Beteiligte

…, Kläger und Revisionskläger

Landesversicherungsanstalt Hessen, Frankfurt, Städelstraße 28, Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Der Kläger begehrt Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU). Im Revisionsverfahren rügt er vornehmlich Ermittlungsfehler des Landessozialgerichts (LSG) in bezug auf die Wertigkeit seines zuletzt ausgeübten Berufs, seine Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit sowie das Vorhandensein geeigneter Arbeitsplätze.

Der Kläger, geboren 1948, ist von Beruf Maler. In der Zeit zwischen 1973 und 1987 war er bei der Firma H. AG als Betriebsfachwerker (Fahrer von Kesselansätzen) tätig. Sein Aufgabengebiet umfaßte die Steuerung und Überwachung einer Betriebsanlage, die Kontrolle von Meßwerten und die Reinigung der Anlage. Seit 1987 konnte er diese Arbeiten wegen physischer und psychischer Erkrankungen nicht mehr ausführen. Er wurde daraufhin Anfang 1988 im Labor zum Abfüllen von Proben eingesetzt und war seit September 1988 durchgehend arbeitsunfähig krank. Bis Juli 1988 war der Kläger tariflich als angelernter Chemiefacharbeiter in die Lohngruppe V des Lohnrahmenabkommens für die Chemische Industrie des Landes Hessen eingruppiert. Nach der Ablösung der Rahmentarifverträge durch den Bundesrahmentarifvertrag wurde er ab August 1988 in die Lohngruppe E 06 als Facharbeiter hochgestuft.

Den vom Kläger im Januar 1989 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. August 1989 ab, weil der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mittelschwere Arbeiten, wenn auch mit Einschränkungen, vollschichtig verrichten könne.

Die Klage beim Sozialgericht Frankfurt/Main (SG) hatte teilweise Erfolg (Urteil vom 5. Mai 1993). Das SG hatte weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Klägers vorgenommen. In einem Gutachten des Internisten Dr. G. vom 12. März 1991 wurde dabei ausgeführt, mehr als einfache geistige Arbeiten seien vom Kläger nicht zu fordern; auch sei die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit bei der mehrfach neurologisch bestätigten seelischen Störung sehr gering. Ferner wurde im psychologischen Gutachten eine sehr niedrige Leistungsfähigkeit des Klägers festgestellt. Das Leistungsgemögen habe in den letzten drei Jahren stark abgenommen. Weitere berufskundliche Ermittlungen über das Landesarbeitsamt (LArbA) führten zu der Feststellung, daß der Kläger noch Tätigkeiten als Montierer in der Metall- und Elektroindustrie sowie als Warensortierer ausüben könne. Die Einarbeitungszeit betrage maximal drei Monate. Dies veranlaßte das SG, dem Kläger BU-Rente ab 1. Februar 1989 zuzusprechen. Im übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Auf die Berufung der Beklagten wurde das Urteil des SG Frankfurt "aufgehoben" und die Klage abgewiesen. Die Anschlußberufung des Klägers wurde zurückgewiesen (Urteil des Hessischen LSG vom 26. September 1995).

Im Rahmen des Berufungsverfahrens wurde ua ein Gutachten des Internisten Dr. S. als Hauptgutachter eingeholt (erstattet am 16. September 1994) mit Zusatzgutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. (erstattet am 22. August 1994) sowie eine dort eingearbeitete Stellungnahme der behandelnden Psychologin M. N. vom 2. Mai 1994.

Insgesamt kommen die Gutachten zu dem Ergebnis, dem Kläger könnten nur noch leichte körperliche Arbeiten zugemutet werden; die Arbeiten sollten im steten Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen durchgeführt werden. Gleichfalls seien Zwangshaltungen sowie überwiegende Überkopfarbeiten, Arbeiten unter besonderem Zeitdruck sowie Schicht- und Nachtarbeiten zu vermeiden. Arbeiten mit erhöhter Verantwortung seien gleichfalls nicht übertragbar. Schließlich seien auch Arbeiten unter Einwirkung vermehrter Belastung mit Gasen, Stäuben, Dämpfen sowie unter Einwirkung von Nässe nicht geeignet.

Das LArbA Hessen hat nach Kenntnis dieser Gutachten auf Anfrage des LSG am 13. März 1995 mitgeteilt, unter Zugrundelegung des fachärztlichen Gutachtens des Dr. S. vom 16. September 1994 sei der Kläger weiterhin in der Lage, die Verweisungstätigkeiten als Montierer sowie Warensortierer zu verrichten. Darüber hinaus kämen für ihn noch die Tätigkeiten als Warenaufmacher/Versandfertigmacher in Betracht. Es handele sich um ungelernte Arbeiten, für die keine besondere Ausbildung erforderlich sei und die nach einer entsprechenden Einarbeitungs- und Einweisungszeit verrichtet werden könnten. Die Einarbeitungs-bzw Einweisungszeiten betrügen maximal drei Monate. Die genannten Tätigkeiten ständen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt des Bundesgebietes in nennenswertem Umfang zur Verfügung. Die einzelnen Tätigkeiten wurden in der Auskunft näher beschrieben.

Der Kläger hat daraufhin mit Schriftsatz vom 21. September 1995 beantragt (und im einzelnen begründet),

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ein psychologisches Gutachten über seine Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit einzuholen,

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ein arbeitsmedizinisches Gutachten darüber einzuholen, ob er die vom LArbA Hessen vorgeschlagene Tätigkeit noch verrichten könne,

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eine Auskunft vom früheren Arbeitgeber der Firma Farbwerke H. AG darüber einzuholen, weshalb eine Umsetzung auf einen leichteren Arbeitsplatz, zB als Warensortierer, Versandfertigmacher oder Warenaufmacher bei der Firma H. nicht möglich gewesen sei,

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beim LArbA Hessen eine Stellungnahme darüber einzuholen, wieviel freie Arbeitsplätze als Montierer, Warenaufmacher/Versandfertigmacher und Warensortierer seit 1989 im Bezirk des LArbA's Hessen gemeldet gewesen seien.

Diese Anträge hat er in der (letzten) mündlichen Verhandlung vom 26. September 1995 wiederholt. Das LSG hat diesen Anträgen aber nicht entsprochen. Es war der Auffassung, daß auch aufgrund der bisherigen Beweislage feststehe, daß der Kläger nicht berufsunfähig sei. Bisheriger Beruf des Klägers sei die von ihm bis 1987 ausgeübte Tätigkeit eines "Fahrers von Kesselansätzen (Betriebsfachwerker)" bei der Firma H. AG. Dabei handele es sich um eine Tätigkeit, die der Berufsgruppe der angelernten Arbeiter - oberer Bereich - zuzurechnen sei. Daran habe sich durch die Umsetzung ins Labor nichts verändert, denn er habe diese Arbeit gesundheitsbedingt nicht vollwertig ausüben können. Aus der Höhergruppierung in die Gruppe E 06 könne der Kläger ebenfalls keinen Berufsschutz als Facharbeiter herleiten. Diese Eingruppierung durch den Arbeitgeber stelle zwar ein Indiz für die Wertigkeit der ausgeübten Tätigkeit dar. Dieses Indiz sei aber vorliegend widerlegt, weil nach der Arbeitgeberauskunft die Umsetzung in das Labor gesundheitsbedingt erfolglos gewesen sei.

Zum Leistungsbild des Klägers hat das LSG sich den von ihm gehörten Sachverständigen angeschlossen. Da der Kläger auch neurologisch-psychiatrisch und psychologisch untersucht worden sei, bestehe für die Einholung eines weiteren Gutachtens zur Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit keine Veranlassung mehr. Gleiches gelte für die Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens, weil der Sachverständige Dr. S. am 16. September 1994 ein solches Gutachten vorgelegt habe. Mit diesem Leistungsvermögen könne der Kläger zwar nicht mehr seinen bisherigen Beruf ausüben, jedoch sei er noch in der Lage, den vom LArbA Hessen genannten Tätigkeiten als Montierer in der Metall- und Elektroindustrie, Warenaufmacher/Versandfertigmacher und Warensortierer gerecht zu werden. Da diese Tätigkeiten immerhin Einweisungszeiten von bis zu drei Monaten erforderten, seien diese Tätigkeiten auch sozial zumutbar. Das LArbA habe auch erklärt, daß Verweisungstätigkeiten der genannten Art auf dem Arbeitsmarkt des Bundesgebiets in nennenswertem Umfang zur Verfügung ständen. Für eine zusätzliche Beweiserhebung in dieser Richtung sei deshalb ebenfalls kein Grund gegeben.

Mit der Revision rügt der Kläger zunächst unzureichende Ermittlungen zum bisherigen Beruf. Dazu trägt er vor, er habe schon vor 1988 Tätigkeiten der Leistungsgruppe E 06 ausgeübt. Deswegen habe das LSG nicht allein auf seine Tätigkeit im Labor abstellen dürfen. Dies gelte um so mehr, als auch nach der Definition dieser Gruppe mehrjährige einschlägige Berufspraxis Voraussetzung sei. Das LSG hätte deshalb weitere Ermittlungen zur bisherigen Tätigkeit anstellen müssen, bevor es die Einstufung als widerlegt angesehen habe.

Als zweites macht der Kläger geltend, daß die medizinische Begutachtung bisher seinen Leidenszustand nicht richtig widerspiegele. Er leide unter einer auch durch den Psychiater festgestellten "kontinuierlich zunehmenden Selbstüberforderung". Damit sei auch die Fähigkeit ausgeschlossen, sich in eine berufsfremde Tätigkeit einzugewöhnen und anzupassen. Die Frage, inwieweit er in der Lage sei, sich auf berufsfremde Tätigkeiten umzustellen, sei in den vorliegenden Gutachten bisher nicht beantwortet worden. Deshalb habe das von ihm beantragte psychologische Gutachten eingeholt werden müssen. Es hätte ergeben, daß die Existenzängste und Depressionen bei ihm mittlerweile so stark seien, daß er sich isoliert und schnell überfordert fühle. Das gelte vor allem gegenüber neuen Situationen.

Als drittes vertritt der Kläger die Ansicht, das LSG habe nicht ausreichend geprüft, ob geeignete Arbeitsplätze vorhanden seien. Es hätte ermitteln müssen, wieso eine Umsetzung innerhalb der großen Firma H. nicht möglich gewesen sei. Es hätte sich dann ergeben, daß seine spezielle Problematik einen Einsatz auf den allgemein bekannten Arbeitsplätzen ausschließe. An diesem praktischen Fall lasse sich seine berufliche Einschränkung besser demonstrieren als durch theoretische Überlegungen.

Schließlich rügt der Kläger, das LSG habe die erforderliche Abgleichung zwischen Anforderungen der einzelnen ihm angesonnenen Verweisungstätigkeiten und seinem Restleistungsvermögen nicht vorgenommen.

Der Kläger beantragt dem Sinne nach,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen sowie im Wege der Anschlußberufung das Urteil des SG vom 5. Mai 1993 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. August 1989 zu verurteilen, ihm auf der Grundlage eines Versicherungsfalles vom 31. Januar 1989 ab 1. Februar 1989 Versichertenrente wegen EU zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.

Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Es fehlen noch Feststellungen zur Umstellungsfähigkeit des Klägers.

Der streitige Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen EU oder BU richtet sich noch nach §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO), da der Rentenantrag bereits 1989 - also bis zum 31. März 1992 - gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch [SGB VI]; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Nach § 1246 Abs 2 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte eines körperlich oder geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs oder der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. EU liegt hingegen vor, wenn der Versicherte aufgrund entsprechender gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO). Da der Versicherungsfall der EU an strengere Voraussetzungen geknüpft ist als derjenige der BU, ist nicht zu beanstanden, daß das LSG vorrangig geprüft hat, ob der Kläger berufsunfähig ist.

Für die Beurteilung der BU ist das LSG zutreffend von dem bisherigen Beruf des Klägers ausgegangen. Es hat insofern auf die vom Kläger bis zu seiner gesundheitlich bedingten Versetzung in ein Labor versicherungspflichtig ausgeübten Beschäftigung als Betriebsfachwerker (Fahrer von Kesselansätzen) abgestellt und dazu festgestellt, daß er diese Tätigkeit aus Gesundheitsgründen nicht mehr verrichten könne. Die später verrichtete Tätigkeit im Labor muß schon deshalb außer Betracht bleiben, weil der Kläger sie nach den Feststellungen des LSG nicht vollwertig ausgeübt hat. An diese Tatsachenbeurteilung ist der erkennende Senat gebunden, da die betreffenden Feststellungen nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind (vgl § 163 SGG). Unter diesen Umständen hängt der Rentenanspruch des Klägers, wie das LSG ebenfalls zu Recht angenommen hat, davon ab, ob ihm zumindest eine andere Tätigkeit benannt werden kann, die ihm sozial zumutbar ist und die er sowohl gesundheitlich als auch fachlich zu bewältigen vermag.

Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Prüfung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung gebildet worden, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben. Dementsprechend werden die Gruppen durch den Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des hochqualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (s zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 44; ständige Rechtsprechung). Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür ist allein die Qualität der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben ist (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 33).

Das LSG hat den Beruf des Klägers dem oberen Bereich der Anlerntätigkeiten zugeordnet. Es hat sich dabei auf die Arbeitgeberauskunft sowie darauf gestützt, daß der Kläger während der gesamten Zeit seiner Tätigkeit als Fahrer von Kesselansätzen in die Lohngruppe V des Lohnrahmenabkommens für die Chemische Industrie des Landes Hessen - Stand 1. August 1983 - eingruppiert war. Ob diese Beurteilung zutrifft, läßt sich noch nicht abschließend entscheiden.

Das LSG knüpft damit an die Rechtsprechung des BSG zur Bedeutung der Tarifverträge und der tariflichen Eingruppierung durch den Arbeitgeber für die Wertigkeit der ausgeübten Tätigkeit an. Das BSG hat hierzu entschieden (vgl ua BSGE 70, 56; Urteil vom 25. August 1993 - 13 RJ 21/92), daß dem Tarifvertrag unter zwei Gesichtspunkten Bedeutung beizumessen ist: Zum einen der abstrakten - "tarifvertraglichen" - Klassifizierung einer Tätigkeit (im Sinne eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrags,

zum anderen der - "tariflichen" - Zuordnung der konkreten zuletzt ausgeübten Tätigkeit eines Versicherten zu einer Lohngruppe des Tarifvertrages, dh der individuellen tariflichen Eingruppierung, durch den Arbeitgeber. In beiden Bereichen sind die Folgerungen für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch verschieden.

Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Lohngruppenverzeichnis aufführen und einer bestimmten Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in einer Tarifgruppe genannten Tätigkeit auf deren Qualität beruht. Denn die Tarifpartner als die unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligten nehmen relativ zuverlässig eine Wertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs gemessen an den nach § 1246 Abs 2 RVO maßgebenden Merkmalen entspricht. Demgemäß läßt die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, die hinsichtlich der Qualität der in ihr aufgeführten Arbeiten durch den Leitberuf des angelernten Arbeiters im oberen Bereich geprägt ist, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit als obere Anlerntätigkeit zu qualifizieren ist (vgl auch BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 14).

Ob ein solcher Fall vorliegt, kann dem Berufungsurteil nicht entnommen werden. Das LSG hat insoweit zum Inhalt des Tarifvertrages nur die Feststellung getroffen, daß es sich bei der Lohngruppe V um eine Gruppe für angelernte Arbeitnehmer handele; die Aufführung einzelner Berufe ist nicht erwähnt. Auch sonst fehlen Feststellungen zum Inhalt des Tarifvertrages, insbesondere der Tätigkeitsbeschreibung in Lohngruppe V. Diese Feststellungen muß das LSG noch nachholen. Sollte sich dabei ergeben, daß der maßgebliche Tarifvertrag mit der in der Akte befindlichen Ablichtung des Rahmentarifvertrages für die chemische Industrie Hessen - Stand 1. August 1983 - übereinstimmt, könnte auf eine ausdrückliche Nennung des Berufs "Fahrer von Kesselansätzen" oder "Betriebsfachwerker" nicht zurückgegriffen werden. Es könnte nur festgestellt werden, daß die Lohngruppe V eine Anlerngruppe - oberer Bereich - ist, weil sie durch die in Ziffer 1a genannten Anlernberufe mit zweijähriger Ausbildung geprägt ist. Der Kläger wäre dieser Gruppe gemäß Ziffer 1b gleichgestellt, wenn er aufgrund längerer Berufspraxis als qualifizierter Chemiearbeiter eine entsprechende Tätigkeit ausgeübt hätte.

Für die Frage, ob dies zutraf, kann allerdings dann auf die tarifliche Eingruppierung durch den Arbeitgeber zurückgegriffen werden. Sie stellt nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein Indiz dafür dar, daß die von dem Versicherten konkret ausgeübte Tätigkeit in ihren Merkmalen und ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird. Dies gilt ua dann, wenn die Berufsgruppe sich an geregelten Anlernberufen orientiert (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 14 S 55f und Nr 21 S 79). Überall dort, wo konkrete Tätigkeitsbeschreibungen zumindest mittelbar in den Tarifvertrag übernommen worden sind, liegt eine Bewertungsgrundlage vor, an der sich der Arbeitgeber orientieren kann. Dies ist ua dann der Fall, wenn die tarifliche Eingruppierung davon abhängt, daß der Arbeitnehmer aufgrund längerer Berufspraxis eine einem geregelten Ausbildungs- oder Anlernberuf entsprechende Tätigkeit ausübt. In solchen Fällen kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß der Arbeitgeber die Tätigkeit des Versicherten sachgerecht bewertet hat. Lediglich dann, wenn konkrete Anforderungsmuster fehlen, der Tarifvertrag also nur allgemeine Tätigkeitsmerkmale enthält, ist eine umfassende Überprüfung erforderlich (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 21 S 79f), weil insofern nicht hinreichend erkennbar wäre, an welchen Beurteilungskriterien sich der Arbeitgeber im Einzelfall orientiert hat.

Da die tarifliche Eingruppierung durch den Arbeitgeber unter den genannten Voraussetzungen lediglich ein widerlegbares Indiz ist, hat sie außerdem unberücksichtigt zu bleiben, wenn sie sich als unzutreffend erweist. Dies gilt sowohl für zu hohe als auch für zu niedrige Eingruppierungen (zu letzterem siehe SozR 3-2200 § 1246 Nr 32). Das BSG hat dabei jedoch stets deutlich gemacht, daß die Sozialgerichte nicht gezwungen sind, wie Arbeitsgerichte die tarifliche Eingruppierung im einzelnen zu überprüfen. Ein Anlaß zu Ermittlungen besteht nur dann, wenn sich deutliche Anhaltspunkte für Fehler bei der tariflichen Eingruppierung ergeben (vgl SozR 3-2200 § 1246 Nrn 32 und 40). Solche Anhaltspunkte hat das LSG mit Recht nicht als gegeben angesehen.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die tarifliche Eingruppierung des Versicherten nur insoweit eine Aussage über die Wertigkeit seiner Tätigkeit macht, als sie noch zu einer Zeit erfolgt ist, in der er noch aktiv tätig war und auch Tätigkeiten ausgeübt hat, die der Tarifgruppe entsprechen. Deshalb kann der Vorstellung des Klägers nicht beigetreten werden, die Eingruppierung in die Facharbeitergruppe E 06, die - offenbar im Wege einer Lohnsicherung - während der späteren Tätigkeit im Labor erfolgt war, habe Indizwirkung für die zuvor als Fahrer von Kesselansätzen ausgeübte Tätigkeit. Die Höherstufung ist auch nicht rückwirkend vorgenommen worden (wobei hier offenbleiben kann, welche Bedeutung dies haben könnte). Dementsprechend bleibt es dabei, daß der Kläger während der hier allein maßgeblichen Tätigkeit als Betriebsfachwerker lediglich in eine Anlerngruppe eingruppiert war. Die daraus folgende Indizwirkung könnte lediglich insoweit widerlegt werden, als sie eindeutig unzutreffend war. Für eine solche eindeutige Unrichtigkeit der Eingruppierung lagen aber dem LSG keinerlei Anhaltspunkte vor. Die spätere Höhergruppierung sagt für sich dazu nichts, zumal sie mit einem Wechsel der Tarifverträge einherging. Einzelheiten dazu, daß der Kläger schon lange vorher falsch eingruppiert gewesen sein könnte, sind nirgends aufgezeigt worden.

Ergibt sich, daß der Kläger aufgrund der tarifvertraglichen Einstufung seines bisherigen Berufs in den oberen Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters einzuordnen ist, so kann er sozial zumutbar auch auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, soweit sich diese durch Qualitätsmerkmale, zB das Erfordernis einer Einweisung und Einarbeitung oder die Notwendigkeit berufliche oder betriebliche Vorkenntnisse, auszeichnen (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 45 mwN). Zwar mögen die insoweit vom LSG genannten Tätigkeiten als Montierer in der Metallindustrie, Warenaufmacher und Warensortierer diese Voraussetzungen erfüllen, der erkennende Senat vermag jedoch aufgrund der berufungsgerichtlichen Feststellungen nicht abschließend zu beurteilen, ob sie für den Kläger angesichts seiner gesundheitlichen Einschränkungen in Betracht kommen.

Insoweit rügt der Kläger zu Recht, daß sein Leidenszustand nicht hinreichend abgeklärt worden ist. Insbesondere ist seine Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit in bezug auf die betreffenden Verweisungstätigkeiten nicht ausreichend geprüft worden. Allerdings muß nicht zu jedem in Betracht kommenden gesundheitlichen Defizit eine ausdrückliche gutachterliche Äußerung vorliegen. Die Aussage eines medizinischen Sachverständigen, der Versicherte könne eine bestimmte Verweisungstätigkeit verrichten, ist regelmäßig so zu verstehen, daß der Versicherte über die physischen und psychischen Kräfte und Fähigkeiten verfügt, die erforderlich sind, um sich in diesen Beruf einzuarbeiten und ihn dann vollwertig auszuüben. Hinzukommen muß zwar, daß er in der Lage ist, den Berufswechsel zu verkraften. Es ist aber grundsätzlich davon auszugehen, daß ein psychiatrischer Sachverständiger bei seiner Aussage, eine bestimmte Tätigkeit könne noch ausgeübt werden,

auch die Umstellungsfähigkeit berücksichtigt hat; denn dies kann für psychisch Kranke ein sich aufdrängendes Problem sein.

Das LSG hätte sich indes wegen der besonderen Verhältnisse des vorliegenden Falles zu weiteren Ermittlungen in dieser Hinsicht gedrängt fühlen müssen. Bereits im Verfahren erster Instanz ist die Umstellungsfähigkeit des Klägers durch den Gutachter Dr. G. als "sehr gering" bezeichnet worden. Im Berufungsverfahren hat der Kläger mangelnde Umstellungsfähigkeit von Anfang bis Ende geltend gemacht und entsprechende Beweisanträge gestellt. Jedoch hat weder das LSG eine Frage zur Umstellungsfähigkeit an die medizinischen Sachverständigen gerichtet noch haben diese von sich aus dazu Stellung genommen; weder das LSG noch die Sachverständigen haben sich insoweit mit dem Gutachten von Dr. G. auseinandergesetzt. Dementsprechend lag auch dem LArbA bei seiner Stellungnahme keine Aussage zur Umstellungsfähigkeit vor, die es bei der Auswahl der dem Kläger angesonnenen Verweisungstätigkeiten hätte berücksichtigen können.

Es kann hier dahinstehen, ob Aussagen zur Umstellungsfähigkeit auch erforderlich gewesen wären, wenn der Kläger uneingeschränkt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden könnte; immerhin hat Dr. G. die Umstellungsfähigkeit nicht ausgeschlossen, sondern nur als sehr gering bezeichnet. Daß aber auch hinsichtlich der dem Kläger allein zumutbaren anspruchsvolleren Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes eine ausreichende Umstellungsfähigkeit bestand, ist keinem der medizinischen Gutachten ohne weiteres zu entnehmen. Das LSG hätte sich dementsprechend gedrängt fühlen müssen, dem Beweisantrag des Klägers zumindest insoweit zu entsprechen, daß es den psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. ergänzend unter Vorlage der Auskunft des LArbA dazu befragte, ob sich der Kläger innerhalb einer Einweisungszeit bis zu drei Monaten auf die dort aufgeführten Berufstätigkeiten umstellen könne.

Wegen der demnach noch erforderlichen Ermittlungen, die das BSG nicht selbst nachholen kann (§ 163 SGG), ist die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).

Im Rahmen dieses Verfahrens kann das LSG dann auch - evtl aufgrund weiteren Vortrages - über die anderen Beweisanträge des Kläger erneut entscheiden. Bisher mußte sich das LSG jedoch nicht zu den insoweit vorgeschlagenen weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen.

Dem Kläger kann nicht gefolgt werden, daß auch sonst eine hinreichende Abgleichung zwischen den medizinischen Befunden und den Anforderungen der Verweisungstätigkeiten unterblieben sei und deshalb noch ein arbeitsmedizinisches Gutachten eingeholt werden müsse. Dem LArbA lagen die medizinischen Beurteilungen vor. Es hat in seiner Stellungnahme vom 13. März 1995 die von ihm genannten Verweisungstätigkeiten im einzelnen beschrieben und für zumutbar gehalten. Dabei konnte das LSG davon ausgehen, daß das LArbA aufgrund seiner Erfahrung in der Lage war zu beurteilen, daß die vorgeschlagenen Tätigkeiten durch die von den medizinischen Sachverständigen beschriebenen gesundheitlichen Einschränkungen nicht ausgeschlossen werden. Das LSG hätte sich nur dann zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen, wenn detailliert vorgetragen worden wäre, wieso das LArbA insoweit unzutreffend geurteilt haben soll.

Das LSG hat in seinem Urteil die Ergebnisse der medizinischen Ermittlungen und die Auskunft des LArbA Hessen vom 13. März 1995, auf die es Bezug genommen hat, auch abgehandelt und gegenübergestellt. Es ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Leidenszustand die Ausübung der Verweisungsberufe erlaube. Dabei kann regelmäßig davon ausgegangen werden, daß das Gericht die Abgleichung zwischen Restleistungsvermögen und Anforderungen - soweit aktenkundig - im Einzelnen vorgenommen hat. Ohne besonderen Anlaß - insbesondere gezielte Einwände - war es nicht erforderlich, in dem Urteil jede einzelne gesundheitliche Beeinträchtigung abzuhandeln und darzulegen, daß sie für die Ausübung der Verweisungsberufe nicht hinderlich sei. Es ist im übrigen auch nicht ersichtlich, daß sich das LSG Sachkunde angemaßt hat, über die es nicht verfügte oder auf die es nicht hingewiesen hat.

Ebenso kann dem Kläger nicht gefolgt werden, soweit er annimmt, das LSG habe aufklären müssen, warum er bei der Fa. H. nicht umgesetzt worden sei. Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß das Ausmaß der Ermittlungen im pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts steht (vgl BSGE 30, 205; ferner Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl § 103 Rz 4). Die Grenzen dieses Ermessens hat das LSG nicht überschritten, weil etwaige Schwierigkeiten bei der Umsetzung in einer - wenn auch großen - Firma keine verläßlichen Erkenntnisse hinsichtlich des gesamten Spektrums der Beschäftigungsmöglichkeiten vermitteln, auf die sich die berufskundige Aussage des LArbA erstreckt. Eine derartige zusätzliche Beweisaufnahme wäre allenfalls dann angezeigt gewesen, wenn der Kläger konkret vorgetragen hätte, welche besonderen Erkenntnisse - beispielsweise zu seiner Umstellungsfähigkeit bezogen auf die vorgeschlagenen Verweisungstätigkeiten - seiner Ansicht nach davon zu erwarten waren. Solche Anhaltspunkte lagen dem Gericht aber nicht vor.

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

SozSi 1997, 358

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