Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückforderung. Rücknahme. Verwaltungsakt. Leistung ohne Verwaltungsakt. Zehn-Jahres-Frist. Bösgläubigkeit. Umdeutung. zu Unrecht erbrachte Leistung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 S 3 SGB 10 ist bei der Rückforderung ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbrachter Leistungen nicht entsprechend anzuwenden.

2. Wird eine Rente ohne bewilligenden Verwaltungsakt gezahlt, kann in einer Rentenanpassungsmitteilung des Rentenversicherungsträgers ein die Rente bewilligender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegen, der nach § 45 SGB 10 zurückzunehmen ist.

 

Orientierungssatz

1. Eine Rückforderung einer durch Verwaltungsakt bewilligten Leistung setzt dessen Rücknahme oder Berichtigung voraus.

2. Mitteilungen des Rentenversicherungsträgers über die Rentenanpassungen sind Verwaltungsakte (so der Senat im Urteil vom 8.4.1992 - 8 RKn 5/91 = SozR 3-2200 § 1278 Nr 2 S 3 mwN).

3. Die Zehn-Jahres-Frist beginnt mit dem Erlaß des Verwaltungsakts, der die zurückzunehmende Regelung trifft. Reine Anpassungs- bzw Folgebescheide begründen keine neuen Fristen. Die Rechtswidrigkeit des Grundbescheides führt nicht zur Rechtswidrigkeit der darauf aufbauenden Folgebescheide (BSG vom 13.7.1988 - 9/9a RV 34/86 = SozR 1300 § 45 Nr 37 gegen die "Theorie der konstitutiven Fehlerwiederholung").

 

Normenkette

SGB X §§ 43, 45 Abs. 3 S. 3, § 50 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 25.02.1992; Aktenzeichen S 2 Kn 133/89)

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 23.09.1993; Aktenzeichen L 2 Kn 74/92)

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem die Beklagte ca DM 125.000,-- an überzahlten Rentenleistungen zurückfordert.

Die Beklagte entzog dem im Jahre 1942 geborenen Kläger mit Bescheid vom 17. Februar 1978 die ihm seit 1972 gewährte Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit (BU) mit Wirkung ab 1. April 1978. Seine hiergegen erhobene Klage nahm der Kläger am 31. Oktober 1978 in einem Erörterungstermin vor dem Sozialgericht (SG) zurück. Gleichwohl zahlte die Beklagte die Rente weiterhin monatlich aus. Die Zahlungen wurden - mit Rentenanpassungsmitteilungen der Beklagten - aufgrund der Rentenanpassungsgesetze 1979 bis 1988 jeweils zum 1. Januar (bis 1982) bzw zum 1. Juli (ab 1983) angepaßt.

Im November 1988 stellte die Beklagte fest, daß die Rentenentziehung nicht vollzogen worden war. Nach Anhörung des Klägers machte sie mit Bescheid vom 6. März 1989 die Erstattung von Leistungen nach § 50 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) geltend. Der Betrag von DM 124.678,22 sei und ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos.

Das SG hat mit Urteil vom 25. Februar 1992 die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Die Beklagte habe die zehnjährige Ausschlußfrist des nach § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X bei der Rückforderung ohne Verwaltungsakt erbrachter Leistungen entsprechend anwendbaren § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB X versäumt. Diese habe am 1. April 1978 zu laufen begonnen. Bei wiederkehrenden Leistungen sei in der Regel in der ersten Leistung ein fiktiver Bescheid über die Dauerleistung (hier die Knappschaftsrente wegen BU) zu sehen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 23. September 1993 zurückgewiesen. Für die Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1978 stehe dem Rückforderungsanspruch der Beklagten die im Rahmen des § 50 Abs 2 SGB X entsprechend anwendbare Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 3 Nr 1 SGB X entgegen. Ein Empfänger von Leistungen, die ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht wurden, sei im Vertrauensschutz einem Empfänger von Leistungen mit einem Verwaltungsakt gleichzustellen. Dies erstrecke sich auch auf die Frist, innerhalb derer er mit gegen ihn gerichteten Maßnahmen zu rechnen habe. Hinsichtlich des Zeitraums ab 1. Januar 1979 könne die Beklagte eine Rückforderung nicht auf § 50 Abs 2 SGB X stützen, da der Kläger die Rente insoweit aufgrund von der Beklagten gesetzter Verwaltungsakte, nämlich der Rentenanpassungsmitteilungen, erhalten habe. Eine Umdeutung der von der Beklagten nach § 50 Abs 2 SGB X getroffenen Entscheidung in zwei (verbundene) Entscheidungen nach § 45 SGB X und nach § 50 Abs 1 SGB X sei nicht möglich.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 45 und 50 SGB X. Die Ausschlußfrist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X stehe dem Erstattungsanspruch nach § 50 Abs 2 SGB X nicht entgegen. Die angegebene Zehn-Jahres-Frist sei ausdrücklich auf Verwaltungsakte mit Dauerwirkung beschränkt. Eine zu Unrecht und ohne Verwaltungsakt erbrachte Leistung sei jedoch nicht auf eine Dauerwirkung ausgerichtet. Seien die Rentenanpassungsmitteilungen der Jahre 1979 bis 1988 als Verwaltungsakte anzusehen, sei entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts eine Umdeutung des angefochtenen Rückforderungsbescheides in zwei (verbundene) Entscheidungen nach § 45 SGB X und nach § 50 Abs 1 SGB X möglich. Ergänzend rügt die Beklagte eine Verletzung des § 35 SGB X. Der Kläger habe die Rechtswidrigkeit der Rentenzahlungen entweder erkannt oder aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht erkannt. Damit sei er bösgläubig gewesen, so daß die Beklagte zur Rückforderung keine Ermessensentscheidung im Rahmen des § 45 Abs 1 SGB X zu treffen gehabt habe (Hinweis auf Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 25. Januar 1994, SozR 3-1300 § 50 Nr 16).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. September 1993 sowie das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 25. Februar 1992 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 6. März 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 1989 abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. September 1993 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. September 1993 zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Die zulässige Revision der Beklagten ist nur teilweise und auch insoweit nur iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet.

Hinsichtlich der überzahlten Rente für den Zeitraum von April bis Dezember 1978 kann ein Rückforderungsanspruch der Beklagten nach § 50 Abs 2 SGB X bestehen. Die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X ist nicht anzuwenden. Insoweit bleiben jedoch noch die übrigen Rückforderungsvoraussetzungen zu prüfen (1). Die Rückforderung für den übrigen Zeitraum (Januar 1979 bis Februar 1989) erweist sich als rechtswidrig. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Mitteilungen über die Rentenanpassungen für die Zeit ab 1. Januar 1979 Verwaltungsakte darstellen und deshalb keine Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X durchgeführt werden kann (2). Eine Umdeutung (§ 43 Abs 1 SGB X) des angefochtenen Bescheides in einen verbundenen Rücknahme- und Rückforderungsbescheid nach § 45, § 50 Abs 1 SGB X scheitert daran, daß die Voraussetzungen für den Erlaß eines solchen Bescheides nicht erfüllt waren (3).

(zu 1) Der Rückforderung der noch für das Jahr 1978 erfolgten Rentenüberzahlung steht entgegen der Auffassung des LSG nicht bereits die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X entgegen. Diese Vorschrift ist nicht anwendbar.

Die Regelung des § 50 Abs 2 SGB X geht davon aus, daß der Empfänger einer zu Unrecht gewährten Leistung, der kein bewilligender Verwaltungsakt zugrunde lag, diese nicht schon wegen dieses Umstandes dem Leistungsträger zurückzuerstatten hat. Die Rigorosität des § 50 Abs 2 Satz 1 SGB X ("sind ... zu erstatten") wird durch Satz 2 abgemildert. Die hierin enthaltene Verweisung auf § 45 und § 48 SGB X bedeutet, daß die Schranken, die jene Vorschriften für eine Rücknahme bzw Aufhebung mit Rückwirkung (dh Wirkung für die Vergangenheit) - aus der dann nach § 50 Abs 1 SGB X ohne weiteres die Rückforderung folgt - aufstellen, entsprechend für die Rückforderung solcher Leistungen gelten, die ohne bewilligenden Verwaltungsakt erbracht werden.

Hiernach steht zB eine Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X ebenso im Ermessen der Behörde wie eine Rücknahme nach § 45 SGB X (s BSG vom 18. August 1983, BSGE 55, 250, 251 f = SozR 1300 § 50 Nr 3 sowie vom 25. Oktober 1984, SozR 1300 § 45 Nr 12 S 29 f); ferner ist die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X im Rahmen des § 50 Abs 2 SGB X entsprechend anzuwenden (BSG vom 9. September 1986, BSGE 60, 239, 240 = SozR 1300 § 45 Nr 26).

Aus den genannten Zusammenhängen kann jedoch eine (entsprechende) Geltung der Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X bei einer Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X nicht abgeleitet werden. Die entsprechende Anwendung der §§ 45 und 48 innerhalb des § 50 Abs 2 SGB X verlangt stets die Prüfung, inwieweit die Voraussetzungen der Verweisungsvorschriften bei einer Leistung ohne Verwaltungsakt überhaupt, wenn auch "entsprechend", erfüllt sein können.

Die Vorschrift des § 45 Abs 3 SGB X, die das LSG im Rahmen des § 50 Abs 2 SGB X entsprechend angewandt hat, enthält eine Sonderregelung für rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung. Für deren Rücknahme gelten besondere Fristen. Der Gesetzgeber hat damit im Interesse der Rechtssicherheit (BT-Drucks 8/4022 S 83) den durch einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung Begünstigten - auch bei Unlauterkeit iS des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X - einen höheren Schutz zugebilligt als den anderen Leistungsempfängern: Bei einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung steht bereits der Ablauf bestimmter Fristen (§ 45 Abs 3 Satz 1 oder 3 SGB X) einer Rücknahme entgegen (vgl zur Verweisung des § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X auf § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X: BSG vom 11. Dezember 1992, BSGE 72, 1, 3 ff = SozR 3-1300 § 48 Nr 22). Die reine Weiterzahlung einer Leistung ohne zugrundeliegenden Verwaltungsakt dagegen hat keine ähnliche Bedeutung und Wirksamkeit; ihr Empfänger kann dem Begünstigten eines Verwaltungsakts, welcher eine Dauerleistung zuspricht, nicht gleichgestellt werden. Denn die schlichte, wenn auch wiederholte, Zahlung einer Leistung macht keine in die Zukunft weisende Aussage. Sie bietet daher insoweit keine Rechtssicherheit. Daher kann weder die erste noch eine spätere schlichte Zahlung der nicht zustehenden (Dauer-)Leistung wie ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung behandelt werden; andernfalls würde man der schlichten Leistung einen anderen Inhalt geben als sie in Wirklichkeit hat (s § 39 Abs 1 Satz 2 SGB X). Ebensowenig kann auch eine Vielzahl einzelner Zahlungen in der Zusammenschau ihren Empfänger dem Adressaten eines Dauerverwaltungsakts gleichstellen. Folgerichtig behandelt auch die bereits zitierte Entscheidung des BSG vom 9. September 1986 (BSGE 60, 239, 241 = SozR 1300 § 45 Nr 26) jede ohne Verwaltungsakt erfolgende Einzelzahlung getrennt.

Die danach im vorliegenden Fall grundsätzlich mögliche Rückforderung der noch im Jahre 1978 überzahlten Rente setzt jedoch die Einhaltung der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X sowie die Unlauterkeit des Klägers nach § 50 Abs 2 iVm § 45 Abs 4 Satz 1, Abs 2 Satz 3 SGB X voraus. Hierzu hat das LSG noch keine Feststellungen getroffen. Insoweit könnte fraglich sein, inwieweit der Kläger beim Leistungsbezug, dh bei Empfang der einzelnen monatlichen Rentenzahlungen für April bis Dezember 1978 iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X bösgläubig war, dh die Rechtsgrundlosigkeit (Rechtswidrigkeit) der Leistung kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (BSG vom 9. September 1986, BSGE 60, 239, 240 = SozR 1300 § 45 Nr 26); dies könnte uU erst für Zahlungen ab Klagerücknahme (am 31. Oktober 1978) anzunehmen sein.

Bei Feststellung der Bösgläubigkeit des Klägers iS des § 50 Abs 2 Satz 2 iVm § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X bliebe zu prüfen, ob die Beklagte das Ermessen nach § 45 Abs 1 SGB X richtig ausgeübt hat. Da die Beklagte ausweislich der angefochtenen Bescheide ihr Ermessen betätigt hat, kann der Senat im vorliegenden Zusammenhang offenlassen, ob er der im Gegensatz zur allgemein geltenden Rechtsprechung des BSG (s zB BSG vom 18. August 1983, BSGE 55, 250, 254 = SozR 1300 § 50 Nr 3; vom 9. September 1986, BSGE 60, 239, 240 f = SozR 1300 § 45 Nr 26; vom 24. August 1988, BSGE 64, 36, 38 = SozR 4100 § 41 Nr 2; vom 21. März 1990, SozR 3-1300 § 45 Nr 3; vom 31. Oktober 1991, SozR 3-1300 § 45 Nr 10 S 33, 35; vom 29. Oktober 1992, SozR 3-1300 § 50 Nr 13 S 35; anders bisher nur für die Soziale Entschädigung: BSG vom 6. September 1989, SozR 1300 § 45 Nr 46 S 150 mwN) stehenden Auffassung folgt, die dem Urteil des 4. Senats vom 25. Januar 1994 (SozR 3-1300 § 50 Nr 16) entnommen werden könnte: Der Verwaltung stehe bei einer Rücknahme nach § 45 SGB X kein Ermessen für ihre Entscheidung zu, ob sie die einem Bösgläubigen zu Unrecht gewährten Leistungen - teilweise - zurückfordert. Bei Bösgläubigkeit sei der Ermessensspielraum auf Null reduziert. Nur in Ausnahmefällen dürfe von einer Rücknahme bzw Rückforderung abgesehen werden, etwa dann, wenn die Haftung des Bereicherten auf der rechtlichen Zurechnung des Verschuldens oder des Einkommens bzw der Bereicherung Dritter beruhe, evtl auch, wenn die Rückforderung einen "existenzvernichtenden Eingriff" darstellen würde.

Eine derartige Ermessensschrumpfung auf Null mag zwar für den vom 4. Senat entschiedenen Fall (Rentendoppelzahlung, die vom Kläger abgeleugnet wurde; falsche Versicherung an Eides Statt) angemessen gewesen sein. Auch der erkennende Senat ist der Auffassung, daß in besonders groben Fällen von Bösgläubigkeit das Ermessen eingeschränkt sein kann. So hat bereits der 9. Senat am 26. September 1990 entschieden (SozR 3-4100 § 155 Nr 2 S 16 f), daß bei betrügerischer Leistungserschleichung ohne aktenkundige oder vom Versicherten vorgetragene Umstände, die für das Ermessen Bedeutung haben könnten, das Verwaltungsermessen auf Null reduziert sei (der weitergehende Leitsatz 2 dieser Entscheidung ist durch die Gründe nicht gedeckt). Bedenklich erschiene jedoch, wenn der 4. Senat durch seine Rechtsprechung im Ergebnis auch für § 45 SGB X diejenige Rechtslage herstellen wollte, wie sie der Gesetzgeber in § 152 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der Fassung durch Art 1 Nr 50 des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) unter ausdrücklicher Abweichung von § 45 SGB X geschaffen hat.

Würde man die geschilderte Auffassung des 4. Senats der Rechtsprechung zu § 45 SGB X zugrunde legen, so müßte überdies auch überdacht werden, ob die bisherigen Maßstäbe für die Annahme einer Bösgläubigkeit beibehalten werden können - ob man zB von einer grob fahrlässigen Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit einer Leistungsbewilligung stets schon dann sprechen kann, wenn sich diese aus einem dem Betroffenen ausgehändigten Merkblatt ergibt (so jedoch BSG vom 20. September 1977, BSGE 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 2 mwN).

Zuzugeben ist der Argumentation des 4. Senats freilich, daß die Einbeziehung auch wirtschaftlicher Gesichtspunkte bei der Ausübung des Ermessens nach § 45 SGB X problematisch sein könnte. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der Möglichkeit, wirtschaftlichen Härten bei der Realisierung einer Rückforderung von Sozialleistungen nach § 76 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Viertes Buch - bzw § 59 Bundeshaushaltsordnung zu begegnen (hierzu der 4. Senat in SozR 3-1300 § 50 Nr 16 S 43). So mag zweifelhaft sein, ob die schlechte aktuelle wirtschaftliche Situation eines Betroffenen bereits die Rücknahme nach § 45 SGB X verbieten kann. Dann könnten bei später verbesserter Vermögenslage überzahlte Sozialleistungen nie mehr zurückgefordert werden. Hier scheint das Haushaltsrecht das speziellere und geeignetere Instrumentarium (Stundung, Niederschlagung bzw Erlaß) zur Verfügung zu stellen.

(zu 2) Einer Rückforderung der ab Januar 1979 überzahlten Rente nach § 50 Abs 2 SGB X steht entgegen, daß diese Zahlungen nicht, wie von der Vorschrift gefordert, ohne Verwaltungsakt erbracht wurden, sondern aufgrund eines Verwaltungsaktes. Fordert aber die Beklagte Sozialleistungen ausdrücklich nach § 50 Abs 2 SGB X zurück, so erweist sich der entsprechende Verwaltungsakt dann als rechtswidrig, wenn die Leistung aufgrund eines Verwaltungsakts gewährt wurde. Denn dann hat die Beklagte mit dem Rückforderungsbescheid nur die Erstattung der überzahlten Leistung geltend gemacht; eine Rückforderung einer durch Verwaltungsakt bewilligten Leistung setzt jedoch dessen Rücknahme oder Berichtigung voraus.

Der Kläger hat für den streitigen Zeitraum ab 1. Januar 1979 laufend Mitteilungen der Beklagten über die Rentenanpassungen zum 1. Januar bzw (ab 1983) zum 1. Juli erhalten. Derartige Mitteilungen des Rentenversicherungsträgers sind Verwaltungsakte (so der Senat im Urteil vom 8. April 1992, SozR 3-2200 § 1278 Nr 2 S 3 mwN).

Regelungsgehalt der ersten dieser Rentenanpassungsmitteilungen, nämlich der zum 1. Januar 1979, war die Aussage, daß dem Kläger angekündigte monatliche Zahlungen als Knappschaftsrente wegen BU erbracht würden. Dieses Verständnis der Rentenanpassungsmitteilung 1979 entspricht ihrem Wortlaut. Sie beschränkt sich nicht auf die Mitteilung des Erhöhungsbetrages, sondern informiert nach dem individuell in das Formblatt eingetragenen Hinweis, die Rente sei angepaßt, in den - jeweils individuell ausgefüllten - Rubriken über die Leistungsart/den bisherigen Zahlbetrag/die neue Zahlung ab Januar 1979 (ohne Beschränkung auf die Zeit bis Dezember 1979) sowie die bei der Anpassung berücksichtigten Werte (zB die Höhe der monatlichen Verletztenrente).

Zwar beschränkt sich nach der Rechtsprechung des BSG der Regelungsgehalt von Anpassungsbescheiden in der Regel darauf, die Anpassung an veränderte Verhältnisse vorzunehmen; sie sagen regelmäßig nichts darüber aus, ob dem Betroffenen die Leistung zusteht oder nicht (BSG vom 22. Juni 1988, SozR 1300 § 48 Nr 49 S 139 mwN). Dies kann jedoch nur dann gelten, wenn die angepaßte Leistung ihrerseits auf einem bewilligenden Verwaltungsakt beruht. Dann ist dieser Rechtsgrund für die Weitergewährung der hierin bewilligten (Grund-)Leistung, während die Anpassungsbescheide lediglich den Rechtsgrund für die Anpassung, zB die Rentenerhöhung nach den Anpassungsgesetzen, darstellen.

Im vorliegenden Fall beruhte, wie oben (zu 1) ausgeführt, die dem Kläger bis einschließlich Dezember 1978 gewährte Leistung nicht auf einem bewilligenden Verwaltungsakt. Die "Rentenanpassungsmitteilung" zum 1. Januar 1979 muß mit ihrem bekanntgegebenen Inhalt (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB X) aus dem objektivierten Empfängerhorizont heraus (s BSG vom 28. Juni 1990, BSGE 67, 104, 110 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2; vgl auch BSG vom 29. Oktober 1992, SozR 3-1300 § 50 Nr 13 S 34, jeweils mwN) ausgelegt werden. Die Mitteilung, ab Januar 1979 werde "die Rente" angepaßt und in bestimmter Höhe gezahlt, konnte von dem Kläger nur dahin verstanden werden, daß er - wieder oder weiterhin - Rente bekommen solle, daß er also den angegebenen Monatsbetrag ab 1979 als Knappschaftsrente wegen BU erhalte.

Dem kann angesichts des gesamten Inhalts des Bescheides nicht entgegengehalten werden, die Rentenanpassungsmitteilung habe für den Kläger gerade deshalb gar keinen Regelungsgehalt gehabt, weil ihr kein Rentenbewilligungsbescheid zugrunde lag und der Kläger dies auch gewußt habe. Eine derartige Argumentation verquickt Gesichtspunkte der individuellen Bösgläubigkeit des Adressaten einer behördlichen Mitteilung (durfte der Kläger annehmen, die Rente stehe ihm zu?) mit ihrem erkennbaren Regelungsgehalt; sie steht im Widerspruch zur Regelung des § 39 Abs 1 Satz 2 SGB X: Ein Verwaltungsakt wird hiernach mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird. Deshalb muß das Schwergewicht der Auslegung nicht auf dem - subjektiven - Erkenntnisstand seines Empfängers, sondern auf den Aussagen des Bescheides liegen. Diese aber mußten auch deswegen dahingehend verstanden werden, daß die Beklagte dem Kläger die angekündigten monatlichen Zahlungen als Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit leisten werde, weil die Mitteilung andernfalls im Widerspruch zur bestandskräftigen Rentenentziehung zum April 1978 gestanden hätte.

Der Regelungsgehalt der übrigen Rentenanpassungsmitteilungen (für die Jahre ab 1980) beschränkte sich demgegenüber auch aus dem Horizont des Klägers wiederum auf den Anpassungsbetrag; sie waren als solche nicht rechtswidrig (vgl BSG vom 13. Juli 1986, SozR 1300 § 45 Nr 37).

(zu 3) Der angefochtene Bescheid kann nicht in einen verbundenen Rücknahme- und Rückforderungsbescheid (§ 45, § 50 Abs 1 SGB X) umgedeutet (§ 43 Abs 1 SGB X) werden.

Er wäre zwar grundsätzlich einer Umdeutung dahingehend zugänglich, daß mit ihm (auch) die Bewilligung der Rente wegen BU zurückgenommen wird. Dem widerspricht nicht, daß sowohl der Rückforderungsbescheid vom 6. März 1989 als auch der Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 1989 ausdrücklich ausführen, hiermit würden zu Unrecht ohne Verwaltungsakt erbrachte Leistungen gemäß § 50 Abs 2 SGB X zurückgefordert. Denn die Beklagte hat - wenn auch im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 50 Abs 2 SGB X - die Voraussetzungen für die Rücknahme eines der BU-Rente zugrundeliegenden Verwaltungsakts ebenfalls geprüft und bejaht. Der Rückforderungsbescheid enthält nämlich ua folgende Ausführungen:

"Sind Leistungen zu Unrecht ohne Verwaltungsakt erbracht, dann entsteht der Erstattungsanspruch nach § 50 Abs 2 SGB X, sofern ein der Leistung zugrundeliegender Verwaltungsakt, wenn er existieren würde, nach § 45 SGB X für die Vergangenheit zurückgenommen werden könnte. Es ist also eine fiktive Prüfung vorzunehmen. Nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X kann ein Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. In diesen Fällen kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen.

Die Bundesknappschaft hat deshalb geprüft, ob ein der Leistung zugrundeliegender Verwaltungsakt, wenn er existieren würde, nach § 45 SGB X für die Vergangenheit zurückgenommen werden könnte. Dies setzt eine Vertrauensschutzabwägung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X voraus."

Der Widerspruchsbescheid nimmt ebenfalls auf eine fiktive Rücknahmeprüfung Bezug:

"Die Erstattung ist jedoch nur zulässig, wenn ein Verwaltungsakt, der dieser Leistung zugrunde gelegen hätte, mit Wirkung für die Vergangenheit hätte zurückgenommen werden können ...".

Wenn aber die Beklagte ausdrücklich ihre Berechtigung zur Rückforderung auch unter der Voraussetzung bejaht hat, es sei ein bewilligender Verwaltungsakt erlassen worden, kann ihr im gegebenen Fall nicht entgegengehalten werden, es fehle an einer ausreichenden Ermessensbetätigung. Insoweit ist der vorliegende Fall anders gelagert als jener, über den das BSG am 29. Oktober 1992 (SozR 3-1300 § 50 Nr 13) zu entscheiden hatte. Damals hatte die Verwaltung die Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X nicht unter Hinweis darauf ausgesprochen, daß bei Unterstellung eines bewilligenden Verwaltungsaktes dieser zurückgenommen werden könne.

Voraussetzung für eine Umdeutung des angefochtenen Bescheides in einen verbundenen Rücknahme- und Rückforderungsbescheid nach § 45, § 50 Abs 1 SGB X ist jedoch nicht nur, daß dieser auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können (§ 43 Abs 1 SGB X), nicht der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspricht und seine Rechtsfolgen nicht für den Betroffenen ungünstiger sind als die des fehlerhaften Verwaltungsakts (§ 43 Abs 2 Satz 1 SGB X). Für eine Umdeutung ist weiter erforderlich, daß auch die Voraussetzungen für den Erlaß des Bescheides, in den umzudeuten ist (hier: des verbundenen Rücknahme- und Rückforderungsbescheides) erfüllt sind (§ 43 Abs 1 aE SGB X). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Denn sieht man mit den Ausführungen zu (2) die im Dezember 1978 ergangene Rentenanpassungsmitteilung zum 1. Januar 1979 als (Grund-)Bescheid über die BU-Rente des Klägers an, so hat die Beklagte mit einem Rücknahmebescheid vom 6. März 1989 jedenfalls die Zehn-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X versäumt.

Nichts anderes ergibt sich daraus, daß die Beklagte dem Kläger auch in den Folgejahren, also bereits innerhalb einer Frist von zehn Jahren vor Erlaß des Rückforderungsbescheides vom 6. März 1989, weitere Rentenanpassungsmitteilungen erteilt hat. Denn mit deren Erlaß begann keine (neue) Zehn-Jahres-Frist iS des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X mit der Folge, daß dem Kläger die Renten jedenfalls ab 1. Januar 1980 entzogen werden könnte. Die genannte Frist beginnt vielmehr mit dem Erlaß des Verwaltungsakts, der die zurückzunehmende Regelung (hier: Gewährung der BU-Rente) trifft. Reine Anpassungs- bzw Folgebescheide begründen keine neuen Fristen. Die Rechtswidrigkeit des Grundbescheides führt nicht zur Rechtswidrigkeit der darauf aufbauenden Folgebescheide (BSG vom 13. Juli 1988, SozR 1300 § 45 Nr 37 gegen die "Theorie der konstitutiven Fehlerwiederholung"). Die Rentenanpassungsmitteilungen für die Jahre ab 1980 waren auch nicht etwa deshalb eigenständig rechtswidrig, weil sie die BU-Rente nicht nach § 48 Abs 3 SGB X "eingefroren" haben (BSG vom 24. März 1987, SozR 1300 § 48 Nr 33 S 103 f); die Anwendung dieser Vorschrift setzt stets den Erlaß eines konstitutiven (feststellenden) Verwaltungsakts voraus (BSG vom 22. Juni 1988, BSGE 63, 266, 269 = SozR 3642 § 9 Nr 3; BSG vom 31. Januar 1989, SozR 1300 § 48 Nr 54 S 155).

Schließlich ist auch keine Umdeutung in einen verbundenen Berichtigungs- und Rückforderungsbescheid (§ 38 iVm § 50 Abs 2 SGB X) möglich. Die Rentenanpassungsmitteilung vom Dezember 1978 ist keiner - ohne Beachtung einer Zehn-Jahres-Frist möglichen - Berichtigung nach § 38 SGB X zugänglich. Sie ist nicht offenbar unrichtig iS des § 38 Satz 1 SGB X. Insoweit kommen nur bestimmte Fehler im Ausdruck des Willens und nicht auch Fehler in der den materiellen Inhalt des Verwaltungsakts beeinflussenden Willensbildung in Betracht (BSG vom 19. Januar 1966, BSGE 24, 203, 204 = SozR Nr 50 zu § 77 SGG; BSG vom 31. Mai 1990, BSGE 67, 70 f = SozR 3-1300 § 38 Nr 1); die Unrichtigkeit muß ferner auf dem Zusammenhang des Verwaltungsakts oder den Vorgängen bei seiner Bekanntgabe beruhen (BVerwG vom 23. Oktober 1985, NVwZ 1986, 198). Hieraus aber folgt, daß ein Verwaltungsakt nicht aus dem Grund "offenbar unrichtig" sein kann, daß er gar nicht hätte ergehen dürfen. So aber liegt der Fall hier: Da die BU-Rente bindend entzogen worden war, bedurfte sie keiner Anpassung (oder sonstigen Regelung). Wenn richtigerweise überhaupt kein Verwaltungsakt hätte erlassen werden dürfen, liegt iS des § 38 Satz 1 SGB X keine offenbare Unrichtigkeit "in einem Verwaltungsakt" vor.

Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist nur die Rückforderung der Überzahlung bis einschließlich Februar 1989; die Umdeutung des angefochtenen Bescheides in einen Rücknahmebescheid ist, wie aufgezeigt, nicht zulässig. Über Ansprüche des Klägers für folgende Zeiträume hatte der Senat nicht zu entscheiden.

In seiner abschließenden Kostenentscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 517767

BSGE, 291

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