Streitigkeiten darüber, ob Richtlinien dem Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG unterliegen, entscheidet das Arbeitsgericht im Beschlussverfahren (§ 2a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 i. V. m. §§ 80 ff. ArbGG). Die Rechtmäßigkeit von Auswahlrichtlinien ist als Vorfrage zu entscheiden, wenn die Zustimmung des Betriebsrats zu einer Einstellung, Versetzung oder Umgruppierung wegen Verstoßes gegen eine Auswahlrichtlinie verweigert wird (§ 99 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG) oder wenn im Kündigungsschutzverfahren die Sozialwidrigkeit der Kündigung mit einer Verletzung der Auswahlrichtlinien begründet wird (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 lit. a KSchG). Im ersten Fall erfolgt die Entscheidung im Rahmen eines arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahrens, im zweiten Fall im Rahmen eines Urteilsverfahrens.[1]

Die Verwendung einseitig aufgestellter Richtlinien vom Arbeitgeber ohne Zustimmung des Betriebsrats führt nicht automatisch zur Unwirksamkeit der jeweiligen personellen Einzelmaßnahme. Zwar hat das BAG in seiner Entscheidung vom 26.7.2005 nicht ausdrücklich festgestellt, dass die Verletzung des Mitbestimmungsrechts nach § 95 BetrVG keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der einzelnen Kündigungen hat. Diese Schlussfolgerung ergibt sich jedoch aus seiner Argumentation. Es hat einen Unterlassungsanspruch des Betriebsrats anerkannt, weil dem Arbeitgeber ansonsten für den Fall der Verletzung des Mitbestimmungsrechts – anders als etwa im Fall des § 102 BetrVG oder des § 111 BetrVG – keine Sanktionen drohten. Es hängt somit davon ab, ob der Betriebsrat im Beschlussverfahren einen Unterlassungsantrag stellt. Dabei muss der Betriebsrat nicht die Erfüllung der Voraussetzung eines "groben" Verstoßes im Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG abwarten. Er kann sein Begehren auf den allgemeinen Unterlassungsanspruch stützen, der auch dann zum Zuge kommt, wenn keine grobe Pflichtverletzung vorliegt, weil der Arbeitgeber in einer schwierigen und ungeklärten Rechtsfrage eine bestimmte, sich später als unzutreffend herausstellende Rechtsansicht vertreten hat.[2]

Diese Auffassung ist durchaus umstritten. Nach Auffassung des LAG Köln[3] begründet die Verwendung einer nicht mitbestimmten Auswahlrichtlinie bei einer Einstellung – anders als der Verstoß gegen eine mitbestimmte Richtlinie – kein Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG.[4] Der gegenteiligen Auffassung ist zuzugestehen, dass die Gleichsetzung von Richtlinienverstoß und Aufstellung einer Richtlinie ohne Zustimmung des Betriebsrats durchaus Sinn macht. Auch wenn der Betriebsrat zwar einen entsprechenden Unterlassungsanspruch geltend machen könnte, würde aber die personelle Maßnahme durch Zustimmungsverweigerung nicht verhindert werden können. Arbeitgeber könnten damit zunächst über eigens aufgestellte Richtlinien das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats aushebeln, solange die Richtlinie nicht über einen Unterlassungsanspruch außer Kraft gesetzt wurde. Abzuwarten bleibt, wie sich das BAG im Ergebnis positioniert (der Rechtsstreit ist beim BAG unter 1 ABR 1/22 anhängig).

Soweit eine Auswahlrichtlinie zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber vereinbart ist, berechtigt jedenfalls jeder Verstoß den Betriebsrat, seine Zustimmung zu der vom Arbeitgeber beabsichtigten Einstellung oder Versetzung[5] mit der Begründung zu verweigern, dass die personelle Maßnahme gegen eine Richtlinie nach § 95 BetrVG verstoße (§ 99 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG). Ein eventueller Antrag des Arbeitgebers auf Ersetzung der fehlenden Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 99 Abs. 4 BetrVG hat nur dann Erfolgsaussicht, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsgericht von der Rechtswidrigkeit der vereinbarten Auswahlrichtlinie überzeugen kann. Ein Verstoß gegen eine Kündigungsrichtlinie berechtigt den Betriebsrat zum Widerspruch mit der Begründung, dass die Kündigung gegen eine Richtlinie nach § 95 BetrVG verstößt (§ 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG). Ein nach § 102 Abs. 5 BetrVG möglicher Antrag des Arbeitgebers auf Entbindung von der Weiterbeschäftigungspflicht könnte dann nur erfolgreich sein, wenn die Richtlinie offensichtlich rechtswidrig wäre. Die Verpflichtung zur Aufhebung einer Versetzung hindert zudem den Arbeitgeber, eine erneute, diesmal mitbestimmungskonforme Versetzung vorzunehmen, ohne die personelle Einzelmaßnahme zuvor aufgehoben zu haben.[6]

Hierfür genügt es nicht, wenn der Arbeitgeber dem Betriebsrat lediglich nachträglich mitteilt, er nehme die personelle Einzelmaßnahme "zurück" und führe sie nunmehr nur noch "vorläufig" durch. Erforderlich ist vielmehr, dass der Einsatz des betroffenen Arbeitnehmers – zumindest vorübergehend bis zur Einleitung eines etwaigen neuen Beteiligungsverfahrens nach §§ 99 Abs. 1100 Abs. 2 BetrVG – tatsächlich unterbleibt.[7]

[1] Richardi/Thüsing, § 95 Rz. 72.
[3] Beschluss v. 19.11.2021, 9 TaBV 15/21, ArbRAktuell 2022 S. 82 m. Anm. Philipp.
[5] Zum Begriff vgl. BAG, Beschluss v. ...

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