingefügt. In der von Anfang an im Entwurf eines UVNG enthaltenen Vorschrift über das Wiederaufleben der abgefundenen Rente bei Schwerverletzten (§ 603 des Entwurfs; jetzt § 606 RVO) fehlt dagegen eine entsprechende Bezugnahme. Die Materialien des UVNG (BT-Drucks. IV/120 und IV 938 - neu -) geben keinen Anhalt dafür, warum hier eine Bezugnahme auf § 583 Abs. 1 RVO unterblieben ist. Sie lassen aber auch nicht erkennen, daß der Begriff "Schwerverletzter" in den §§ 582 und 600 RVO einerseits und in § 606 RVO andererseits eine unterschiedliche Bedeutung haben soll.

Der erkennende Senat ist entgegen der Revision nicht der Auffassung, daß das Fehlen einer Bezugnahme auf § 583 Abs. 1 RVO in § 606 RVO sachlich geboten sei, weil anderenfalls die Voraussetzungen für das Wiederaufleben abgefundener Verletztenrenten in vielen Fällen nicht erfüllbar wären. Die Schwerverletzteneigenschaft erfordert zwar nach § 583 Abs. 1 RVO, daß der Verletzte aus der Unfallversicherung eine Rente von 50 v. H. oder mehr von Hundert der Vollrente oder mehrere Verletztenrenten, deren Hundertsätze die Zahl 50 erreichen, tatsächlich bezieht; jedoch wird, was die Revision nicht berücksichtigt, auch eine abgefundene Rente bezogen. Bereits das frühere Reichsversicherungsamt (RVA) hat entschieden, daß die Abfindung einer Rente nur eine besondere, hinsichtlich der Art der Auszahlung der Entschädigung abweichende Form des Rentenbezugs darstelle (AN 1931, 323). Das Schrifttum und die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind dieser Auffassung gefolgt (BSGE 42, 107, 108 mit Nachweisen). Es liegen daher keine sachlichen Gründe vor, die es erfordern, in § 606 RVO den Begriff "Schwerverletzter" anders zu verstehen, als er in § 583 Abs. 1 RVO definiert ist. Das Fehlen einer Verweisung in § 606 RVO hinter dem Wort Schwerverletzter auf die Definition in § 583 Abs. 1 RVO läßt jedenfalls nicht den Schluß zu, daß, ähnlich wie bei der Gewährung einer kleinen Rente nach § 581 Abs. 3 RVO, allein schon eine durch Arbeitsunfall eingetretene MdE, deren Hundertsatz mit dem der abgefundenen Rente zugrunde liegenden zusammen die Zahl 50 erreicht, zum Wiederaufleben der abgefundenen Rente genügen soll. Im Recht der kleinen Renten sind nach § 581 Abs. 3 Satz 3 RVO den Arbeitsunfällen Unfälle und Entschädigungsfälle nach anderen Gesetzen gleichgestellt, obwohl diese Gesetze (z. B. § 31 BVG) die Gewährung einer Entschädigung meist von einem höheren Grad der MdE abhängig machen, als dafür in der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlich ist. Würde hier der Anspruch auf eine kleine Rente davon abhängig gemacht, daß der Verletzte wegen anderer Unfälle (schädigende Ereignisse) eine Rente tatsächlich bezieht, ließe sich der mit § 581 Abs. 3 RVO verfolgte Zweck, Folgen von Unfällen, die die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um mindestens 10 v. H. mindern, aber für sich allein einen rentenberechtigenden Grad nicht erreichen, ebenfalls zu entschädigen, nicht erreichen. Nach § 606 Satz 1 2. Alternative RVO kommen dagegen für das Wiederaufleben einer abgefundenen Rente nur andere Arbeitsunfälle in Betracht, wie auch nach der Definition des § 583 Abs. 1 RVO Schwerverletzter in der gesetzlichen UV nur ein Verletzter durch den Bezug von Renten aus der UV sein kann, Unfälle und Entschädigungsfälle nach anderen Gesetzen hier den Arbeitsunfällen nicht gleichgestellt sind (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 3 b zu § 583 und 5b zu § 606). In § 606 RVO besteht daher schon aus sachlichen Gründen kein Anlaß, an die Regelung in § 581 Abs. 3 RVO anzuknüpfen. Beim Wiederaufleben der abgefundenen Rente gemäß § 606 Satz 1 2. Alternative RVO ist entsprechend der Begriffsbestimmung in § 583 Abs. 1 RVO am tatsächlichen Rentenbezug festzuhalten.

Die Revision des Klägers mußte deshalb zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653205

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