BAG, Urteil vom 28.3.2023, 9 AZR 488/21

Bei Ansprüchen auf Erholungsurlaub aus einem Kalenderjahr, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, handelt es sich um selbstständige Urlaubsansprüche, auf die § 366 BGB Anwendung findet, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht. Nimmt der Arbeitgeber in einem solchen Fall bei der Urlaubsgewährung keine Tilgungsbestimmung i. S. v. § 366 Abs. 1 BGB vor, ist die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe heranzuziehen, dass zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche und erst dann die den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden.

Sachverhalt

Die mit einem Grad der Behinderung (GdB) schwerbehinderte Klägerin war bei dem beklagten Land vom 1.4.2001 bis zum 31.1.2021 beschäftigt. Der TV-L fand auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Aufgrund eines Erlasses des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 9.8.2016 wird der nicht erfüllte Urlaub über die tarifvertraglichen Vorschriften hinaus – entsprechend den für die Beamtinnen und Beamten des Landes jeweils geltende Übertragungsregelung – bis zum 30.9. des Folgejahres übertragen bzw. in Fällen, in denen der Urlaub aus dringenden dienstlichen Gründen nicht bis zum 30. September abgewickelt werden kann, sich diese Frist bis zum 31.12. verlängert.

Im Jahr 2019 gewährte das beklagte Land der Klägerin 17 Tage Urlaub. Seit dem 24.7.2019 war die Klägerin bis zur Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses am 31.1.2021 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Mit Schreiben vom Juni 2020 teilte das beklagte Land der Klägerin mit, dass sie noch 18 Urlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2019 habe, die in das laufende Urlaubsjahr übertragen wurden. Des Weiteren wurde der Klägerin mitgeteilt, dass die im Jahr 2019 in Anspruch genommenen Urlaubstage zunächst auf den gesetzlichen Urlaub einschließlich des Zusatzurlaubs nach § 208 SGB IX anzurechnen seien, so dass noch ein Anspruch auf 8 Tage Urlaub bestehe; der den gesetzlichen Urlaub übersteigenden Tarifurlaub i. H. v. 10 Tagen verfalle zum 30.9.2020.

Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses leistete das beklagte Land für das Jahr 2019 Urlaubsabgeltung für 8 Tage gesetzlichen Urlaub.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Abgeltung von weiteren 10 Tagen Urlaub aus dem Jahr 2019 verlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, der restliche Urlaub aus dem Jahr 2019 sei nicht mit Ablauf des 30.9.2020 erloschen. Da das beklagte Land bei der Urlaubsgewährung im Jahr 2019 nicht bestimmt habe, welchen Urlaub es zu tilgen beabsichtige, habe es vorrangig den weniger geschützten Tarifurlaub und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen erfüllen wollen, so dass es sich bei den restlichen 18 Urlaubstagen um den gesetzlichen Mindesturlaub gehandelt habe. In Anbetracht ihrer Langzeiterkrankung habe dieser nicht vor Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach Ende des Urlaubsjahres erlöschen können. Dem Verfall des Resturlaubs stehe zudem entgegen, dass das beklagte Land es unterlassen habe, die Klägerin durch Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig in die Lage zu versetzen, ihren Urlaub zu nehmen.

Die Entscheidung

Während das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen hatte, hatte sie vor dem LAG und BAG überwiegend – bis auf die Höhe der geltend gemachten Zinsen – Erfolg.

Das BAG führte aus, dass der Klägerin für das Kalenderjahr 2019 ein Urlaubsanspruch i. H. v. insgesamt 35 Arbeitstagen zustand. Dieser setze sich aus dem gesetzlichen Mindesturlaub gem. §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG einschließlich des deckungsgleichen Teils des Tarifurlaubs von einheitlich 20 Arbeitstagen, dem diesen übersteigenden – übergesetzlichen – Teil des Tarifurlaubs von 10 Arbeitstagen gem. § 26 Abs. 1 Satz 2 TV-L sowie dem Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen von 5 Arbeitstagen nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zusammen. Soweit sich gesetzlicher Mindesturlaub und Tarifurlaub überschneiden, liege eine Anspruchskonkurrenz vor (BAG, Urteil vom 1.3.2021 – 9 AZR 353/21).

Im Ergebnis entschied das BAG, dass die Klägerin gegen das beklagte Land Anspruch auf Abgeltung weiterer 10 Arbeitstage Urlaub habe. Die vom beklagten Land nicht abgegoltenen 10 Urlaubstage seien nicht verfallen. Entgegen der Auffassung des LAG setzten sich die nicht abgegoltenen weiteren 10 Urlaubstage nicht aus 5,5 Tagen gesetzlichem Urlaub, dessen Verfall in § 7 Abs. 3 BUrlG geregelt sei, und 4,5 Tagen tariflichem Mehrurlaub zusammen; denn mit der bezahlten Freistellung der Klägerin von der Arbeitspflicht an 17 Arbeitstagen im Jahr 2019 und Zahlung von Urlaubsabgeltung für 8 Urlaubstage nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses hatte die Beklagte die gesetzlich begründeten Urlaubsansprüche aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG und § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX getilgt. Offen sei somit noch der übergesetzliche Teil des Tarifurlaubs i. H. v. 10 Arbeitstagen.

Nach der neueren Rechtsprechung des Senats sei im Verhältnis v...

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