EuGH urteilt zur Höchstüberlassungsdauer bei Zeitarbeit

Der EuGH gibt in einem neuen Urteil wichtige Hinweise zur Höchstüberlassungsdauer in Deutschland, nachdem ihm das LAG Berlin Brandenburg in einem Vorabentscheidungsersuchen die Frage vorgelegt hatte, wie der Begriff "vorübergehend" im Sinne der europäischen Leiharbeitsrichtlinie auszulegen ist.

Seit Jahrzehnten ist in Deutschland politisch und rechtlich umstritten, wie lange ein Einsatz eines Leiharbeitnehmers bei einem Kunden maximal dauern darf, ohne dass ein Arbeitsverhältnis zum Kunden entsteht. Vor der Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) gab es hierzu nur die abstrakte Festlegung, dass ein Leiharbeitnehmer "vorübergehend" – das heißt jedenfalls nicht dauerhaft – an einen Kunden verliehen werden darf. Der Gesetzgeber hat diese abstrakte Grenze seit dem 1. April 2017 mit einer Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten konkretisiert, die jedoch – wie in vielen Branchen auch üblich – durch Tarifverträge der Entleiher ausgeweitet werden kann. Ob damit auch ein ununterbrochener Einsatz eines Leiharbeitnehmers bei einem Kunden über mehr als viereinhalb Jahre hinweg noch mit den Grundgedanken der europäischen Leiharbeitsrichtlinie zu vereinbaren ist, war Gegenstand einer mit Spannung erwarteten Entscheidung des EuGH (Az. C-232/20).

Worum ging es in dem Rechtsstreit?

Der Kläger, ein Leiharbeitnehmer aus Deutschland, wurde ab September 2014 an einen Automobilhersteller überlassen, der ihn als Metallarbeiter an einem Arbeitsplatz in der Motorenfertigung in Berlin für insgesamt 55 Monate fest einsetzte. Diese Einsatzzeit beim Kunden wurde lediglich im April 2016 aufgrund einer zweimonatigen Elternzeit des Klägers unterbrochen.

Das LAG Berlin Brandenburg hatte nun darüber zu entscheiden, ob sich der Kläger zu Recht auf die Begründung einer Festanstellung beim Kunden berufen durfte mit dem Argument, dass eine Überlassungsdauer von 55 Monaten nicht mehr als "vorübergehend" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG angesehen werden könne.

Die Fragen des LAG Berlin Brandenburg an den EuGH

Da der Begriff "vorübergehend" anhand der Vorgaben der europäischen Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG vom 19. November 2008 auszulegen war, legte das LAG Berlin Brandenburg dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen unter anderem folgende Fragen vor:

Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als "vorübergehend" im Sinne des Art. 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird?

Das LAG Berlin Brandenburg begründete diese Frage damit, dass man das Merkmal "vorübergehend" dahin verstehen könne, dass es ausschließlich auf die individuelle Überlassungsdauer des Leiharbeitnehmers ankommt. Denkbar sei aber auch, dass sich dieses Merkmal auf die zu besetzenden Arbeitsplätze bezieht und dahin zu verstehen sei, dass Leiharbeitnehmer beim entleihenden Unternehmen nicht auf Dauerarbeitsplätzen ohne Vertretungsbedarf eingesetzt werden dürfen.

Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers über 55 Monaten als noch "vorübergehend" im Sinne des Art. 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen?

Zu diesem Punkt vertrat das LAG die Auffassung, dass trotz tarifvertraglicher Regelung ein Überlassungszeitraum von 55 Monaten nicht mehr vorübergehend sei. Möglicherweise könne für das Merkmal "vorübergehend" aber danach differenziert werden, ob ein Sachgrund (Vertretungsbedarf, vorübergehende Auftragsspitze oder Ähnliches) vorliegt oder ob dies nicht der Fall ist.

Besteht für einen Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, wenn die Überlassung auf einen Dauerarbeitsplatz erfolgt bzw. nicht mehr "vorübergehend" ist?

Diese Frage stellte das LAG nur für den Fall, dass der strittige Einsatz von 55 Monaten nicht mehr als "vorübergehend" anzusehen ist. Die Frage ist heute in § 10 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1b AÜG in dem Sinne geklärt, dass die Überschreitung der Überlassungshöchstdauer zu einem fingierte Arbeitsverhältnis beim Kunden führt. Da der Fall aber auch Einsatzzeiten des Leiharbeitnehmers vor April 2017 betraf, stellte sich für das Gericht zu Recht die Frage, ob aus der Leiharbeitsrichtlinie selbst eine entsprechende Sanktion abgeleitet werden kann. 

Die Antworten des EuGH

Diese für die Praxis der Arbeitnehmerüberlassung in Deutschland außerordentlich relevanten Fragen hat der EuGH in weitestgehender Übereinstimmung mit dem Votum des Generalanwalts wie folgt – zumindest teilweise – beantwortet: 

Verstößt schon der Einsatz auf einem Dauerarbeitsplatz gegen den Begriff "vorübergehend"?

Diese Frage verneint der EuGH. Der Einsatz eines Leiharbeitnehmers auf einem dauerhaften Arbeitsplatz (also nicht nur vertretungsweise) ist nach Auffassung des EuGH nicht zu beanstanden. Das Merkmal "vorübergehend" beziehe sich, so die Richter in Luxemburg, auf die Zeiten des Einsatzes des Leiharbeitnehmers, nicht auf den Arbeitsplatz, auf dem er eingesetzt wird. Damit können auch sogenannte Dauerarbeitsplätze beim Kunden durch Leiharbeitnehmer besetzt werden – jedenfalls dann, wenn sie selbst auf diesem Arbeitsplatz nur vorübergehend tätig sind.

Führt ein Verstoß gegen den Begriff "vorübergehend" oder der Einsatz auf einem Dauerarbeitsplatz zu dem Anspruch auf ein Arbeitsverhältnis beim Entleiher?

Auch diese Frage beantwortet der EuGH mit nein. Aus dem EU-Recht allein lasse sich kein Anspruch des Leiharbeitnehmers auf eine Festanstellung beim Kunden ableiten – selbst wenn der Einsatz beim Kunden nicht mehr als nur vorübergehend, sondern als dauerhaft anzusehen wäre.

Ist die Dauer von 55 Monaten noch "vorübergehend"?

Die Frage, bis zu welcher konkreten Zeitdauer der Einsatz eines Leiharbeitnehmers bei einem Kunden noch "vernünftigerweise" als vorübergehend angesehen werden kann, lässt der EuGH allerdings im Ergebnis offen. Zwar betonen die Luxemburger Richter durchaus kritisch, dass es rechtsmissbräuchlich sein könne, einen Leiharbeitnehmer jahrelang auf demselben Arbeitsplatz einzusetzen. Für die Feststellung eines rechtsmissbräuchlichen Einsatzes müssten aber auch sämtliche relevanten Umstände, vor allem Besonderheiten der Branche und der Kontext des nationalen Regelungsrahmens berücksichtigt werden. Diese Umstände könnten nur von den nationalen Gerichten festgestellt werden.

Immerhin stellt der EuGH aber in diesem Zusammenhang klar: Durch Tarifverträge der Einsatzbranche – wie im vorliegenden Fall erfolgt – sind im Grundsatz auch Einsatzzeiten von mehr als 18 Monaten regelbar, ohne dass dies per se gegen Europarecht verstößt.

Fazit: Rechtsunsicherheit bleibt bestehen

Im Ergebnis bleibt für die Dauer des Einsatzes bei einem Kunden eine Rechtsunsicherheit bestehen. Zwar hat der EuGH die bisher herrschende Auffassung ebenso wie die Prüfpraxis der Bundesagentur für Arbeit als europarechtskonform bestätigt, sprich: Es bleibt zulässig, Leiharbeitsverträge über einen längeren Zeitraum immer wieder zu verlängern, selbst wenn es um einen Dauerarbeitsplatz geht. In der Frage einer absoluten zeitlichen Höchstgrenze für eine Überlassung spielt der EuGH den "Schwarzen Peter" aber wieder an die Berliner Richter zurück. Diese müssen nun selbst entscheiden, ob es mit dem Leitgedanken einer nur "vorübergehenden" Überlassung in § 1 Abs. 1 AÜG vereinbar ist, wenn ein Leiharbeitnehmer – gestützt auf Tarifverträge der Einsatzbranche – deutlich länger als 18 Monate bei einem einzelnen Kunden eingesetzt wird.

Hinweis: EuGH, Urteil vom 17. März 2022, Az. C-232/20.