Entscheidungsstichwort (Thema)

Herstellungsanspruch. Beratungspflicht. andere Behörden. Nachentrichtung von Beträgen. Wirksamkeit. Kausalität

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Beratungspflicht des Arbeitsamtes in Fällen in denen bei Ablehnung von Arbeitslosengeld/Arbeitslosenhilfe die Gefahr eines Verlustes der Anwartschaft auf Rente wegen Berufs-/Erwerbsunfähigkeit droht (§ 1246 Abs. 1 und 2 a RVO iVm Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG).

 

Normenkette

SGG § 164 Abs. 2 S. 3; RVO § 1246 Abs. 2a, § 1247 Abs. 2a, § 1418; ArVNG Art. 2 § 6 Abs. 2; SGB X § 27; SGB I § 14

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 19.07.1990; Aktenzeichen L 16 Ar 243/90)

SG Würzburg (Entscheidung vom 05.02.1990; Aktenzeichen S 4 Ar 346/89)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1990 wird als unzulässig verworfen, soweit sie den Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, für die Zeit vom 1. Oktober bis 30. November 1986 betrifft.

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil aufgehoben, soweit es die Gewährung von Rente nach der Nachentrichtung von Beiträgen und die Kostenentscheidung betrifft.

Insoweit wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw Berufsunfähigkeit (BU) ab 1. Oktober 1986 sowie das Recht zur Entrichtung freiwilliger Beiträge in die Rentenversicherung. Im Kern geht es um die Frage, ob die Klägerin aufgrund eines Herstellungsanspruchs berechtigt ist, noch Beiträge für die Jahre 1984 und 1985 nachzuentrichten.

Die am 17. September 1935 geborene Klägerin hat nach ihren Angaben keinen Beruf erlernt; auch ein Anlernverhältnis hat nicht bestanden. Während ihres versicherten Berufslebens war sie ausschließlich als Hilfsarbeiterin beschäftigt, zuletzt seit Februar 1980 als Gewürzabfüllerin. Vom 21. Februar bis 26. Juni 1983 bestand Arbeitsunfähigkeit; das Arbeitsverhältnis endete infolge Auflösung der Firma am 6. Juli 1983. Vom 7. Juli 1983 bis 19. Juli 1984 war die Klägerin arbeitslos gemeldet und bezog Leistungen vom Arbeitsamt (AA). Nach den Feststellungen des Sozialgerichts Würzburg (SG) aus den in erster Instanz beigezogenen Akten des AA Würzburg hatte die Klägerin am 5. Juli 1984 gegenüber der Arbeitsverwaltung erklärt, daß sie wegen ihres kranken, fast bettlägerigen Ehemannes künftig nur noch 30 Stunden wöchentlich einer Arbeit nachgehen und einen Arbeitsplatz aus eigener Kraft wegen der Entfernung zur nächsten Bushaltestelle von ca eineinhalb Kilometer nicht erreichen könne. Durch Bescheid vom 17. August 1984 hatte das AA daraufhin den Antrag auf Gewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) mit der Begründung abgelehnt, die Klägerin stehe der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung, weil sie nicht bereit sei, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, die sie ausüben könne; aufgrund des ärztlichen Gutachtens sei ihr die Wegstrecke bis zur nächsten Bushaltestelle zu Fuß oder mit dem Fahrrad zumutbar.

Den erstmals im Oktober 1986 gestellten Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit dem (nicht angefochtenen) Bescheid vom 28. November 1986 ab; zur Begründung wies sie darauf hin, daß die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien, weil im maßgeblichen Zeitraum vom 1. Juli 1980 bis 31. Oktober 1986 nur 32 Monate mit entsprechenden Pflichtbeiträgen belegt und auch die Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nicht erfüllt seien, darüber hinaus bestehe weder BU noch EU.

Im Oktober 1988 beantragte die Klägerin gemäß § 44 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X) die Aufhebung des Bescheides vom 28. November 1986 und die Gewährung von Rentenleistungen wegen EU auf der Grundlage eines spätestens im ersten Halbjahr 1984 eingetretenen Versicherungsfalls. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 6. Dezember 1988, Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1989).

Das SG hat die auf eine EU-Rente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Februar 1990). Die Berufung der Klägerin hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 19. Juli 1990). Diese Entscheidung ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Rentenleistungen wegen BU oder EU stünden der Klägerin nicht zu. Nicht begründet sei auch der Hilfsantrag der Klägerin auf Feststellung der Nachentrichtungsmöglichkeit für einen „später eingetretenen Versicherungsfall”, den der Senat in dem Sinne verstehe, daß die Beklagte vorrangig – nach Entrichtung der dazu erforderlichen anwartschaftserhaltenen Beiträge – dem Grunde nach zur Gewährung von Rentenleistungen aufgrund eines spätestens bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren eingetretenen Versicherungsfalls verurteilt und erst in zweiter Linie ihre Verpflichtung zur Entgegennahme freiwilliger Beiträge für die Zeit nach Wegfall der Arbeitslosigkeit (ab 1. August 1984) ausgesprochen werden solle. Bereits die Feststellung, daß die Klägerin bei Erlaß des Rentenablehnungsbescheids vom 28. November 1986 weder erwerbs- noch berufsunfähig, der Versicherungsfall bis zu diesem Zeitpunkt also noch nicht eingetreten gewesen sei, schließe die hilfsweise geltend gemachten Ansprüche aus; sie könnten insbesondere nicht aus Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG hergeleitet werden. Die bei einem unterstellten Versicherungsfall der EU bzw BU mit Antragstellung im Oktober 1986 erforderlichen 5 Monatsbeiträge für das Kalenderjahr 1984 und 12 Monatsbeiträge für 1985 seien nicht entrichtet worden und könnten auch nicht mehr durch eine Beitragsnachentrichtung erfüllt werden, weil die nach § 1418 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) maßgeblichen Fristen im Zeitpunkt der Rentenantragstellung im Oktober 1986 bereits verstrichen gewesen seien. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs. 1 SGB X komme insoweit nicht in Betracht, weil § 1418 Abs. 1 RVO eine materielle Ausschlußfrist enthalte. Die Berufung auf die Ausschlußfrist sei der Beklagten nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben versagt, denn ihr sei weder rechtsmißbräuchliches Verhalten vorzuwerfen noch sei die Ausschlußfrist für die Verwaltung von geringer Bedeutung. Die Entscheidung über die Hilfsanträge der Klägerin hänge daher davon ab, ob sie aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen sei, daß sie von der übergangsrechtlich in Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG eingeräumten Möglichkeit zur Entrichtung dieser Beiträge für jeden Monat der den Eintritt des Versicherungsfalls vorausgehenden Kalenderjahre noch Gebrauch machen könne; in diesem Falle stünde der nachträglichen Entrichtung freiwilliger Beiträge mit Wirkung für einen zwischenzeitlich (aber nach der erwähnten Antragstellung vom Oktober 1986) eingetretenen Versicherungsfall die Vorschrift des § 1419 Abs. 1 RVO ausnahmsweise nicht entgegen. Der Beklagten selbst könne jedoch ein Vorwurf unterlassener oder unvollständiger Beratung nicht gemacht werden. Die Leistungsträger seien gemäß § 13 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs – Allgemeiner Teil – (SGB I) zur Aufklärung nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit verpflichtet. Der Beratungs- und Auskunftsanspruch nach den §§ 14, 15 SGB I sei auf die Leistungsträger beschränkt, denen gegenüber Rechte geltend zu machen seien. Deshalb habe vom AA Würzburg nicht erwartet werden können, die Klägerin auf dem außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs liegenden Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung über die Erhaltung erworbener Anwartschaften auf Renten wegen geminderter Erwerbsfähigkeit aufzuklären oder zu beraten.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 1246 und 1247 RVO in der ab 1. Januar 1984 geltenden Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes (HBegleitG) 1984. Sie macht geltend, ihr müsse aufgrund eines Herstellungsanspruchs das Recht auf Nachentrichtung von Beiträgen eingeräumt und alsdann Rente wegen EU gewährt werden. Das AA habe sie nicht vollständig beraten; dies sei der Beklagten als eigene Verletzung rechtlich zuzuordnen. Im Hinblick auf die durch das HBegleitG im Jahre 1984 ganz wesentlich veränderten beitragsrechtlichen Voraussetzungen für Ansprüche nach den §§ 1246, 1247 RVO sei ein Beratungsbedarf auch ohne Anfrage objektiv erkennbar gewesen. Die Pflicht zur umfassenden Beratung sei ferner durch die Tatsache bedingt, daß mit dem Bescheid der Arbeitsverwaltung nur noch ein kurzer Zeitraum bis zum Jahresende zur Verfügung gestanden habe. Dies berücksichtigend hätte das LSG ihr den dort hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG im Wege des Herstellungsanspruchs einräumen müssen. Der Antrag auf Rente wegen nicht nur vorübergehender Minderung der Leistungsfähigkeit bleibe vorläufig aufrechterhalten, weil beide Teile des Antrags wirtschaftlich zusammengehörten.

Die Klägerin beantragt.

„das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1990 und das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 5. Februar 1990 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw Berufsunfähigkeit ab dem 1. Oktober 1986 zu gewähren sowie die Klägerin zur Entrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit nach Wegfall der Arbeitslosigkeit ab dem 1. August 1984 zur Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG zuzulassen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen, um die Akten des Arbeitsamts beizuziehen zum Beweis dafür, daß dieses seine Aufklärungspflichten verletzt hat und der Klägerin deshalb im Wege eines Herstellungsanspruchs für einen später eintretenden Versicherungsfall das Recht zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG zusteht.”

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nur teilweise zulässig.

Bereits der Antrag enthält Unklarheiten, die zu Zweifeln Anlaß geben, ob er den Anforderungen des § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG genügt. Indessen ist insoweit nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften; denn für die Auslegung von Prozeßhandlungen einschließlich der Klageanträge ist die Auslegungsregel des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entsprechend anzuwenden, wonach der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen ist (BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr. 65; BSG SozR 3-7140 § 90 a Nr. 1). Aus dem Antrag der Klägerin läßt sich entnehmen, daß sie den vor dem Berufungsgericht im Hauptantrag verfolgten unbedingten Anspruch auf eine Versichertenrente (ohne Beitragsnachentrichtung) nicht mehr weiterverfolgt; das Urteil des LSG ist daher rechtskräftig geworden, soweit es die Berufung der Klägerin, die in erster Linie auf die Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung ohne Beitragsnachentrichtung gerichtet war, hinsichtlich des dort gestellten Hauptantrages zurückgewiesen hat. Aus dem Gesamtzusammenhang der im Berufungs- und Revisionsverfahren geltend gemachten Ansprüche ergibt sich ferner, daß die Klägerin im vor dem Senat gestellten Hauptantrag im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) eine Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, ab 1. Oktober 1986 – unter der Bedingung fristgemäßer Nachentrichtung freiwilliger Beiträge in der gesetzlichen Mindesthöhe für die nicht belegten Monate in den Jahren 1984 und 1985 – erstrebt (vgl. hierzu BSG SozR 3-1500 § 54 Nr. 3; vgl. ferner BSG SozR 5750 Art. 2 § 6 Nr. 4). Dem Hilfsantrag kann mit hinreichender Deutlichkeit entnommen werden, daß die Klägerin damit einen isolierten Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge ab August 1984 stellen will. Das mit der Revision verfolgte Begehren entspricht demnach im wesentlichen den im Berufungsverfahren hilfsweise geltend gemachten Ansprüchen.

Die Revision ist aber teilweise unzulässig, weil die Revisionsbegründung für einen Teil des Streitgegenstandes nicht die Anforderungen des § 164 Abs. 2 SGG erfüllt. Diese Vorschrift verlangt auch bei materiell-rechtlichen Rügen eine Darstellung der Gründe, die nach Auffassung des Revisionsklägers das angefochtene Urteil unrichtig erscheinen lassen. Hierzu bedarf es einer zumindest kurzen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung (BSG SozR 1500 § 164 Nrn 5, 12 und 20). Bei einer Mehrheit selbständiger Streitgegenstände ist dies für jeden dieser Streitgegenstände erforderlich, bei einem teilbaren Streitgegenstand für alle Teile (vgl. BSG SozR 1500 § 164 Nr. 22).

Insoweit gibt zu Bedenken Anlaß, daß die Klägerin keine Ausführungen zum Vorliegen einer rentenbegründenden Erwerbsminderung gemacht und lediglich erklärt hat, der Antrag auf Rente bleibe wegen des engen wirtschaftlichen Zusammenhangs „vorläufig aufrechterhalten”.

Das LSG hat nämlich eindeutig festgestellt, daß ein Versicherungsfall der EU oder BU bei Erlaß des Rentenablehnungsbescheids vom 28. November 1986 noch nicht eingetreten war (Seite 15 unten des Abdrucks). Damit steht zugleich fest, daß bis zu diesem Zeitpunkt ein Anspruch auf Rente wegen EU oder BU nach den §§ 1246, 1247 RVO unabhängig von der Nachentrichtung von Beiträgen ausschied. Um ihr Begehren auf Rente wegen EU oder BU bereits ab 1. Oktober 1986 zu begründen, hätte die Klägerin deshalb darlegen müssen, wieso ihrer Auffassung nach der Versicherungsfall der BU oder EU schon früher eingetreten ist. Die diesbezüglichen Feststellungen des LSG wären mit wirksamen Verfahrensrügen anzugreifen gewesen. Dies ist indes nicht geschehen.

Die Begründung reicht jedoch aus, soweit die Klägerin Rente wegen BU oder EU aufgrund eines nach dem 28. November 1986 eingetretenen Versicherungsfalls geltend macht. Den Ausführungen des LSG könnte zwar entnommen werden, daß ein Versicherungsfall der EU bzw BU bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung nicht eingetreten ist. Insoweit ist aber zweifelhaft, ob es sich um selbständige Feststellungen handelt; denn diese Ausführungen befinden sich in Begründungen zu den Obersätzen, daß der Versicherungsfall „vor (aber auch nach) der Rentenantragstellung vom 29. Oktober 1986” (so Seite 11 des Abdrucks) bzw „bei Erlaß des Rentenablehnungsbescheides vom 28. November 1986” (Seite 15 des Abdrucks) nicht eingetreten sei. Außerdem ist erkennbar, daß diese Darlegungen, soweit sie sich auf die Frage einer BU oder EU in der Zeit ab Dezember 1986 beziehen könnten, das angefochtene Urteil nicht tragen, da das LSG insoweit einen Rentenanspruch (auf den damaligen Hilfsantrag hin) schon aus versicherungsrechtlichen Gründen verneint hat. Mit unklaren nichttragenden Ausführungen des angefochtenen Urteils muß sich die Revision jedoch nicht auseinandersetzen.

Die Revision ist, soweit sie zulässig ist, auch begründet. Insoweit führt sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Das LSG muß zu den Voraussetzungen des geltend gemachten Herstellungsanspruchs auf Nachentrichtung von Beiträgen weitere Feststellungen treffen.

Gemäß § 1246 Abs. 2 a RVO, der gemäß § 1247 Abs. 2 a RVO auch für die Rente wegen EU gilt, setzt ein Rentenanspruch voraus, daß die Versicherte in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt der BU oder EU mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt hat oder die BU oder EU aufgrund eines der in § 1252 RVO genannten Tatbestände eingetreten ist.

Beide Voraussetzungen sind nach den Feststellungen des LSG nicht erfüllt. Dies wird auch von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen. Auch die Voraussetzungen der Übergangsvorschrift des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG sind unstreitig nicht gegeben, Diese Vorschrift sieht für drei Fallgruppen vor, daß die genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sein müssen.

Die erste Fallgruppe (Art. 2 § 6 Abs. 2 Satz 2 ArVNG) betrifft Versicherungsfälle, die in der Zeit bis zum 30. Juni 1984 eingetreten sind. Dies scheidet hier aufgrund der Feststellungen des LSG, daß der Versicherungsfall bis zum 28. November 1986 nicht eingetreten war, aus.

Die zweite Fallgruppe (Art. 2 § 6 Abs. 2 Satz 3 ArVNG) bezieht sich auf Versicherungsfälle, die in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1984 eingetreten sind. Diese Fallgruppe kommt aus den gleichen Gründen nicht in Betracht.

Die dritte Fallgruppe (Art. 2 § 6 Abs. 2 Satz 1 ArVNG) umfaßt Personen, die vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt haben und jeden Kalendermonat in der Zeit vom 1. Januar 1984 bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalles mit Beiträgen oder den bei der Ermittlung der 60 Kalendermonate nach § 1246 Abs. 2 a RVO nicht mitzuzählenden Zeiten belegt haben. Auch die Voraussetzungen dieser Gruppe sind unstreitig nicht gegeben. Die Klägerin kann das danach bestehende Belegungserfordernis grundsätzlich auch nicht mehr durch Nachentrichtung freiwilliger Beiträge erfüllen, da gemäß § 1418 Abs. 1 RVO freiwillige Beiträge unwirksam sind, wenn sie nach Ablauf des Kalenderjahres, für das sie gelten sollen, entrichtet werden.

Im Ergebnis zu Recht hat das LSG auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt. Allerdings läßt sich dies nicht damit begründen, daß es sich bei der Frist zur Entrichtung von Beiträgen um eine materielle Ausschlußfrist handelt. Das BSG hat inzwischen mehrfach entschieden, daß auch bei Versäumung einer Frist des materiellen Sozialrechts die Wiedereinsetzung grundsätzlich zulässig ist (vgl. hierzu vor allem BSG SozR 1300 § 27 Nr. 4). Der Ausschluß der Wiedereinsetzung richtet sich jetzt allein nach § 27 Abs. 5 SGB X. Es muß sich aus der Rechtsvorschrift ergeben, daß die Wiedereinsetzung ausgeschlossen ist. Dies muß sich speziell bei älteren Vorschriften nicht unbedingt aus dem Wortlaut, sondern kann sich auch aus dem Sinnzusammenhang ergeben (BSG SozR 4100 § 78 Nr. 8 Seite 35 f).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. § 1418 RVO enthält eine detaillierte Regelung, unter welchen Voraussetzungen eine spätere Entrichtung von Beiträgen noch in Betracht kommt, wenn die Versicherte die Frist ohne ihr Verschulden versäumt hat (BSG SozR 2200 § 1418 Nr. 8). Allerdings bezieht sich die abgestufte Regelung des § 1418 Abs. 2 und 3 RVO nur auf Pflichtbeiträge. Gerade daraus ist aber zu schließen, daß eine Wiedereinsetzung für die Entrichtung freiwilliger Beiträge ausgeschlossen sein soll.

Auch ein Recht zur nachträglichen Entrichtung von Beiträgen nach Treu und Glauben im Wege der sog Nachsichtgewährung kommt nicht mehr in Betracht. Derartige Erwägungen sind in § 27 SGB X nunmehr gesetzlich konkretisiert und bei Versäumung materiell-rechtlicher Ausschlußfristen nur noch ausnahmsweise anzuwenden (BSGE 64, 153, 157).

Dementsprechend kommt es allein darauf an, ob der Klägerin ein Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen im Wege des sog Herstellungsanspruchs eingeräumt werden muß. Auch insoweit hat das BSG den § 1418 RVO als spezialgesetzliche Regelung angesehen, dies aber ausdrücklich auf die Nachentrichtung von Pflichtbeiträgen beschränkt (BSG SozR 2200 § 1418 Nr. 8 Seite 17 f).

Der Herstellungsanspruch ist von der Rechtsprechung entwickelt worden. Er verpflichtet die Behörde, dort, wo der Versicherten durch Verwaltungsfehler ein Nachteil in seinen Sozialrechten entstanden ist, den sozialrechtlichen Zustand herzustellen, der bestanden hätte, wenn die Behörde von Anfang an richtig gehandelt hätte. Da es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt, setzt er auch kein Verschulden voraus (BSGE 49, 76). In Betracht käme hier nach Lage der Sache nur ein Beratungsfehler, der dazu geführt hat, daß es die Klägerin mangels ausreichender Information versäumt hat, rechtzeitig ihre Ansprüche durch Entrichtung freiwilliger Beiträge zu sichern. Allerdings kann der Beklagten selbst ein solcher Beratungsfehler nicht vorgeworfen werden, da erstmalig durch den Antrag der Klägerin vom Oktober 1986 Anlaß zur Beratung bestand. Zu diesem Zeitpunkt konnten aber freiwillige Beiträge für die Jahre 1984 und 1985 bereits nicht mehr entrichtet werden.

Ein Herstellungsanspruch kann sich jedoch uU auch auf Fehler anderer Behörden stützen (BSGE 51, 89; BSG SozR 1200 § 14 Nr. 19), wenn diese es versäumt haben, die Klägerin auf sich aufdrängende Nachteile in anderen Rechtsbereichen zumindest hinzuweisen (BSG SozR 1200 § 14 Nr. 29). Ein solcher Verstoß könnte hier im Rahmen des Kontaktes der Klägerin mit der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1984 in Betracht kommen. Am 5. Juli 1984 fand ein Gespräch zwischen der Klägerin und einem Vermittler des AA Würzburg statt, in dem die Klägerin erklärte, daß sie wegen der Betreuung ihres erwerbsunfähigen Ehemannes künftig nur eine verminderte Arbeitszeit leisten könne. Einen Arbeitsplatz könne sie aber nicht aus eigener Kraft erreichen, da die nächste Busstation eineinhalb Kilometer entfernt sei, sie diesen Weg weder zu Fuß noch mit dem Fahrrad zurücklegen könne und auch keine Fahrgelegenheit habe. Die Klägerin wurde alsdann ausweislich der Akten des AA Würzburg am 1. August 1984 durch den beratenden Arzt des AA untersucht und für fähig befunden, die Strecke zur Bushaltestelle zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückzulegen. Im Rahmen dieser Begutachtung soll die Klägerin deutlich gemacht haben, daß sie erwäge, einen Antrag auf EU-Rente zu stellen. Dem folgte die Ablehnung des Antrags auf Alhi vom 5. Juli 1984 wegen fehlender Verfügbarkeit. Die Ablehnung bewirkte, daß die der Klägerin im Anschluß an ihre letzte Tätigkeit noch bis 19. Juli 1984 gewährten Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nicht weitergewährt wurden.

Bei dieser Situation kann ein Beratungsfehler des AA Würzburg vorliegen, wenn es die Klägerin nicht zumindest darauf hingewiesen hat, sich beim Rentenversicherungsträger über die Sicherung ihrer Ansprüche auf BU- bzw EU-Rente beraten zu lassen. Hierfür sprechen vorrangig zwei Gesichtspunkte:

Die Arbeitslosenversicherung war durch Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG iVm § 1246 Abs. 2 a Satz 2 Nrn 2, 6 und § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 RVO eng mit der Rentenversicherung verflochten, indem nämlich die Zeiten des Leistungsbezuges wegen Arbeitslosigkeit nicht nur als Aufschubzeiten iS von § 1246 Abs. 2 a Satz 2 Nrn 2, 6 RVO galten, sondern auch als Belegungszeiten iS des Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG von Bedeutung waren.

Hinzu kam, daß es sich bei den in § 1246 Abs. 2 a RVO und Art. 2 § 6 Abs. 2 ArVNG enthaltenen Neuregelungen des HBegleitG 1984 um äußerst einschneidende Regelungen handelte, die außerdem ihrer Art. nach im damaligen Rentenversicherungssystem nicht (mehr) angelegt waren. Die Notwendigkeit der Anwartschaftserhaltung war mit der Rentenreform 1957 beseitigt worden.

Darüber hinaus ging es um Ansprüche von bedeutsamen Gewicht für die Lebensgestaltung der Versicherten.

Diesen Umständen mußte das AA Rechnung tragen und die Klägerin, sofern sie ausdrücklich ihre Erwägung, einen Rentenantrag zu stellen, zum Ausdruck gebracht hatte, darauf hinweisen, daß mit der Ablehnung weiterer Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung für sie die Notwendigkeit entstand, ihre Ansprüche bzw Anwartschaften aus der Rentenversicherung auf andere Weise zu sichern und sich deshalb an den Rentenversicherungsträger zu wenden. Dies wäre um so mehr erforderlich gewesen, als bei Bescheiderteilung im August 1984 für die Klägerin nur noch wenige Monate zur Verfügung standen, die in 1984 eintretenden Belegungslücken durch Entrichtung freiwilliger Beiträge zu schließen.

Der erkennende Senat sieht in dieser Hinweispflicht keine Überforderung der Sozialleistungsträger. Die engen Verknüpfungen der verschiedenen Zweige der sozialen Sicherung (insbesondere Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung), die der Bürger oft nicht überschauen kann, machen es notwendig, die Beratungspflicht der Versicherungsträger dahin abzugrenzen, daß sie zumindest in Fragen, die für die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes oder erhebliche Leistungsteile bedeutsam sind, den Versicherten bei konkretem Anlaß jedenfalls auf den Beratungsbedarf aufmerksam machen müssen (s. dazu auch BSG SozR 1200 § 14 Nr. 29). Die Bundesanstalt für Arbeit kommt dem im übrigen in anderen Bereichen nach, insbesondere durch Hinweise auf den Wegfall des Krankenversicherungsschutzes bei Einstellung von Leistungen (s. dazu auch BSG SozR 1200 § 14 Nr. 28).

Ob danach hier ein Beratungsfehler des AA vorliegt, ist den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen, zumal dieses lediglich unterstellt hat, daß der die Gewährung von Alhi ablehnende Bescheid keinen Hinweis auf die rentenversicherungsrechtlichen Vorschriften des HBegleitG 1984 enthielt. Schon aus diesem Grunde kann der erkennende Senat nicht abschließend entscheiden. Der Herstellungsanspruch setzt zudem voraus, daß der Beratungsfehler für die Nichtentrichtung der freiwilligen Beiträge ursächlich geworden ist (BSG SozR 5070 § 10 Nr. 30). Dies wäre nur der Fall, wenn die Klägerin bei rechtzeitiger zutreffender Beratung bereit und in der Lage gewesen wäre, ab August 1984 laufend freiwillige Beiträge zu entrichten. Die danach erforderlichen Feststellungen muß das LSG noch nachholen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 927579

BSGE, 56

NJW 1994, 1550

Breith. 1994, 453

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