Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.10.1995; Aktenzeichen L 18 Kn 5/95)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit.

Er ist im Jahr 1953 geboren und war von Juni 1972 bis November 1985 unter Tage, zuletzt als Hauer in der Aus- und Vorrichtung beschäftigt. Nach einer Arbeitsunfähigkeit von November 1985 bis November 1986 wurde er nur noch unterwertig eingesetzt. Ab Juli 1990 bezog er, von kurzfristigen Einsätzen abgesehen, Lohnfortzahlung bzw Krankengeld bis Mai 1993; seither ist er ausgesteuert. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Betriebsrats und des Schwerbehindertenobmanns zum 30. Juni 1996. Der Kläger bezieht Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.

Seinen Antrag vom April 1990 auf Gewährung von Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 17. Januar 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1991). Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 2. Dezember 1994; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. Oktober 1995). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, dem Kläger stehe die begehrte Rente nicht zu. Er sei iS des Stufenschemas des Bundessozialgerichts (BSG) zwar der Gruppe der Facharbeiter zuzuordnen, jedoch gesundheitlich noch in der Lage, die ihm sozial zuzumutende Arbeit als Lampenwärter auf der Zeche W. … zu verrichten. Zwar bestehe ua eine allergische Diathese mit Sensibilisierung auf Hausstaub- und Milbenkomplexe sowie bei Staubexpositionen. Weder bei den Reinigungsarbeiten noch dem Auffüllen der Batterien käme er jedoch mit Stoffen in Berührung, die im Hinblick auf seine Allergie schädlich seien. Der Kläger sei noch auf der Zeche W. … beschäftigt und habe deshalb noch eine – wenn auch möglicherweise schlechte – Chance, dort als Lampenwärter eingesetzt zu werden. Nicht entschieden zu werden brauche daher, ob der Kläger nach seinem körperlichen Leistungsvermögen auch auf anderen Zechen entsprechend eingesetzt werden könne oder ob eine Verweisung auf Tätigkeiten auf anderen Zechen jedenfalls daran scheitere, daß die Verlegung eines leistungsgeminderten Bergmanns auf eine andere Zeche außer bei Zechenstillegungen nicht mehr in Betracht komme.

Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Der Kläger rügt einen „Verstoß gegen das rechtliche Gehör”, da das Berufungsgericht auf die von ihm am 16. Oktober 1995 übersandten Unterlagen (Gutachten des Arbeitsmedizinischen Zentrums, Entscheidung des Landschaftsverbandes Rheinland hinsichtlich des Kündigungsverfahrens, Kündigung der RAG, … Attest des behandelnden Arztes Dr. F. … vom 26. September 1995) nicht reagiert habe. Hätte das Berufungsgericht diese Unterlagen verwertet, hätte es zu einer erneuten Begutachtung durch einen Neurologen, Psychiater, Psychologen oder Arbeitsmediziner kommen müssen. Ebensowenig habe der Kläger Gelegenheit gehabt, zum Beweisergebnis im Verfahren L 18 Kn 7/93 Stellung zu nehmen; entsprechendes gelte auch für die Entscheidungen des LSG vom 7. Juni 1984 – L 2 Kn 111/83 oder vom 9. Mai 1995 – L 18 Kn 48/93.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die angefochtenen Bescheide der Beklagten sowie das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 2. Dezember 1994 und das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, aufgrund seines Antrags vom 2. April 1990 eine Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung an einen anderen Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zu verweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Oktober 1995 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuweisen.

Sie stimmt dem Vortrag des Klägers hinsichtlich der Verletzung des rechtlichen Gehörs in bezug auf die im angefochten Urteil verwerteten Beweisergebnisse des Verfahrens L 18 Kn 7/93 zu; die Auswertung der entsprechenden Zeugenaussage führe jedoch zu keinem anderen als dem vom Berufungsgericht festgestellten Ergebnis. Die Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses des Klägers zum 30. Juni 1996 hätte das Berufungsgericht im angefochtenen Urteil vom 24. Oktober 1995 noch nicht berücksichtigen müssen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet.

Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung von rechtlichem Gehör (§ 62 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫, Art 103 Abs 1 Grundgesetz) dadurch verletzt, daß es das von dem Kläger mit Schriftsatz vom 16. Oktober 1995 vorgelegte Urkundenmaterial nicht zur Kenntnis genommen und erwogen hat.

Der Kläger hatte mit diesem Schriftsatz (beim LSG eingegangen am 18. Oktober 1995) als Anlagen insbesondere ein für die Hauptfürsorgestelle erstattetes Gutachten von Dr. K., … Arbeitsmedizinisches Zentrum D., … vom 3. August 1995 beigefügt. Dieses kam zu dem Ergebnis, beim Kläger bestehe ua eine „chronische Allergie im Bereich der gesamten Luftwege mit schweren allergischen Asthmaanfällen”. Zu einer Weiterbeschäftigung bei der RAG … könne nicht geraten werden, da nach medizinischer Erfahrung das beim Kläger bestehende Asthmaleiden psychisch beeinflußt sei, so daß „allein die Angst vor einer Schad- oder Reizstoffeinwirkung in seinem jetzigen Unternehmen solche Luftnotanfälle auslöst, auch wenn er an einem anderen Ort eingesetzt wird”. Weiterhin in Kopie beigefügt war die Entscheidung des Landschaftsverbands Rheinland, Hauptfürsorgestelle, vom 14. September 1995, der Kündigung des Klägers zuzustimmen, schließlich die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers zum 30. Juni 1996 durch die R. … B. … AG, datiert vom 10. Oktober 1995. Aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 24. Oktober 1995 vor dem LSG ergibt sich, daß ein Doppel des Schriftsatzes mit Anlagen dem Beklagten-Vertreter ausgehändigt wurde; eine Erörterung der Anlagen ist nicht protokolliert. Im Berufungsurteil ist aus den genannten Unterlagen lediglich erwähnt, daß das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Betriebsrats und des Schwerbehindertenobmanns zum 30. Juni 1996 gekündigt worden sei.

Dem Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör entspricht die Verpflichtung des Gerichts, Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, daß die Gerichte dieser Pflicht nachgekommen sind. Es besteht auch keine Verpflichtung, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist deshalb nur anzunehmen, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß das Gericht seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist (s hierzu das Urteil des BSG vom 27. September 1994, SozR 3-4100 § 141b Nr 10 S 44 f mit weiteren umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ≪BVerfG≫; vgl ferner Bundesverwaltungsgericht vom 20. November 1995, Buchholz 310 § 108 Nr 267).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall jedoch erfüllt:

Das LSG verweist den Kläger in seinem Urteil auf die Tätigkeit eines Lampenwärters auf der Zeche W. … Dieser Tätigkeit sei er gesundheitlich gewachsen, da er hierbei nicht mit Stoffen in Berührung komme, die im Hinblick auf seine Allergie schädlich seien. Insoweit bezieht sich das LSG auf das Gutachten des HNO-Arztes Dr. Ke. … mit der Diagnose ua einer allergischen Rhinopathie sowie der Feststellung einer allergischen Diathese mit Sensibilisierung auf Hausstaub- und Milbenkomplexe sowie bei Staubexpositionen. Der Kläger habe ferner auch noch eine – wenn auch möglicherweise schlechte – Chance, auf einem solchen Arbeitsplatz eingesetzt zu werden, weil er noch auf dieser Zeche beschäftigt sei.

Diese Feststellungen erscheinen jedoch jedenfalls ohne nähere Auseinandersetzung mit den vom Kläger mit seinem Schriftsatz vom 16. Oktober 1995 eingereichten Unterlagen nicht haltbar:

  • Die vom LSG genannten allergischen Gesundheitsstörungen des Klägers stimmen nicht mit den von Dr. K., … Arbeitsmedizinisches Zentrum D., … in seinem Gutachten vom 3. August 1995 für die Hauptfürsorgestelle gestellten Diagnosen überein, die auf weitaus schwerer wiegende Befunde hindeuten.
  • Die Verweisung des Klägers auf eine Tätigkeit als Lampenwärter an seinem bisherigen Beschäftigungsort steht im Widerspruch zu der ebenfalls von Dr. K. … getroffenen Feststellung, es sei bei der bekannten psychischen Beeinflussung an Asthmafällen durchaus möglich, „daß allein die Angst vor einer Schad- oder Reizstoffeinwirkung in seinem jetzigen Unternehmen solche Luftnotanfälle auslöst, auch wenn er an einem anderen Ort eingesetzt wird”. Ausdrücklich fährt Dr. K. fort: „Ich kann deshalb zu einer Weiterbeschäftigung bei der RAG … nicht raten”. Damit drängt sich auch die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Ergebnis des Landschaftsverbands Rheinland, Hauptfürsorgestelle, in seiner Entscheidung vom 14. September 1995 auf, der Kläger könne „einer Tätigkeit bei der R. … nicht mehr nachgehen … Im gesamten Ruhrgebiet ist mit den gleichen Luftverhältnissen zu rechnen, so daß auch bei anderen Bergwerken ein Einsatz nicht mehr möglich ist.”

Hätte das LSG dieses Vorbringen des Klägers zur Kenntnis genommen, wäre es zu der Erkenntnis gelangt, daß die gegebene Begründung für sein die Berufung zurückweisendes Urteil jedenfalls nicht ausreichte. Auf der mangelhaften Verarbeitung der Unterlagen beruht das angefochtene Urteil.

Außerhalb der vom Kläger gerügten Verfahrensfehler sei noch auf folgendes hingewiesen: Zwar steht die Feststellung, der Kläger sei noch bei der Zeche W. … beschäftigt, nicht im Widerspruch zu der Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber zum 30. Juni 1996, also über acht Monate nach der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. Angesichts jener Kündigung, die nach den vom Kläger eingereichten Unterlagen zudem im langwierigen Verfahren der Kündigung eines Schwerbehinderten erfolgt war, erscheint jedoch zweifelhaft, ob dem Kläger eine „wenn auch möglicherweise schlechte”) Chance zugebilligt werden konnte, als Lampenwärter auf eben jener Zeche eingesetzt zu werden. Das LSG hat selbst die Frage aufgeworfen, ob die Verweisung auf die Tätigkeit eines Lampenwärters auf anderen Zechen nicht bereits daran scheitere, daß die Verlegung eines leistungsgeminderten Bergmanns auf eine andere Zeche außer bei Zechenstillegungen nicht mehr in Betracht komme.

Die Berücksichtigung dieses Umstandes bei der Rente wegen Berufsunfähigkeit ist auch nach Inkrafttreten des § 43 Abs 2 letzter Satz Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch (SGB VI) – idF des Zweiten SGB VI-Änderungsgesetzes vom 2. Mai 1996 (BGBl I 659) möglich. Insoweit kann dahinstehen, ob diese Gesetzesänderung auch die noch nach dem Reichsknappschaftsgesetz zu entscheidenden Anträge erfaßt. Selbst wenn dem so wäre, handelt es sich bei der Zugänglichkeit bestimmter Tätigkeiten für Betriebsfremde nicht um eine Frage der „jeweiligen Arbeitsmarktlage” iS der og Vorschrift. Denn mit der Neufassung des § 43 Abs 2 SGB VI sollten jedenfalls keine Verschlechterungen zu Lasten der Versicherten verbunden sein (s Beschluß des Bundesrates vom 22. März 1996, BR-Drucks 138/96). Insbesondere sind die in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Seltenheitsfälle weiterhin anzuwenden (Ausschußbericht, BT-Drucks 13/3907, S 6). Hierzu aber gehört die Untergruppe der „Schonarbeitsplätze”, die regelmäßig leistungsgeminderten Angehörigen des eigenen Betriebes vorbehalten sind und somit als Eingangsstelle für Betriebsfremde außer Betracht bleiben (BSG vom 9. September 1986, SozR 2200 § 1246 Nr 139 S 450, Untergruppe 4).

Dem Senat ist eine abschließende Entscheidung in der Sache nicht möglich. Angesichts der durch die Unterlagen des Klägers an den Feststellungen des LSG aufgeworfenen Zweifel kann er nicht zu dem Ergebnis gelangen, daß sich das Berufungsurteil aus anderen Gründen als richtig darstelle (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Ebensowenig kann er im Sinne des Klägers durchentscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Eine Zurückverweisung an einen anderen Senat des LSG (§ 202 SGG iVm § 565 Abs 1 Satz 2 Zivilprozeßordnung, vgl BSG vom 24. März 1976 – 9 RV 92/74, Breith 1976, 803, 805 f) ist nicht veranlaßt. Sie ist – anders als nach § 354 Abs 2 Strafprozeßordnung – nicht zwingend vorgeschrieben. Da sich die Frage einer Zurückverweisung stets nur bei rechtsfehlerhafter Vorentscheidung stellt, kann die Zurückverweisung an einen anderen Senat des LSG nicht allein mit der Unrichtigkeit seines Urteils begründet werden. Umstände, die für den Kläger die ernstliche Besorgnis begründen könnten, der zuständige Senat des LSG sei gegen ihn voreingenommen oder von vornherein auf eine bestimmte Auffassung festgelegt, sind weder vorgetragen noch ersichtlich (vgl BSG vom 24. März 1971, BSGE 32, 253, 255); ebensowenig liegen besondere Umstände vor, die befürchten lassen müssen, daß es dem LSG schwerfallen werde, in die nunmehr veranlaßte erneute Überprüfung des Falles einzutreten (vgl BVerfG vom 25. Oktober 1966, BVerfGE 20, 336, 346 f).

Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung zu beachten haben, daß, wie von ihr im Revisionsverfahren vorgetragen, die Beklagte den Antrag des Klägers vom 27. November 1995 auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Bescheid vom 21. Mai 1996 abgelehnt hat. Der Bescheid enthält nach ihrer Darlegung den Hinweis, daß er gemäß § 171 Abs 2 SGG als mit der Klage angefochten gelte. Diese Bestimmung findet jedoch keine Anwendung, wenn – wie hier – das BSG das Berufungsurteil aufhebt und die Sache an das LSG zurückverweist; dann gebietet die Prozeßökonomie, den Verwaltungsakt so zu behandeln, als wäre er im Berufungsverfahren erlassen und § 153 Abs 1 iVm § 96 SGG anzuwenden (BSG vom 21. Januar 1959, BSGE 9, 78).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174666

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