Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.11.1990)

SG Konstanz (Urteil vom 29.11.1988)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. November 1990 und das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 29. November 1988 geändert. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Bei dem 1918 geborenen und 1985 an Nierenversagen verstorbenen Beschädigten, dem Ehemann der Klägerin, war ua ein Zustand nach vielfacher Granatsplitterverletzung der Weichteile des Beckens mit Mastdarmverletzung bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH anerkannt. Er war zeit seines Berufslebens Dreher und Werkzeugmacher und schied 1979 mit Vollendung des 61. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben aus; seitdem bezog er Altersruhegeld. Der Anspruch auf Witwenbeihilfe wurde vom Beklagten abgelehnt. Die Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zwar eine in der Höhe ausreichende, konkrete Minderung der Hinterbliebenenversorgung nach Einholung von Arbeitgeberauskünften, mehreren Vergleichsberechnungen durch die Landesversicherungsanstalt Württemberg sowie eines Sachverständigengutachtens verneint, die Witwenbeihilfe jedoch zugesprochen, weil der Verstorbene vor seinem Tode mindestens 5 Jahre Anspruch auf Berufsschadensausgleich (BSchA) gehabt habe. Der Anspruch habe seit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben offensichtlich bestanden, sei lediglich nicht beantragt worden. Der Beschädigte habe beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die Vergünstigungen für Schwerbehinderte in Anspruch genommen, so daß es sich im Sinne der Rechtsprechung um ein schädigungsbedingtes Ausscheiden handele, ohne daß es einer konkreten Prüfung der Motivlage bedürfe (Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 19. November 1990).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte Verletzung materiellen Rechts geltend. Die Rechtsvermutung des § 48 Bundesversorgungsgesetz (BVG) komme der Klägerin nur dann zugute, wenn der Anspruch auf BSchA mindestens 5 Jahre lang offenkundig gegeben gewesen sei. Die anerkannten Schädigungsfolgen hätten sich im Verlauf der Zeit nicht geändert, hingegen sei die Nierenerkrankung fortgeschritten und habe schließlich zum Tode geführt. Sie habe beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Vordergrund gestanden und hätte allein die Schwerbehinderteneigenschaft begründet, wenn der Beschädigte ein Feststellungsverfahren nach § 4 Abs 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) betrieben hätte. Deshalb hätte der Beschädigte nach § 8 der Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) nicht glaubhaft machen können, daß er ohne die Schädigung erwerbstätig geblieben wäre.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG idF durch das Gesetz vom 4. Juni 1985 (BGBl I S 910) erhält die Witwe eines Beschädigten, der nicht an den Folgen der Schädigung gestorben ist, Witwenbeihilfe, wenn der Beschädigte durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben und dadurch die aus der Ehe mit dem Beschädigten hergeleitete Witwenversorgung insgesamt um bestimmte Vomhundertsätze gemindert ist. Diese Minderung, die mindestens 10 vH und höchstens 15 vH betragen muß, wird im allgemeinen nur erreicht, wenn der Beschädigte im überwiegenden Teil seines Berufslebens einen erheblichen Einkommensverlust hatte. Eine solche Minderung hat das LSG verneint. Es hat zu Recht bei dieser Entscheidung alle erreichbaren Erkenntnismittel ausgeschöpft und unter Zuhilfenahme einer genauen Vergleichsberechnung auf der Basis eines möglichen Berufsverlaufs diese Entscheidung getroffen. Die Beweiswürdigung ist von der Klägerin nicht im Wege der Anschlußrevision angegriffen worden. Rechtsfehler sind insoweit nicht erkennbar.

Unabhängig von einer solchen wirklichen Minderung wird nach § 48 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVG (seit der Fassung durch das Haushaltsstrukturgesetz-AFG ≪HStruktG-AFG≫ vom 18. Dezember 1975 – BGBl I 3113) Witwenbeihilfe auch dann gewährt, wenn der Beschädigte mindestens 5 Jahre Anspruch auf BSchA hatte. Dann gilt die Voraussetzung des Satzes 1, nämlich die erhebliche Minderung der Hinterbliebenenversorgung als erfüllt, obwohl dies nicht einmal typischerweise so sein muß; denn BSchA wird schon bei geringfügigen Einkommensverlusten gewährt, die noch keine Minderung der Hinterbliebenenversorgung um mindestens 10 vH zur Folge haben. Es handelt sich um eine unwiderlegbare Rechtsvermutung, die der Beweiserleichterung und der Verwaltungsvereinfachung dient (so zuletzt der Senat im Urteil vom 26. November 1991 – 9a RV 19/90 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

Der Gesetzgeber dürfte selbst nicht davon ausgegangen sein, daß ein Anspruch auf BSchA über 5 Jahre typischerweise die Hinterbliebenenversorgung erheblich beeinträchtigt. Dagegen spricht, daß nach den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum BVG (vom 26. Juni 1969 idF vom 27. August 1986 ≪BAnz Nr 161 S 12297≫) zu § 48 Nr 5 auch ein ruhender Anspruch genügen kann. Der Verwaltungsvereinfachung dient die Vorschrift aber mit Sicherheit. Ist der Anspruch auf BSchA geprüft worden und dabei der wirkliche und der hypothetische Berufsweg zu Lebzeiten des Beschädigten (oder infolge eines zu Lebzeiten gestellten Antrages) geprüft worden und ist damit auch ein Einkommensverlust ab Antragstellung für wenigstens 5 Jahre rechnerisch festgestellt, gibt es einen verläßlichen Anknüpfungspunkt für die Witwenbeihilfe, ohne daß es weiterer Ermittlungen nach dem Tod des Beschädigten gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 BVG bedarf.

Tatsächlich hat der verstorbene Ehemann der Klägerin überhaupt keinen BSchA bezogen. Allein deshalb darf aber die Witwenbeihilfe nicht abgelehnt werden. Denn es ist nicht erforderlich, daß der Beschädigte selbst rechtzeitig, also mindestens 5 Jahre vor seinem Ableben, einen Antrag auf BSchA gestellt und daher die Leistung auch 5 Jahre lang bezogen hat; es müssen lediglich die gesetzlichen Voraussetzungen klar erkennbar bestanden haben, so daß es sich der Verwaltung aufdrängen muß, daß alle tatsächlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies hat der Senat bereits mehrfach entschieden (vgl BSG SozR 3100 § 48 Nrn 15 und 16). Soweit der Senat den Antrag für entbehrlich gehalten hat, ist dies damit begründet worden, daß der Antrag zwei Funktionen erfüllt: er setzt das Verwaltungsverfahren, einschließlich der damit verbundenen Sachaufklärung, in Gang (§§ 18 ff Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – ≪SGB X≫), und er bestimmt den Leistungsbeginn (§ 60 BVG). Letzteres ist schon deshalb für § 48 Abs 1 Satz 2 BVG ohne Bedeutung, weil es hier nicht um den BSchA als Leistung geht. Die andere Funktion des Antrages kann aber ersetzt werden durch Beweismittel in der Beschädigtenakte, die unstreitig oder eindeutig den Anspruch belegen. Der Anspruch muß allerdings klar erkennbar zutage liegen und darf weder rechtlich noch tatsächlich zweifelhaft sein (Urteil vom 26. November 1991 – 9a RV 19/90 –). Die Rechtsvermutung soll nicht dazu dienen, in die Vergangenheit hinein und unter Ausschöpfung möglicher Beweismittel einen hypothetischen Anspruch, der vom Berechtigten niemals geltend gemacht worden ist, erstmals zu prüfen und zu bescheiden.

Diese Rechtsauffassung deckt sich mit der Rechtslage bei Einführung von § 48 Abs 1 Satz 2 BVG durch das HStruktG-AFG. Dem Antrag wurde damals materiell-rechtliche Bedeutung beigemessen, so daß Witwenbeihilfe nur gewährt werden konnte, wenn auch der Beschädigte einen rechtzeitigen Antrag gestellt hatte (so noch BSG SozR 3100 § 89 Nr 8). Auch wenn dem Antrag diese überragende Bedeutung nach dem Verwaltungsverfahrensrecht im SGB X nicht mehr zukommt, eröffnet die Rechtsvermutung den Anspruch auf Witwenbeihilfe nicht mittels der bloßen Behauptung eines vom Beschädigten nie geltend gemachten Anspruchs auf BSchA. § 48 Abs 1 Satz 2 BVG setzt voraus, daß sich die Verwaltung mit dem hypothetischen und wirklichen Berufsweg des Beschädigten schon zu seinen Lebzeiten befaßt hat und zu einem positiven Ergebnis gekommen ist. Hierbei ist ohne Bedeutung, ob die Verwaltung aufgrund eines Antrages auf BSchA tätig geworden ist oder ob sie den Berufsweg aus anderen Gründen – etwa nach einem Antrag auf Ausgleichsrente – mit einem für den Beschädigten günstigen Ergebnis aufgeklärt hat. Nur dann liegen im Zeitpunkt des Todes die Voraussetzungen eines etwaigen Anspruchs auf BSchA klar erkennbar vor, so daß sich der Verwaltung der Anspruch auf Witwenbeihilfe nach der 2. Alternative aufdrängen muß. Die Rechtsvermutung erstreckt sich dann auf den gesamten Zeitraum, soweit die beruflichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Anspruch klar erkennbar sind (vgl BSG SozR 3100 § 48 Nr 16). Ist zu Lebzeiten des Beschädigten kein Antrag gestellt worden, fehlt es in aller Regel an einem Anknüpfungsmerkmal, um den Anspruch auf BSchA zeitlich einzugrenzen. Es fehlt an jeder Sachverhaltsermittlung, die – sofern man der Auffassung der Klägerin folgte – sich über das gesamte Berufsleben erstrecken müßte, nur um die Voraussetzung einer Beweiserleichterung zu erfüllen. Dies kann mit dem Zweck der Vorschrift schlechterdings nicht in Einklang gebracht werden.

Kommt einer Witwe die Beweiserleichterung deshalb nicht zugute, weil der Verstorbene BSchA weder bezogen noch offenbar Anspruch hierauf gehabt hat, ist der Anspruch auf Witwenbeihilfe abschließend nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG zu beurteilen. Denn wenn als Ermittlungsergebnis nach Satz 1 feststeht, daß die Voraussetzungen des Anspruchs nicht erfüllt sind, ist es ausgeschlossen, mit dem Ergebnis dieser Ermittlungen die Voraussetzungen der Beweiserleichterung zu belegen. Das Fehlen der Beweiserleichterung schließt also die Witwe nicht davon aus, ihren Anspruch durch eine konkrete Minderung der Hinterbliebenenversorgung darzulegen und zu beweisen. Ermittlungen im Hinblick auf die Voraussetzungen des Satzes 1 können jedoch – sofern die nachgewiesene Minderung die erforderliche Höhe nicht erreicht – zur Erfüllung des Tatbestandes der Vermutung nach Satz 2 nicht nachträglich herangezogen werden. Ein solches Verfahren verkehrte die Beweiserleichterung mittels Rechtsvermutung in eine Fiktion.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1204108

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