Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 07.11.1990; Aktenzeichen L 11 Ka 133/89)

SG Düsseldorf (Urteil vom 09.01.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. November 1990 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 9. Januar 1990 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheides vom 28. Juni 1989 in der Fassung des Bescheides vom 13. Juli 1989, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 1989 verurteilt, dem Kläger Altersruhegeld unter Anrechnung von Versicherungszeiten der Kindererziehung vom 1. Februar 1974 bis zum 31. Januar 1975 und vom 1. März 1977 bis zum 28. Februar 1978 zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung höheren Altersruhegeldes (ARG) unter Anrechnung von Kindererziehungszeiten vor dem 1. Januar 1986.

Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gewährte dem im Mai 1924 geborenen Kläger mit dem streitigen Bescheid vom 28. Juni 1989 idF des Neufeststellungsbescheides vom 13. Juli 1989, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 14. September 1989, ab Juni 1989 ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Dabei rechnete sie ihm Versicherungszeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 weder für seine am 15. Januar 1974 geborene Tochter Nicole noch für seinen am 3. Februar 1977 geborenen Sohn Thomas an. Grund hierfür war, daß der Kläger, der von Januar 1950 bis August 1954 für 56 Kalendermonate Pflichtbeiträge und anschließend mit Unterbrechungen bis Dezember 1987 für 164 Kalendermonate freiwillige Beiträge entrichtet hatte, durch Bescheid vom 12. November 1968 mit Wirkung ab 1. Januar 1968 gemäß Art 2 § 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG in der mit Wirkung vom 1. Januar 1968 gültigen Fassung durch Art 2 § 2 Nr 1 des Finanzänderungsgesetzes 1967 – BGBl I S 1259) von der Versicherungspflicht befreit worden war und entgegen Art 2 § 1 Abs 4 Satz 1AnVNG (in der ab 19. Oktober 1972 gültigen Fassung durch Art 2 § 2 Nr 1 des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 – RRG 1972 – BGBl I S 1965) bis zum 31. Dezember 1973 nicht erklärt hatte, daß seine Befreiung von der Versicherungspflicht enden solle.

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf -SG- vom 9. Januar 1990; Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen -LSG- vom 7. November 1990). Das Berufungsgericht ist folgender Ansicht: Zwar lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 28a Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG – idF durch Art 7 Nr 2 des Rentenreformgesetzes 1992 vom 18. Dezember 1989 – BGBl I S 2261) vor. Denn der Kläger habe als Vater der beiden Kinder diese nach der gemeinsamen Erklärung beider Eltern jeweils in den 12 Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt der Kinder überwiegend erzogen. Diese Vorschriften seien aber gemäß § 28a Abs 4 Buchst a AVG nicht anwendbar, weil er während der Kindererziehungszeiten von der Versicherungspflicht befreit gewesen und auf die Befreiung von der Versicherungspflicht nicht verzichtet worden sei. Dies sei auch nicht verfassungswidrig (Hinweis auf das Urteil des 1. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 19. April 1990 in: BSGE 66, 288 = SozR 3-2200 § 1251a Nr 1).

Zur Begründung der – vom LSG zugelassenen – Revision trägt der Kläger vor, die Anwendung des § 28a Abs 4 Buchst a AVG verstoße in seinem Falle gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG). Er sei seit 1972 selbständig und seitdem freiwillig in der Angestelltenversicherung versichert. Er habe sich als Arbeitnehmer von der Angestelltenversicherungspflicht befreien lassen. Seine Kinder seien aber erst zu einer Zeit geboren worden, in der er kein Arbeitnehmer mehr gewesen sei; zu einer Verzichtserklärung im Blick auf die ihm erteilte Befreiung habe seinerzeit (1973) keine Veranlassung bestanden. Er müsse einem Versicherten gleichgestellt werden, der immer selbständig und nie versicherungspflichtig gewesen sei und dem unzweifelhaft Kindererziehungszeiten anzurechnen seien. Durch den Befreiungsantrag habe er sich gerade nicht gegen eine weitere Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft aller Versicherten entschieden, wie seine freiwillige Weiterversicherung zeige.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. November 1990 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 9. Januar 1990 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 28. Juni 1989 idF des Bescheides vom 13. Juli 1989, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 1989, zu verurteilen, ihm Altersruhegeld unter Anrechnung von Kindererziehungszeiten vom 1. Februar 1974 bis zum 31. Januar 1975 und vom 1. März 1977 bis zum 28. Februar 1978 zu gewähren, hilfsweise,

den Rechtsstreit auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art 100 GG zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 28 Abs 4 Buchst a AVG vorzulegen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, der klare Gesetzeswortlaut trage der Absicht des Gesetzgebers Rechnung, die Versicherten, die sich durch den Befreiungsantrag aus der Solidargemeinschaft gelöst hätten, von der Wohltat der Anrechnung von Kindererziehungszeiten auszuschließen, die gerade zur Lückenfüllung im Rahmen der Pflichtversicherung gedacht seien. Eine qualitativ ähnlich enge Bindung werde durch die bloße freiwillige Beitragszahlung nicht erreicht, besonders dann nicht, wenn sie – wie beim Kläger – nicht durchgehend erfolgt sei. Ein Verfassungsverstoß liege nicht vor.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des SozialgerichtsgesetzesSGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Er hat Anspruch auf höheres ARG. Denn die streitigen Zeiten der Kindererziehung sind bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§§ 31 Abs 1, 35 Abs 1 AVG) rentensteigernd anzurechnen. Sie treffen – wie vom LSG durch Bezugnahme auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten noch hinreichend deutlich und für den Senat bindend (§§ 163, 164 Abs 2 SGG) festgestellt – im Blick auf die Bewertung der für den Kläger maßgeblichen Rentenbemessungsgrundlage (§§ 32, 32a AVG) zum Teil nicht, im übrigen mit solchen iS von § 32a Abs 5 AVG vorrangigen Beitragszeiten zusammen, deren Werte unter dem für Zeiten der Kindererziehung anzusetzenden Wert von 6,25 liegen und deswegen auf diesen Wert anzuheben sind (§ 32a Abs 5 Satz 2 AVG).

Daß die streitigen Kindererziehungszeiten anzurechnen sind, ergibt sich aus § 28a Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Satz 1 sowie Abs 5 Satz 1 AVG (idF durch Art 7 Nr 2 RRG 1992). Danach werden für die Erfüllung der Wartezeit ua Vätern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten 12 Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben. Haben Mutter und Vater ihr Kind gemeinsam erzogen, werden die Zeiten der Kindererziehung der Mutter angerechnet, sofern Mutter und Vater nicht gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger längstens bis zum Ende des Jahres nach dem Jahr, in dem die Rentenversicherungsträger die Versicherten letztmalig zur Meldung der Zeiten der Kindererziehung aufgerufen haben, übereinstimmend erklären, daß der Vater das Kind überwiegend erzogen hat; die gesamten Zeiten der Kindererziehung für dieses Kind werden dann dem Vater angerechnet. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts liegen alle diese Voraussetzungen vor; darüber streiten die Beteiligten auch nicht.

Entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten schließt § 28a Abs 4 AVG diese Anrechnung nicht aus. Danach gelten die Absätze 1 bis 3 aaO nicht für Mütter und Väter, die während der Kindererziehung

  1. zu den in § 6 oder entsprechenden früheren Regelungen genannten Personen gehören oder von der Versicherungspflicht befreit waren, es sei denn, daß eine Nachversicherung durchgeführt oder an deren Stelle eine Abfindung gezahlt oder auf die Befreiung von der Versicherungspflicht verzichtet worden ist, oder
  2. Abgeordnete, Minister oder Parlamentarische Staatssekretäre waren, es sei denn, daß sie ohne Anspruch auf Versorgung ausgeschieden sind.

Keiner Darlegung bedarf, daß der Kläger, als er seine beiden Kinder erzog, durch bindenden Bescheid der BfA seit Januar 1968 nach Art 2 § 1 AnVNG „von der Versicherungspflicht befreit war”, daß diese übergangsrechtliche Befreiung von der Angestelltenversicherungspflicht grundsätzlich für das gesamte nachfolgende Berufsleben galt (BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 5 mwN) und daß der Kläger eine von der Rechtsprechung als „Verzicht” bezeichnete (BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 4) Erklärung, die Befreiung von der Versicherungspflicht solle enden (Art 2 § 1 Abs 4 AnVNG idF des RRG 1972), die nur bis Ende 1973 zulässig war, nicht abgegeben hat. Gleichwohl ist § 28a Abs 4 Buchst a AVG nicht anwendbar, weil der Kläger vom persönlichen Anwendungsbereich der Vorschrift nicht erfaßt wird; denn er war nicht im Sinne dieser Norm „von der Versicherungspflicht befreit”.

§ 28a Abs 4 AVG schließt nur drei Gruppen von – nach 1920 geborenen – Vätern oder Müttern von der Anrechnung von Versicherungszeiten wegen Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in der gesetzlichen Rentenversicherung aus: Eltern, die „während der Kindererziehung” und bei Eintritt des Versicherungsfalles durch ein anderes, in den §§ 6 Abs 1 Nr 2 bis 8 Abs 1 und Abs 3 AVG genanntes soziales Sicherungssystem geschützt waren, Väter oder Mütter, die während der Kindererziehung bereits wegen Eintritts des letzten Versicherungsfalles (Alter) weitere Rentenanwartschaften nach versicherungsrechtlichen Grundsätzen nicht mehr erwerben konnten (Altersruhegeldbezieher iS von § 6 Abs 1 Nr 1 AVG und entsprechenden früheren Vorschriften), schließlich ausländische oder staatenlose Besatzungsmitglieder deutscher Seefahrzeuge (§ 8 Abs 2 AVG), die während der Kindererziehung aufgrund der für sie ausgesprochenen Befreiung schlechthin von der Anwendung deutschen Rentenversicherungsrechts ausgeschlossen waren.

Der Kläger gehört keiner dieser Gruppen an, weil er – was allein in Betracht zu ziehen ist – niemals wegen der Zugehörigkeit zu einem anderen sozialen Sicherungssystem iS der §§ 7 oder 8 AVG, sondern ausschließlich aus übergangsrechtlichen Gründen (Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze für Angestellte ab 1. Januar 1968) im Blick auf seine zuvor versicherungsfreie Beschäftigung „von der Versicherungspflicht befreit” worden war.

Dieses Ergebnis folgt aus dem Normprogramm (Systematik und Zweck) von § 28a AVG (= § 1251a der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫): Nach den Absätzen 1 bis 3 und 5 aaO werden Kindererziehungszeiten grundsätzlich allen Vätern oder Müttern im (persönlichen und räumlichen) Geltungsbereich der deutschen Rentenversicherungsgesetze angerechnet, ohne daß dies von versicherungsrechtlichen Voraussetzungen abhängt, dh, ohne daß der Berechtigte vor, während oder nach der Zeit der Erziehung jemals der Versichertengemeinschaft angehört und auch nur einen – pflichtigen oder freiwilligen – Beitrag entrichtet haben müßte.

Diese Versicherungszeiten eigener Art begründen aus sich heraus die Versicherteneigenschaft; sie sind geeignet, die Wartezeit zu erfüllen, und dadurch – ohne jegliche Beitragsleistung – bei Eintritt eines Versicherungsfalls einen Rentenanspruch zu begründen. Soweit – was rechtlich zulässig ist – während der Kindererziehungszeit Beiträge aus versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Tätigkeit oder freiwillige Beiträge entrichtet worden sind, die den Wert 6,25 im Monat nicht erreichen, wirken sie rentenerhöhend bis zu diesem Wert (§ 32a Abs 5 AVG).

Diese Vorschriften gehören – wie der Senat bereits mehrfach (zuletzt Urteil vom 28. November 1990 – 4 RA 40/90, zur Veröffentlichung vorgesehen) ausgeführt hat – zum rentenversicherungsrechtlichen Teil eines umfassenden Gesetzgebungsprogramms, das die Hinwendung zum Kind (zukunftsgerichtet) fördern und die in der Vergangenheit erbrachte Erziehungsleistung anerkennen will. Zukunftsbezogen soll ab Januar 1986 durch das Bundeserziehungsgeldgesetz, die Pflichtversicherung bei Kindererziehung sowie durch das beamtenversorgungsrechtliche Kindererziehungszuschlagsgesetz die Hinwendung zum Kind in dessen erster Lebensphase gefördert werden. § 28a AVG und die Regelung über die Leistung für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 (Art 2 § 61 ff AnVNG) dienen der Abrundung dieses Sachprogramms durch leistungsrechtliche Anerkennung der Erziehungsleistungen derjenigen, die in der Vergangenheit, dh vor dem 1. Januar 1986, ihre Kinder erzogen haben. Denn auch diese Erzieher waren durch die Beanspruchung mit der Erziehung – wie die gesetzlichen Regelungen typisierend und generalisierend unterstellen – in der Möglichkeit eingeschränkt, in der ersten Lebensphase des Kindes durch – pflichtige oder freiwillige – Beiträge eigene Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung in einem Mindestumfang aufzubauen.

Wenn § 28a Abs 4 AVG einigen Gruppen von Eltern – unabhängig davon, ob sie kraft Beitragsleistung Versicherte sind oder nicht – die Anerkennung ihrer Erziehungsleistung in der gesetzlichen Rentenversicherung versagt, ist Sachgrund hierfür nicht, daß sie gewisse versicherungsrechtliche Bedingungen nicht erfüllen, auf die es – wie ausgeführt – für die Anrechnung von Kindererziehungszeiten gerade nicht ankommt. Ausschlaggebende Rechtfertigung des Ausschlusses dieser Eltern ist allein, daß – auch hier typisierend und generalisierend betrachtet – bei ihnen Gründe vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, daß sie durch die Beanspruchung mit der Kindererziehung keine Einbußen beim Aufbau von Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung erlitten haben. Diese Ausschlußgründe gestaltet Abs 4 aaO wie folgt aus:

Wer schon „während der Kindererziehung” als Altersruhegeldempfänger den Erwerb von Rentenanwartschaften endgültig abgeschlossen hatte (Versicherungsfreie nach § 6 Abs 1 Nr 1 AVG und entsprechenden früheren Vorschriften), konnte nach Eintritt des letzten Versicherungsfalles schon nach allgemeinen versicherungsrechtlichen Grundsätzen keine erziehungszeitbedingten Nachteile für seine Altersversorgung erleiden. Entsprechendes gilt für jene ausländischen und staatenlosen Seeleute, auf die infolge ihrer Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 8 Abs 2 AVG während der Kindererziehung das deutsche Rentenversicherungsrecht insgesamt nicht anwendbar war.

§ 28a Abs 4 AVG hat – worauf der Senat bereits hingewiesen hat (Urteil vom 30. April 1991 – 4 RA 29/90, zur Veröffentlichung vorgesehen) – auch im Blick auf den Ausschluß der anderen dort genannten, versicherungsfreien oder von der Versicherungspflicht befreiten Eltern (§ 6 Abs 1 Nr 2 bis § 8 Abs 3 AVG) systemabgrenzende Natur. Deren Ausschluß rechtfertigt sich nämlich daraus, daß sie in aller Regel wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem in diesen Vorschriften als dem AVG grundsätzlich gleichwertig anerkannten sozialen Sicherungssystem keine rentenversicherungsrechtlichen Einbußen durch Kindererziehungszeiten hinnehmen mußten. Ihnen konnten allenfalls erziehungszeitbedingte Nachteile in ihrem jeweiligen anderen Sicherungssystem entstehen.

Soweit sie bei der Kindererziehung schon Empfänger einer Versorgung nach beamtenrechtlichen oder entsprechenden Grundsätzen und deswegen versicherungsfrei oder von der Versicherungspflicht befreit waren (§§ 6 Abs 1 Nr 7, 7 Abs 1 AVG), hatten sie ihre Bemühungen um eine Sicherung für Alter und Invalidität bereits außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung in einem anderen Schutzsystem beendet. Die nach § 6 Abs 1 Nrn 2 bis 6 AVG Versicherungsfreien (Beamte und vergleichbare „öffentliche Bedienstete”), ebenso Abgeordnete, Minister und Parlamentarische Staatssekretäre (§ 28a Abs 4 Buchst b AVG), gleichfalls Lehrer und Erzieher, die auf Antrag eines „öffentlichen Arbeitgebers”

iS von § 8 Abs 1 AVG, sowie satzungsmäßige Mitglieder geistlicher Genossenschaften und nach § 2 Abs 1 Nr 7 AVG gleichstehende Personen, die nach § 8 Abs 3 AVG von der Versicherungspflicht befreit worden waren, konnten erziehungszeitbedingte (iS von § 28a Abs 1 bis 3 AVG) Nachteile bei ihrer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung typischerweise nur dann haben, wenn sie im Zeitpunkt des Versicherungsfalles nicht mehr durch eines der anderen sozialen Versorgungssysteme geschützt waren, sondern dort „unversorgt” ausgeschieden sind. In einem solchen Fall waren sie – mit Ausnahme der in § 28a Abs 4 Buchst b AVG Genannten – gemäß § 9 AVG in der gesetzlichen Rentenversicherung nachzuversichern, so daß § 28a Abs 4 AVG allen vorgenannten Personengruppen die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung nur, aber auch immer zugesteht, wenn sie aus dem anderen Schutzsystem unversorgt ausgeschieden sind.

Ebenso ist schließlich der Schutz durch eine berufsständische Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung der Sachgrund dafür, den nach § 7 Abs 2 AVG von der Versicherungspflicht Befreiten Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich nicht anzurechnen. Weil der Kläger niemals einem solchen Versorgungssystem angehört hat, gibt der vorliegende Fall keinen Anlaß, der Frage näher zu treten, ob solche Eltern, die „während der Kindererziehung” nach § 7 Abs 2 AVG befreit waren, aber nachher ohne Versorgungsansprüche ausgeschieden sind und deren Befreiung von der Beklagten ab Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses (nach § 48 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buchs SozialgesetzbuchSGB X) aufzuheben war (dazu das og Urteil des Senats vom 30. April 1991), Kindererziehungszeiten in der Angestelltenversicherung anzurechnen sind; ein Sachgrund, diese Eltern schlechter zu stellen als Abgeordnete, Minister oder Parlamentarische Staatssekretäre oder als nach § 7 Abs 1 AVG befreite Versorgungsempfänger, die nach § 7 Abs 6 AVG in der bis zum 10. Juni 1976 gültigen Fassung (aufgehoben durch § 16 Nr 1 des 19. Rentenanpassungsgesetzes ≪RAG≫ vom 3. Juni 1976 – BGBl I S 1373) auf die Befreiung – mit Wirkung für die Zukunft – „verzichten” konnten, ist jedenfalls nicht ersichtlich.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist § 28a Abs 4 AVG nicht auf solche Eltern anzuwenden, die – wie der Kläger – lediglich nach übergangsrechtlichen Regelungen des AnVNG von der Versicherungspflicht befreit worden waren.

Zwar schließt der Wortlaut des Gesetzes nicht eindeutig aus, daß auch diesen Eltern die Anrechnung von Kindererziehungszeiten zu versagen sein könnte. Denn in Rechtsprechung und Schrifttum wird der rechtstechnische Fachausdruck „Befreiung von der Versicherungspflicht” sowohl auf die Befreiung nach dem AVG als auch auf übergangsrechtliche Befreiungen jedenfalls dann angewendet, wenn es – anders als hier – nach dem jeweiligen Zusammenhang nicht auf den sachlichen Unterschied zwischen diesen Normenkomplexen ankommt. Der Text des § 28a Abs 4 AVG enthält andererseits aber auch keinen Hinweis, unter „von der Versicherungspflicht befreit” solle anderes und mehr zu verstehen sein als die in demselben Gesetz im Ersten Abschnitt Teil B, unter Abschnitt 2d „Befreiung von der Versicherungspflicht auf Antrag §§ 7 bis 8a”) grundsätzlich abschließend geregelten Befreiungstatbestände. Im Gegenteil: Daß § 28a Abs 4 AVG nur die in diesem Gesetz geregelten Befreiungstatbestände meint, wird dadurch nahegelegt, daß der Text nur im Blick auf die nach § 6 AVG Versicherungsfreien auch auf andere Vorschriften ua als die des AVG, nämlich auf „entsprechende frühere Regelungen” ausdrücklich Bezug nimmt.

Gegen eine weite Auslegung des „Befreiungsbegriffs” spricht ferner, daß einerseits § 28a AVG eine auf Dauer angelegte allgemeine Sachnorm mit Rückwirkung enthält, die Erziehungsleistungen, welche Eltern in mehr als einem halben Jahrhundert erbracht haben, – wie ausgeführt: ohne versicherungsrechtliche Voraussetzungen – grundsätzlich in gleicher Weise anerkennen will. Demgegenüber bezweckten – worauf der Senat im anderen Zusammenhang hingewiesen hat (Urteil vom 21. März 1991 – 4 RK 1/90, zur Veröffentlichung vergesehen) – übergangsrechtliche Befreiungstatbestände, jemandem einen Gestaltungsspielraum zu eröffnen, der durch Gesetzesänderungen versicherungspflichtig geworden war, unabhängig davon, ob er zuvor jemals – freiwillig oder pflichtig – Versicherter geworden war; denn in nicht wenigen Fällen konnte sich die Einbeziehung in den Schutz der Pflichtversicherung in einer vom Gesetz nicht beabsichtigten Weise für den Betroffenen übermäßig belastend auswirken (zB Doppelbeiträge in der Rentenversicherung und in der privaten Lebensversicherung). Keinesfalls war mit einer solchen Befreiung – wie auch der vorliegende Fall zeigt und anders als bei den nach § 8 Abs 2 AVG befreiten Seeleuten – ein völliger Ausschluß aus dem Anwendungsbereich der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung verbunden.

Gerade deshalb würde es – und das spricht entscheidend gegen die Ansicht der Beklagten – einen unauflösbaren Wertungswiderspruch in § 28a AVG selbst bedeuten, wenn nach Abs 4 aaO die Anrechnung von Kindererziehungszeiten nur bei „befreiten” Eltern von der versicherungsrechtlichen Voraussetzung abhängig gemacht würde, daß sie hätten pflichtversichert sein können, als sie ihre Kinder erzogen; denn diese Bedingung müssen die übrigen Eltern nach der Grundregel von § 28a Abs 1 bis 3 und 5 AVG nicht erfüllen, wie zB die Anrechnung von Kindererziehungszeiten vor 1973 bei ausnahmslos allen selbständig Erwerbstätigen zeigt.

Der Gedanke, die übergangsrechtlich Befreiten hätten sich von der gesetzlichen Rentenversicherung gelöst, rechtfertigt ihren Ausschluß von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten nicht. Dies ergibt sich schon daraus, daß nach § 28a Abs 1 bis 3 und 5 AVG die Anrechnung von Kindererziehungszeiten gerade nicht von irgendeiner rechtlichen oder sonstigen Verbindung mit der Versichertengemeinschaft abhängt. Gerade der Fall des Klägers, der noch viele Jahre nach seiner Befreiung durch freiwillige Beiträge die Lasten der Versichertengemeinschaft mitgetragen hat, verdeutlicht, daß eine übergangsrechtliche Befreiung von der Pflichtversicherung keine Lösung von der gesetzlichen Rentenversicherung bedeuten muß. Auch die Bewertungsnorm des § 32a Abs 5 AVG, nach dem während der Kindererziehungszeit entrichtete freiwillige Beträge uU anzuheben sind, zeigt, daß das AVG gerade nicht voraussetzt, die Eltern müßten bei der Kindererziehung versicherungspflichtig gewesen sein können; denn freiwillige Beiträge (auch solche der Weiterversicherung alten Rechts) dürfen grundsätzlich nur von Personen entrichtet werden, die nicht versicherungspflichtig sind (vgl BSG SozR 2200 § 1255a Nr 20).

Keiner Erörterung bedarf ferner, daß § 28a Abs 4 AVG keine (negative) Sanktionsnorm ist, die darauf abzielen könnte, diejenigen mit Rechtsnachteilen zu belegen, die in der Vergangenheit von einem gesetzlich eingeräumten Gestaltungsrecht im Sinne ihrer Befreiung von der Pflichtversicherung, nicht von der Rentenversicherung schlechthin, Gebrauch gemacht haben.

Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf das Urteil des 1. Senats des BSG vom 19. April 1990 (BSGE 66, 288, 292 f = SozR 3-2200 § 1251a Nr 1) meint, die Motive zu Art 2 Nr 8 des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG) vom 11. Juli 1985 (BGBl I S 1450), durch das § 28a AVG eingefügt worden ist, sprächen für den Ausschluß auch der übergangsrechtlich Befreiten von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten, kann der Senat dem nach Durchsicht der Gesetzesmaterialien nicht beipflichten:

Im Regierungsentwurf (BT-Drucks 10/2677, S 34) heißt es zur Begründung von § 28a Abs 2 (= Abs 4 des Gesetzes), Frauen, die zu dem in § 6 AVG genannten Personenkreis gehören, von der Versicherungspflicht befreit sind oder Versorgungsansprüche nach dem Abgeordnetengesetz, dem Bundesministergesetz oder dem Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre erworben haben, sollen nicht durch die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in das Sicherungssystem der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen werden. Ein anderer Gedanke als derjenige der Systemabgrenzung ist hier nicht angesprochen. Die geltende Fassung von § 28a Abs 4 Buchst a AVG geht auf die Beschlußempfehlung des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drucks 10/3518, S 22 ff) zurück, die im Bericht des Ausschusses (BT-Drucks 10/3519, S 15) wie folgt begründet worden ist: „Der neu eingefügte Abs 4 entspricht im wesentlichen dem Abs 2 idF des Regierungsentwurfs. Durch die Änderung in Buchst a wird klargestellt, daß Zeiten der Kindererziehung auch bei den Frauen berücksichtigt werden sollen, die beim Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis eine Abfindung erhalten haben (dies war bei Entlassungen bis zum 31. August 1977 möglich) und deshalb nicht nachversichert wurden. Die Änderung in Buchst b hat lediglich redaktionellen Charakter”. Ein anderer Rechtsgrund für die Ausgestaltung des Abs 4 als derjenige, erziehende Elternteile nur dann von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung auszuschließen, wenn sie während der Kindererziehungszeit und im Zeitpunkt des Versicherungsfalles einem anderen Sicherungssystem angehört hatten, das ihnen einen – durch das AVG anerkannt – prinzipiell gleichwertigen Schutz wie die gesetzliche Rentenversicherung gewährte, ist auch hier nicht erkennbar.

Da nach alledem § 28a Abs 4 AVG auf nur übergangsrechtlich Befreite – wie den Kläger – nicht anwendbar ist, bedarf keiner Darlegung, daß andernfalls – worauf der Senat hingewiesen hat (og Urteil vom 19. April 1991) – der dort (als Ausnahme von der Ausnahme) formulierte „Verzichtsvorbehalt” entweder unanwendbar oder wegen rechtsstaatswidriger echter Rückwirkung verfassungskonform zu reduzieren wäre.

Mit dieser Rechtsauffassung weicht der erkennende Senat von derjenigen des 1. Senats des BSG im Urteil vom 19. April 1990 (1 RA 35/88; BSGE 66, 288 = SozR 3 – 2200 § 1251a Nr 1) ab. Einer Anrufung des Großen Senats des BSG nach § 42 SGG bedurfte es nicht, weil der 1. Senat des BSG seit dem 1. Januar 1991 für das Leistungsrecht der Angestelltenversicherung nicht mehr zuständig ist.

Nach alledem war das Begehren des Klägers, der weder während der Kindererziehungszeit noch bei Eintritt des Versicherungsfalles nach §§ 7, 8 AVG von der Versicherungspflicht befreit war, begründet. Deswegen mußten die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen abgeändert werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173871

BSGE, 101

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