Verfahrensgang

Thüringer LSG (Urteil vom 20.06.1996; Aktenzeichen L 2 An 13/96)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 20. Juni 1996 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist der monatliche Wert des Rechts auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Der 1941 geborene Kläger absolvierte in der Zeit von 1971 bis 1976 neben seiner Beschäftigung im erlernten Beruf eines Werkzeugmachers ein Fernstudium, das er mit dem Sportlehrerdiplom abschloß. Vom 1. September 1978 bis 28. Februar 1982 war er planmäßiger wissenschaftlicher Aspirant an der Hochschule für Körperkultur, L.. Er bezog während dieser Zeit, in der er nicht als wissenschaftlicher Assistent versicherungspflichtig beschäftigt war, ein Stipendium und unterlag der pauschalen Studentenversicherung. Seine Aspirantur diente dem Erwerb des akademischen Grades eines Doktors der Pädagogik, der dem Kläger am 15. Juli 1982 aufgrund seiner wissenschaftlichen Befähigung auf dem Gebiet der Sportwissenschaft verliehen wurde. Ab März 1982 arbeitete er als Leiter einer Betriebssportgemeinschaft, dann als Berufs- und Hochschullehrer. Seit 1. November 1992 bezieht er eine Rente wegen BU. Bei der Berechnung dieser Rente lehnte es die Beklagte ab, die Zeit seiner wissenschaftlichen Aspirantur (1. September 1978 bis 28. Februar 1982) als Anrechnungszeit anzurechnen, weil sie nach Abschluß der (Hochschul-)Abschlußprüfung mit dem Sportlehrerdiplom zurückgelegt worden ist. Die Promotion sei nicht Endzeitpunkt einer Anrechnungszeit, wenn vor der Promotion im gleichen Studiengang bereits eine andere Abschlußprüfung mit Erfolg abgelegt worden ist (Bescheid vom 30. März 1994, Widerspruchsbescheid vom 17. August 1994).

Das Sozialgericht (SG) Nordhausen änderte den angefochtenen Rentenbescheid ab und verurteilte die Beklagte, die Zeit der Aspirantur des Klägers als Beitragszeit anzurechnen (Urteil vom 26. Oktober 1995). Auf die Berufung der Beklagten hat das Thüringer Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Zeit der wissenschaftlichen Aspirantur des Klägers sei weder eine Beitrags- noch eine Anrechnungszeit iS des SGB VI. Die mit der wissenschaftlichen Aspirantur verfolgte Promotion des Klägers habe der Vertiefung, Erweiterung und Spezialisierung bereits erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse gedient. Der Kläger habe sein Hochschulstudium bereits mit dem Erwerb des Grades eines Diplomsportlehrers abgeschlossen. Hieran ändere auch die Tatsache nichts, daß er sein Studium zum Diplomsportlehrer als Fernstudium neben seiner beruflichen Tätigkeit absolviert hat (Urteil vom 20. Juni 1996).

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, eine Verletzung des § 248 Abs 3 Satz 1 1. Halbsatz SGB VI gerügt und ua ausgeführt: Ob vor dem 3. Oktober 1990 Beitragszeiten im Beitrittsgebiet vorlagen, richte sich grundsätzlich nach dem Recht, das in der ehemaligen DDR gegolten habe. Danach sei die Zeit einer wissenschaftlichen Aspirantur eine Zeit der versicherungsrechtlichen Beitragspflicht gewesen. Zumindest sei diese Zeit als Anrechnungszeit anzuerkennen, denn sie sei nach dem Recht der ehemaligen DDR ein weiteres Studium gewesen. Ein Zweitstudium sei dann als Anrechnungszeit anrechenbar, wenn zur Berufsausübung zwei getrennte, abgeschlossene Hochschulausbildungen erforderlich seien. Dies sei bei ihm der Fall; zwar habe ihm bereits das Sportlehrerdiplom den Weg ins Berufsleben eröffnet. Gleichwohl sei der weitere Studiengang der planmäßigen wissenschaftlichen Aspirantur in der ehemaligen DDR nicht nur eine Qualifizierungsmaßnahme, sondern ein „normgeprägter Ausbildungsgang” gewesen, der ihn zur Tätigkeit als Hochschullehrer und Forscher befähigt habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 20. Juni 1996 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 26. Oktober 1995 zurückzuweisen,

hilfsweise, das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 20. Juni 1996 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Nordhausen vom 26. Oktober 1995 zu verurteilen, die Zeit der wissenschaftlichen Aspirantur des Klägers vom 1. September 1978 bis 28. Februar 1982 als Anrechnungszeit nach dem SGB VI anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.

Gegenstand revisionsgerichtlicher Prüfung ist nur, ob die Beklagte rechtmäßig den monatlichen Wert des dem Kläger seit dem 1. November 1992 zuerkannten subjektiven Stammrechts auf eine Rente nach dem SGB VI ohne Anrechnung der umstrittenen Zeit der planmäßigen Aspirantur als rentenrechtliche (Beitrags- oder Anrechnungs-)Zeit festgesetzt hat. Dagegen ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens, ob der Kläger gemäß §§ 1 ff Art 2 Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) Anspruch auf eine Sozialpflichtversicherungsrente hat, und ggf, ob insoweit die og Zeit der planmäßigen Aspirantur zu berücksichtigen ist. Hierüber hat die Beklagte – noch – nicht entschieden. Art 2 RÜG will aus Gründen des Vertrauensschutzes den „künftigen” Rentnern im Beitrittsgebiet (Rentenzugänge vom 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1996) für eine Übergangszeit einen Besitzschutz auf der Grundlage des alten „DDR-Rentenrechts” garantieren, entsprechend der Vertrauensschutzregelung des Art 30 Abs 5 Einigungsvertrag (EV). Art 2 RÜG begründet einen eigenständigen Rentenanspruch; er kann neben einem solchen nach dem SGB VI bestehen. Die Konkurrenz von Rentenansprüchen nach dem SGB VI und nach Art 2 RÜG wird mit Hilfe von § 319a und § 319b SGB VI gelöst. Ist der Zahlbetrag der Rente nach Art 2 RÜG höher als die SGB VI-Rente, so bleibt dem Rentenberechtigten dieser Zahlbetrag so lange erhalten, bis die Höhe der SGB VI-Rente erreicht ist. Diese Regelung hat jedoch nicht zur Folge, daß beide „Rentensysteme” miteinander vermischt werden und der Berechtigte sich auf die jeweils günstigeren Bestimmungen über Anspruchselemente aus dem einen oder anderen System berufen kann (vgl Urteil des Senats vom 24. Oktober 1996 – 4 RA 24/96).

Das LSG hat das Urteil des SG zu Recht aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat rechtmäßig entschieden, daß der monatliche Wert des dem Kläger seit dem 1. November 1992 zuerkannten subjektiven (Stamm-)Rechts auf eine Rente wegen BU nach dem SGB VI ohne Anrechnung der umstrittenen Zeit der planmäßigen wissenschaftlichen Aspirantur als rentenrechtliche (Beitrags- oder Anrechnungs-)Zeit festzustellen ist. Wie der Senat in seinem Urteil vom 24. Oktober 1996 (4 RA 121/95 – zur Veröffentlichung bestimmt) entschieden hat, erfüllt der Zeitraum einer planmäßigen wissenschaftlichen Aspirantur nicht den Erwerbstatbestand für eine rentenrechtliche Zeit iS des SGB VI. Hieran hält der Senat auch für den Fall fest, daß ein vor der planmäßigen wissenschaftlichen Aspirantur mit Erfolg abgeschlossenes, berufsqualifizierendes Studium den Tatbestand einer Anrechnungszeit deshalb nicht erfüllt, weil während dieses Studiums zeitgleich eine versicherungs- und beitragspflichtige Beschäftigung in einem anderen Beruf ausgeübt wurde.

Eine Anerkennung als Beitragszeit (iS von § 54 Abs 1 Nr 1 iVm § 55 SGB VI) scheidet vorliegend schon deswegen aus, weil der Kläger in dieser Zeit weder Pflichtbeiträge noch freiwillige Beiträge nach Bundesrecht gezahlt hat; es handelt sich auch nicht um eine Zeit, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten.

Eine Anrechnung als gleichgestellte Beitragszeit nach § 248 Abs 3 Satz 1 SGB VI scheidet ebenfalls aus. Nach dieser Vorschrift stehen den Beitragszeiten nach Bundesrecht Zeiten nach dem 8. Mai 1945 gleich, für die Beiträge nach einem System der gesetzlichen Rentenversicherung nach vor dem Inkrafttreten von Bundesrecht geltenden Rechtsvorschriften gezahlt worden sind (Satz 1 aaO). Nach Satz 2 aaO gilt dies nicht, wenn es sich bei der maßgeblichen Zeit um ua Zeiten der Hochschulausbildung handelt. § 248 Abs 3 Satz 2 SGB VI bestimmt, daß Beitragszeiten im Beitrittsgebiet ua nicht Zeiten der Hochschulausbildung sind. Unter „Hochschulausbildung” iS dieser Vorschrift ist jeder (in der früheren DDR als beitragspflichtige Versicherungszeit anerkannte) Erwerbstatbestand im Bereich einer Hochschule der früheren DDR zu verstehen, soweit er dadurch geprägt ist, daß es sich um Ausbildung an der Hochschule für einen Beruf gehandelt hat. Wie sich bereits aus der Entstehungsgeschichte des § 248 Abs 3 SGB VI ergibt, sollte ab Einführung einheitlichen Rentenrechts in Deutschland eine ungerechtfertigte Benachteiligung der Beitragszahler gegenüber den Rentenbeziehern vermieden werden. Es mußte ausgeschlossen werden, daß eine im fremden System als Versicherungspflichttatbestand anerkannte Hochschulausbildung zugunsten eines Teils der heutigen Rentner Bewertungsvorteile bringt, die dem größten Teil der Rentner, aber gerade auch den heute belasteten Beitragszahlern von vornherein nicht zuwachsen können (vgl BT-Drucks 11/4124, S 217). Das SGB VI wie zuvor das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) anerkennt Zeiten einer erstmaligen oder berufsqualifizierenden Ausbildung, die außerhalb eines entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses oder eines betrieblichen Ausbildungsverhältnisses zurückgelegt worden sind, nämlich nicht als Beitragszeiten (und nur teilweise und unter einschränkenden Voraussetzungen als Anrechnungszeiten). Hochschulausbildung ist danach schlechthin kein Erwerbstatbestand für Beitragszeiten.

§ 248 Abs 3 Satz 2 SGB VI steht der Anrechnung eines Zeitraums als SGB VI-Beitragszeit allerdings dann nicht entgegen, wenn die Ausbildung in ein entgeltliches Beschäftigungsverhältnis integriert war oder wenn neben der Ausbildung eine entgeltliche Beschäftigung ausgeübt oder ein anderer eine Beitragszeit begründender Tatbestand erfüllt war. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Der Kläger hat im hier streitigen Zeitraum ausschließlich eine „Hochschulausbildung” iS von § 248 Abs 3 Satz 2 Nr 1 SGB VI zurückgelegt. Ziel auch seiner Aspirantur war die systematische Ausbildung zum Hochschullehrer und Forscher. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (vgl §§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) handelte es sich um ein durch ein Stipendium abgesichertes Ausbildungsverhältnis an der Hochschule, ohne daß der Kläger in der hier streitigen Zeit neben seiner Aspirantur zugleich in einem beitragspflichtigen Beschäftigungsverhältnis oder einem betrieblichen Ausbildungsverhältnis, zB als wissenschaftlicher Assistent, stand.

Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Art 3 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫) liegt nicht vor. § 248 Abs 3 Satz 1 und 2 SGB VI gewährleisten gerade die Gleichbehandlung aller nach dem SGB VI Versicherten und aller nach diesem Gesetzbuch mit Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung belasteten Personen. Auch solche nach dem SGB VI Versicherten, die vor dem 1. Januar 1992 nach durch Examen erfolgreich abgeschlossenem Hochschulstudium im Rahmen eines Doktoranden- oder Habilitationsverhältnisses auf Stipendienbasis im alten Bundesgebiet berufsqualifizierend an Hochschulen ausgebildet worden sind, können aufgrund dieses Tatbestandes keine Beitragszeiten (iS des SGB VI) erhalten. Auch für sie – wie für den Kläger – handelte es sich um Qualifizierungsverhältnisse, die das Ziel hatten, „die systematische Ausbildung von Hochschullehrern und -forschern” durchzuführen. Eine Privilegierung der planmäßigen Aspiranten der früheren DDR wäre mit den zukunftsgerichtet auf Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte ausgerichteten Vorschriften des SGB VI sachlich nicht zu vereinbaren.

Das LSG hat auch richtig gesehen, daß die Beklagte den umstrittenen Zeitraum nicht als rentenrechtliche Anrechnungszeit anerkennen und anrechnen durfte. Nach § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen der Versicherte nach dem vollendeten 16. Lebensjahr ua eine Hochschule besucht und abgeschlossen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (stellvertretend SozR 3-2200 § 1259 Nr 9; SozR 2200 § 1259 Nr 100; Urteile vom 28. November 1990 – 4 RA 42/90 –, SozSich 1991, 352, und vom 29. März 1990 – 4 RA 37/89 –, SozSich 1991, 31; jeweils mwN) ist dieser Anrechnungszeittatbestand nur erfüllt, wenn ein immatrikulierter Student an einer Hochschule durch Teilnahme an den universitäts-spezifischen Lehrveranstaltungen sich die Inhalte seines Studienfaches aneignet und dieses Studium durch das vorgeschriebene oder übliche Examen oder – soweit ein solches weder vorgeschrieben noch üblich ist – durch eine gleichgestellte Leistung erfolgreich in dem Sinne abschließt, daß ihm regelmäßig der Weg in einen seiner bisherigen Ausbildung entsprechenden Beruf eröffnet ist. Diese Rechtsprechung gilt gerade auch für das am 1. Januar 1992 in Deutschland in Kraft getretene SGB VI.

Der streitige Zeitraum erfüllt die vorgenannten Voraussetzungen an eine Anrechnungszeit wegen Hochschulausbildung nicht. Der Kläger war in dieser Zeit kein immatrikulierter Student; er hat sich die für das Studium vorgesehenen Inhalte seines Faches nicht in dieser Zeit und nicht durch Teilnahme an den für Studenten gedachten Veranstaltungen erstmalig angeeignet; er hat ferner durch die Promotion nicht den Abschluß erreicht, der ihm eine seinem Studium entsprechende Berufstätigkeit erstmals ermöglicht hätte. Den Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen Hochschulausbildung hätte er vielmehr in der Zeit von 1971 bis 1976 erfüllen können, als er ein Fernstudium betrieb und dieses mit dem Sportlehrerdiplom abschloß. Die Beklagte konnte diese Zeit nur deshalb nicht iS einer Anrechnungszeit als Hochschulausbildung rentensteigernd anrechnen, weil der Kläger in diesem Zeitraum zugleich in einem versicherungs- und beitragspflichtigen Beschäftigungsverhältnis als Werkzeugmacher stand und die Anrechnungszeit durch die zeitgleiche Beitragszeit verdrängt wird. Im streitigen Zeitraum jedoch hat sich der Kläger, durch ein Stipendium abgesichert, für die Aufgaben eines Hochschullehrers und Forschers im Gebiet der Sportwissenschaft qualifiziert. Ein solcher Lebenssachverhalt ist im Anwendungsbereich des SGB VI kein Erwerbstatbestand für eine Anrechnungszeit wegen Hochschulausbildung (noch – wie oben ausgeführt – für eine Beitragszeit).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173851

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