Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 21.02.1995)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Rhein-land-Pfalz vom 21. Februar 1995 insoweit aufgehoben, als er den Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit betrifft.

Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Der Kläger hat ein Drittel der Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Im übrigen bleibt die Kostenentscheidung der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist im Revisionsverfahren nur noch, ob der Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1990 bis 31. Dezember 1995 Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit hat.

Der 1939 geborene Kläger hat keinen Ausbildungsberuf mit formalem Abschluß. Ab 1952 war er zunächst als landwirtschaftlicher Arbeiter, sodann von 1957 bis 1959 als Bauarbeiter, anschließend bis 1968 als Ziegeleiarbeiter und ab 1968 als Bandarbeiter bei der M. … AG beschäftigt. Nach deren Auskunft vom 19. Juli 1990 wurde er am 9. September 1968 als Karosserieflaschner im Fahrerhaus-Rohbau eingestellt und mit Wirkung vom 1. Januar 1985 auf eigenen Wunsch in die Zentrale Vormontage als Montagearbeiter versetzt. Die Anlernzeit dauerte ca eine Woche. Die Entlohnung erfolgte als angelernter Arbeiter nach Lohngruppe 7 des gemeinsamen Manteltarifvertrages für die Metallindustrie Rheinland-Pfalz.

Im September 1989 beantragte der ab 7. November 1989 arbeitsunfähig erkrankte Kläger die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 22. Februar 1990; Widerspruchsbescheid vom 9. November 1990).

Das SG Speyer hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger sei weder erwerbs- noch berufsunfähig. Er könne zumindest noch körperlich leichte Tätigkeiten ohne vermehrtes Treppen- und Leitersteigen sowie nicht auf Gerüsten und ohne Überkopfarbeiten vollschichtig ausüben. Im Hinblick auf seine bisherige Berufstätigkeit bei der M. … AG sei er als angelernter Arbeiter unteren Ranges einzuordnen und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar (Urteil vom 20. März 1992). Das LSG Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Klägers durch Beschluß vom 21. Februar 1995 zurückgewiesen und sich der Begründung des erstinstanzlichen Urteils im wesentlichen angeschlossen, wobei lediglich eine zusätzliche Leistungsunfähigkeit für Tätigkeiten festgestellt worden ist, die eine erhöhte geistige Beweglichkeit oder dauernde Aufmerksamkeit erfordern oder mit Publikumsverkehr verbunden sind.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 103, 106 SGG, §§ 1246, 1247 RVO). Er trägt vor: Er habe bereits in der Berufungsbegründungsschrift darauf hingewiesen, daß er zu Recht in Lohngruppe 7 eingestuft worden sei. In der Zeit vom 9. September 1968 bis 31. Dezember 1984 habe er eine langjährige berufliche Tätigkeit hochqualifizierten Ausmaßes verrichtet, die ihn befähigt habe, die anschließende Tätigkeit nach der angegebenen kurzen Anlernzeit vollwertig zu verrichten. Für jeden Ungelernten würde die Anlernzeit weit über zwölf Monate betragen. Dieses habe das LSG in Erfüllung seiner Amtsermittlungspflicht durch eine ergänzende Anfrage beim Arbeitgeber klären müssen. Außerdem habe das LSG ermitteln müssen, ob der Kläger von der Facharbeitertätigkeit ab 1. Januar 1985 etwa aus gesundheitlichen Gründen zu der geringwertigeren Tätigkeit gewechselt habe. Sofern im übrigen die bei ihm festgestellten Leistungseinschränkungen nicht bereits eine sog Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen darstellten und schon nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderten, sei eine Benennung jedenfalls deshalb notwendig, weil für die Versichertengruppe, welcher der Kläger angehöre, eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, wie sich aus den Vorlagebeschlüssen des 13. Senats an den Großen Senat des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 ergebe.

Während des Revisionsverfahrens hat die Beklagte aufgrund neuer ärztlicher Befundberichte angeboten, dem Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit Rente ab 1. Januar 1996 zu bewilligen. Der Kläger hat das Anerkenntnis angenommen.

Der Kläger beantragt,

den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. Februar 1995 sowie das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 20. März 1992 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 22. Februar 1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 1990 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit ab 1. Januar 1990 bis 31. Dezember 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren,

hilfsweise,

das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluß für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

1. Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit sie einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1996 betrifft. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger bis zu diesem Zeitpunkt keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht. Hinsichtlich des Rentenanspruchs ab 1. Januar 1996 hat sich der Rechtsstreit durch das angenommene Anerkenntnis gemäß § 101 Abs 2 SGG in der Hauptsache erledigt.

Der Rentenanspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil der Kläger seinen Rentenantrag vor dem 1. April 1992 gestellt hat und der begehrte Rentenbeginn (1. Januar 1990) vor dem 1. Januar 1992 liegt (§ 300 Abs 2 SGB VI).

Daß der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung erfüllt, ist nicht zweifelhaft. Er ist indessen im streitbefangenen Zeitraum (31. Dezember 1989 bis 30. November 1995; vgl § 1290 Abs 1 RVO) nicht erwerbsunfähig gewesen. Erwerbsunfähig sind nach § 1247 Abs 2 RVO Versicherte, die infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen können. Diese Voraussetzungen lagen beim Kläger vor dem 1. Dezember 1995 nicht vor. Das LSG hat insoweit seine Leistungsfähigkeit in tatsächlicher Hinsicht beschrieben. Danach konnte er noch körperlich leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne Heben und Tragen von Lasten über 15 kg, ohne vermehrtes Treppen- und Leitersteigen, nicht auf Gerüsten, ohne Anforderungen an erhöhte geistige Beweglichkeit oder dauernde Aufmerksamkeit sowie mit Publikumsverkehr, vollschichtig verrichten. Diese Feststellungen sind nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden und damit für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Mit dem festgestellten Leistungsvermögen muß sich der Kläger im Rahmen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen, ohne daß ihm eine andere, von ihm noch leistbare Arbeit dem Tätigkeitstyp nach benannt zu werden braucht. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß im Rahmen von § 1247 RVO jeder Versicherte – anders als bei der Rente wegen Berufsunfähigkeit – pauschal auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden kann, wobei der Versicherte grundsätzlich auch einen wesentlichen sozialen Abstieg in Kauf nehmen muß, solange er im Rahmen seiner objektiven Leistungsfähigkeit noch tätig sein kann (vgl BSG, Urteil vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 mwN). Allerdings besteht auch bei der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die Pflicht, eine Verweisungstätigkeit namentlich „konkret”) zu benennen, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. Unter solchen Voraussetzungen ist auch in den Fällen, in denen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann, eine namentliche Benennung erforderlich (BSG, Urteile vom 1. März 1984 – 4 RJ 43/83 – SozR 2200 § 1246 Nr 117, vom 6. Juni 1986 – 5b RJ 42/85 – SozR § 1246 Nr 136, vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 47/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 8 und vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50). Darüber hinaus ist trotz vollschichtigen Leistungsvermögens eines Versicherten für ihn die Fähigkeit, mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen (§ 1247 Abs 2 Satz 1 RVO), dann nicht gegeben, wenn er nur noch Vollzeitarbeitsplätze ausfüllen kann, die in dieser Weise typischerweise in der Arbeitswelt als Erwerbsmöglichkeiten nicht vorhanden sind, oder wenn er nur noch Vollzeittätigkeiten auszuüben vermag, bei denen wegen ihrer Seltenheit zumindest die erhebliche Gefahr einer „Verschlossenheit des Arbeitsmarktes” besteht (zu diesen sog Seltenheits- oder Katalogfällen vgl etwa BSG, Urteile vom 25. Juni 1986 – 4a RJ 55/84 – SozR 2200 § 1246 Nr 137 und vom 9. September 1986 – 5b RJ 50/84 – SozR 2200 § 1246 Nr 139). Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50) im einzelnen ausgeführt, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig.

Nach den Feststellungen des LSG besteht jedoch kein Anhalt dafür, daß beim Kläger der eine oder der andere Ausnahmefall vorlag. Insbesondere stellten die beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um eine Mehrzahl bloß gewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß der Kläger nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen hätte arbeiten können.

Soweit der Kläger sich zur Begründung seiner Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat sein Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 50) und vom 12. Juni 1996 (5 RJ 2/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

In diesen Entscheidungen ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 SGG an einer Entscheidung nicht gehindert ist und der Kläger bei einer abweichenden Entscheidung des Großen Senats nach Maßgabe der §§ 44 ff SGB X geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.

Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 SGB VI klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von Erwerbsunfähigkeit entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die vom Kläger begehrte Rente, da über sie noch nicht abschließend „rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht „begonnen”. Dabei kann es wegen der klarstellenden Funktion der Rechtsänderung (BT-Drucks 13/2590, S 19; 13/3697, S 1, 3 ff; 13/3907, S 1, 5 ff) keinen Unterschied machen, ob der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des SGB VI oder nach den im wesentlichen gleichlautenden Normen der §§ 1246, 1247 RVO zu beurteilen ist.

Dem vom Kläger gestellten Antrag, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, kann nicht entsprochen werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen (§ 202 SGG iVm § 251 ZPO).

2. Hinsichtlich des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ist die zulässige Revision in dem Sinne begründet, daß der angefochtene Beschluß aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Der angefochtene Beschluß leidet jedenfalls deshalb an einem Verfahrensmangel, weil das LSG die Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 SGG) verletzt hat. Das Berufungsgericht hätte sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Dies hat der Kläger in zulässiger Weise gerügt.

Berufsunfähig nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach Satz 2 der genannten Vorschrift umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Bisheriger Beruf iS dieser Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des BSG die zuletzt auf Dauer verrichtete versicherungspflichtige Tätigkeit des Versicherten, es sei denn, der Versicherte hat eine früher verrichtete versicherungspflichtige Tätigkeit unfreiwillig aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben (BSG, Urteil vom 22. März 1988 – 8/5a RKn 9/86 – SozR 2200 § 1246 Nr 158). Ausgehend von dieser Rechtsprechung hat das LSG den bisherigen Beruf des Klägers nicht hinreichend ermittelt. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen, der Frage nachzugehen, aus welchen Gründen der Kläger ab 1. Januar 1985 die Flaschnertätigkeit aufgegeben und nur noch eine nach seiner Angabe geringwertigere Tätigkeit als Montagearbeiter verrichtet hat. Es fällt auf, daß zu dieser Zeit Wirbelsäulenbeschwerden begannen (vgl ua Bericht der Ärzte Dr. M. …, W. … -E. … und V. … vom 6. März 1991, Bl 36 f der Gerichtsakten, und Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. … vom 9. November 1994, S 15 = Bl 254 der Gerichtsakten). Wenn der Kläger die Flaschnertätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat, wäre diese Tätigkeit als bisheriger Beruf anzusehen; das LSG hätte dann deren Wertigkeit ermitteln und bei seiner Prüfung des Rentenanspruchs zugrunde legen müssen.

Falls das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger sich von der Flaschnertätigkeit aus anderen Gründen gelöst hat, wird – anders als bisher geschehen – die Wertigkeit der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Montagearbeiter aufzuklären und festzustellen sein. Der Senat verweist hierzu auf sein Urteil vom 18. Januar 1995 (5 RJ 18/94SozVers 1996, 49). Dort ist ausgeführt worden, daß ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der im sog Mehrstufenschema enthaltenen Gruppen nicht allein die Ausbildung, sondern die Qualitätsanforderungen der verrichteten Arbeit insgesamt sind, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren ermittelte Wert der Arbeit für den Betrieb auf der Grundlage der in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Es kommt also auf das Gesamtbild an. Aufgrund dieses Gesamtbildes kann eine Tätigkeit, die nicht die regelrechte Ausbildungsdauer erfordert, einer gelernten oder angelernten gleichgestellt sein. Im Falle des Klägers ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich beim Montagearbeiter in der Zentralen Vormontage um eine sog ungelernte Tätigkeit handele, weil der Kläger nach der Arbeitgeberauskunft vom 19. Juli 1990 nur ca eine Woche angelernt worden sei. Diese Auskunft reichte jedoch nicht aus. Sie sagt nichts darüber aus, welche Anlernzeit in der Regel für die Tätigkeit erforderlich war; beim Kläger kann sie durchaus sehr kurz gewesen sein, weil er aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Karosserieflaschner Fähigkeiten und Kenntnisse mitbrachte, welche die regelmäßige Anlernzeit verkürzten.

Sofern sich nach Ermittlungen in dieser Richtung nicht bereits ergibt, daß der Kläger als Montagearbeiter eine Anlerntätigkeit oberen Ranges verrichtet hat, wird zu prüfen sein, ob sich aus der tariflichen Einstufung etwas anderes zugunsten des Klägers ergibt. In diesem Rahmen hat das BSG nämlich tariflichen Regelungen Bedeutung beigemessen, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: zum einen der abstrakten – „tarifvertraglichen” – Klassifizierung der Tätigkeit (iS eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrages, zum anderen der – „tariflichen” – Eingruppierung des Versicherten in eine bestimmte Tarifgruppe des jeweiligen Tarifvertrages durch den Arbeitgeber (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 22 mwN). In beiden Bereichen sind die Folgerungen für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch verschieden.

Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen, in der Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht; denn die Tarifvertragsparteien als unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligte nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufes in bezug auf die in § 1246 Abs 2 RVO genannten Merkmale entspricht. Demgemäß läßt zB die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, in der auch Facharbeiter eingeordnet sind, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit im Geltungsbereich des Tarifvertrages entsprechend zu qualifizieren ist. Das rechtfertigt sich aus der Annahme, daß die Tarifvertragsparteien, die die genaue Art der Arbeit im Geltungsbereich des Tarifvertrages kennen, die überdies gewohnt sind, solche Einstufungen vorzunehmen, die Tätigkeit richtig eingeordnet haben. Von dem Grundsatz, daß von der tarifvertraglichen Einstufung bei der Berufsart auszugehen ist, gelten lediglich Ausnahmen, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist. Der Kläger ist von seinem Arbeitgeber nach dem gemeinsamen Manteltarifvertrag für die Metallindustrie Rheinland-Pfalz entlohnt worden. Daß dieser Tarifvertrag nach Qualitätsstufen geordnet ist, hat das LSG festgestellt, ohne daß dies in rechtlicher Hinsicht zu beanstanden wäre. Dieser Tarifvertrag enthält allerdings keine abstrakte Einordnung des Montagearbeiters in eine der Tarifgruppen. Die Lohngruppe 7, in der der Kläger sich befand, ist nur dadurch definiert, daß sie Arbeiten erfaßt, die ein Spezialkönnen verlangen, das durch eine abgeschlossene Anlernausbildung oder durch ein Anlernen mit zusätzlicher Berufserfahrung erreicht wird, ohne daß der Montagearbeiter genannt wäre. Aus dem Tarifvertrag läßt sich daher im vorliegenden Fall nicht herleiten, daß im Geltungsbereich des Manteltarifvertrages Montagearbeiter den Angelernten oberen Ranges gleichstehen.

Der tariflichen Zuordnung des einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber kommt allerdings ebenfalls eine – allerdings schwächere – Bedeutung zu. Sie ist ein Anhaltspunkt dafür, daß die vom Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird. Das ist in der Rechtsprechung des BSG mitunter als „Indiz” oder „Anhalt” bezeichnet worden. Die Richtigkeit dieser Eingruppierung kann aber durchaus „widerlegt” werden (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 22/90 – SozR 3-2200 § 1246 Nr 22 mwN). Dies geschieht dadurch, daß die Einordnung des Versicherten in die Tarifgruppe anhand der abstrakten Merkmale einerseits und der Tatsachen andererseits geprüft wird, deren Feststellung die abstrakten Merkmale fordern. Rechtfertigen die tatsächlichen Feststellungen die Einordnung in die Tarifgruppe nicht, so steht fest, daß der Arbeitgeber die Einordnung in die tarifliche Lohngruppe zu Unrecht vorgenommen hat oder daß er Gründe gehabt hat, die jedenfalls nicht qualitativer Art sind. Handelt es sich aber, wie im vorliegenden Fall, um eine lediglich allgemeine Beschreibung der Voraussetzungen der Lohngruppe, bei der dem Arbeitgeber ein erheblicher Spielraum verbleibt, welche Tatsachen er zum Anlaß nehmen will, seinen Arbeitnehmer in eine (höhere) Lohngruppe einzuordnen, so muß das Gericht nachprüfen, von welchen tatsächlichen Voraussetzungen der Arbeitgeber bei der Einstufung des Arbeitnehmers in das Tarifgefüge ausgegangen ist. Denn nur dann ist die Beurteilung möglich, ob der

Arbeitgeber die Einstufung nach den vom Tarifvertrag vorgegebenen – im vorliegenden Fall nur allgemein beschriebenen – qualitativen Anforderungen an die Tätigkeit vorgenommen hat oder sachfremde Gründe für ihn leitend gewesen sind.

Sollte der Kläger hiernach als Angelernter oberen Ranges einzugruppieren sein, wird sich für das LSG die Frage stellen, welche zumutbare Verweisungstätigkeit namentlich benannt werden kann.

Das angefochtene Urteil kann auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen, denn bei weiterer Sachaufklärung wäre ein Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit möglicherweise anders beurteilt worden.

Da der Senat die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war die Sache insoweit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174018

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