Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung des Gesamt-GdB

 

Leitsatz (amtlich)

Die Höhe des GdB bei mehreren Funktionsstörungen hängt davon ab, wie sie sich in verschiedenen Lebensbereichen auswirken, nicht, ob sie zu verschiedenen ärztlichen Fachbereichen gehören.

 

Normenkette

SchwbG §§ 3, 4 Abs. 3 S. 1

 

Verfahrensgang

SG Kiel (Entscheidung vom 16.04.1991; Aktenzeichen S 10 Vsb 290/89)

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 16.09.1992; Aktenzeichen L 4a Vsb 89/91)

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, nach welchen Grundsätzen der Gesamt-Grad der Behinderung (GdB) zu bilden ist.

Der Kläger, der im Mai 1989 seine Anerkennung als Schwerbehinderter beantragte, leidet an einer Funktionsstörung des rechten Kniegelenks, einer Taubheit des rechten Ohres mit Ausfall des rechten Gleichgewichtsorgans und Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule. Die sich daraus ergebenden Behinderungen werden mit einem GdB von jeweils 20 eingeschätzt. Mit Bescheid vom 23. August 1989 setzte der Beklagte für die damals allein bekannte erste Behinderung den GdB auf 20 fest. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Widerspruchsbescheid vom 16. November 1989 zurückgewiesen. Die Klage mit dem Ziel, den GdB auf 50 festzusetzen, wurde durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Kiel vom 16. April 1991 abgewiesen, nachdem der Beklagte wegen der nachträglich bekannt gewordenen zweiten Behinderung mit einem GdB von 20 den Gesamt-GdB auf 30 festgesetzt hatte. Während des Berufungsverfahrens vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) erhöhte der Beklagte nach Hinzutreten der dritten Behinderung mit Wirkung vom 1. September 1992 den Gesamt-GdB auf 40.

Mit Urteil vom 16. September 1992 verurteilte das LSG den Beklagten, einen GdB von 50 anzuerkennen. Die beiden orthopädischen Behinderungen seien zu einem Zwischen-GdB von 30 zusammenzufassen. Dieser sei um den GdB von 20 für die Behinderungen auf hals-, nasen-, ohrenärztlichem Fachgebiet zu erhöhen, denn diese beträfen vollkommen unterschiedliche Körperfunktionen. Die vollständige Berücksichtigung des auf diese Behinderungen entfallenden GdB bei der Bildung des Gesamt-GdB sei geboten, um die Auswirkungen der beiden Behinderungskomplexe zutreffend zu erfassen.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend, die Bildung des Gesamt-GdB durch das LSG sei fehlerhaft, weil die "Anhaltspunkte für ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983" (Anhaltspunkte), denen ein untergesetzlicher Normcharakter zukomme, nicht beachtet worden seien. Die Bildung von Zwischen-GdB für bestimmte Fachbereiche sei unzulässig. Das LSG habe sein Recht zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) überschritten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. September 1992 zu ändern und die Berufung des Klägers auch insoweit zurückzuweisen, als ein höherer Grad der Behinderung als 40 ab 1. September 1992 begehrt wird.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil jedenfalls im Ergebnis für richtig.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet. Das LSG hat bei der Bildung des Gesamt-GdB § 4 Abs 3 Satz 1 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) verletzt.

In dieser Vorschrift ist geregelt, wie der Gesamt-GdB festzusetzen ist, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Der GdB ist in diesen Fällen "nach den Auswirkungen der Funktionsstörungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen". Das LSG geht zwar bei seiner Beurteilung zutreffend davon aus, daß die "Auswirkungen" der Funktionsstörungen maßgebend seien. Es weist in seinen allgemeinen Ausführungen zur Bildung des Gesamt-GdB sogar zutreffend darauf hin, daß es vor allem auf die Beeinträchtigungen im "Ablauf des täglichen Lebens" ankommt, um feststellen zu können, ob die Auswirkungen sich überschneiden oder verstärken.

In der Beurteilung selbst befaßt sich das LSG aber nicht mit den Auswirkungen der Funktionsstörungen, sondern mit ihren Ursachen, nämlich den Gesundheitsstörungen. Entscheidend sind für das LSG nicht die Lebensbereiche, in denen sich die verschiedenen Funktionsstörungen auswirken, sondern die medizinischen Fachgebiete, zu denen die Gesundheits- und Funktionsstörungen zählen. Dieser gedankliche Ausgangspunkt hat das LSG dazu geführt, die Behinderungen am rechten Knie - GdB 20 - und an der Halswirbelsäule - GdB 20 - zusammenfassend zu beurteilen, weil sie auf orthopädischem Fachgebiet liegen. Ob das Ergebnis dieser Beurteilung - GdB 30 - auch bei der richtigen Beurteilungsmethode erzielt worden wäre, kann unentschieden bleiben. Jedenfalls kann nach den bisherigen Feststellungen dem LSG nicht gefolgt werden, soweit es das Verhältnis des orthopädischen GdB mit dem GdB wegen der Ohrenkrankheit beurteilt. Hier hat das LSG von seiner Grundauffassung ausgehend gemeint, der MdE-Grad, der sich aus den ohrenfachärztlichen Funktionsstörungen ergebe, sei uneingeschränkt dem orthopädischen GdB hinzuzurechnen. Auch wenn es zutrifft, daß der orthopädische und der ohrenfachärztliche Bereich sich nicht überschneiden, ist dies kein Grund anzunehmen, daß sich auch die Auswirkungen der zu den beiden Fachgebieten zählenden Gesundheits- und Funktionsstörungen nicht überschneiden. Daß die Auswirkungen von Gesundheits- und Funktionsstörungen der unterschiedlichsten ärztlichen Fachgebiete in deutlichen wechselseitigen Beziehungen und Überschneidungen stehen können, zeigt gerade der vorliegende Fall. Denn es ist möglich, daß sich sowohl die ohrenfachärztlich festgestellte Gleichgewichtsstörung wie auch die orthopädieärztlich festgestellte Bewegungseinschränkung des rechten Knies als einheitliche Behinderung, nämlich als Gangunsicherheit, darstellen. Es ist möglich, daß sich die beiden Störungen geringfügig verstärken und daß sie sich erheblich verstärken; es ist aber auch möglich, daß sie sich überschneiden, so daß eine Erhöhung der MdE überhaupt ausscheidet. Dazu hat das LSG noch Feststellungen zu treffen.

Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist außerdem Nr 19 Abs 2 der Anhaltspunkte zu beachten. Hier heißt es, daß bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Behinderungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen sind, zu denen in der MdE- oder GdB-Tabelle feste Grade angegeben sind. Dieses Gebot entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BSG vor allem in Kriegsopfersachen (vgl dazu Gschwinder, ZfS 1981, 359 und Rauschelbach ZfS 1982, 106). Das bedeutet im vorliegenden Fall, daß zu beachten ist, in welchen Fällen die Anhaltspunkte und die auf gesetzlicher Grundlage beruhenden Richtlinien zu § 30 des Bundesversorgungsgesetzes die Schwerbehinderung - GdB von 50 - gerade noch zubilligen. Dabei fällt auf, daß für die Schwerbehinderung erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen vorausgesetzt werden wie zB der Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel. Ob die nach der Schilderung des LSG nur geringfügig erscheinenden verschiedenen Funktionsstörungen insgesamt eine damit vergleichbare Beeinträchtigung bewirken, muß das LSG beurteilen.

Das LSG wird auch über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Breith. 1995, 130

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