Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 26.10.1993; Aktenzeichen L 14 Ar 8/93)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Oktober 1993 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob beim Kläger die Zeit von Januar bis September 1939 als Beitragszeit nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anzuerkennen und darüber eine Versicherungsunterlage herzustellen ist.

Der am 20. Dezember 1922 in L. (Polen) geborene Kläger lebte zunächst in Polen und war ab Ende 1939 Verfolgter des Nationalsozialismus. Er lebt jetzt in Israel und ist seit 1950 israelischer Staatsangehöriger. Vom Bezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz wurde ihm durch Bescheid vom 9. Dezember 1959 Entschädigung für Schaden an Freiheit für die Zeit von Dezember 1939 bis Januar 1945 bewilligt. In seinem (später abgelehnten) Antrag auf Entschädigung an Körper und Gesundheit vom 5. März 1964 hatte er nur Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse seines Vaters gemacht, der ein „Engros Stoffgeschäft” in L. mit ca 80 Angestellten – Reisenden – gehabt habe. In dem auf Veranlassung der Entschädigungsbehörde von dem israelischen Ministry of Finance erstellten Bericht über die Feststellung der deutschen Sprach- und Kulturzugehörigkeit des Klägers vom 26. August 1971 heißt es ua: „1935-1939 lernte u. half er im Geschaeft seines Vaters”. In mehreren im Entschädigungsverfahren erstatteten Gutachten wurde ausgeführt: „bis zur Verfolgung keine Berufsausübung” bzw „vor dem Weltkrieg noch ohne festen Beruf”.

Im Februar 1990 beantragte der Kläger bei der Beklagten ua die Anerkennung von Fremdbeitragszeiten nach § 17 Abs 1 Satz 1 Buchst b FRG in der bis 31. Dezember 1991 geltenden Fassung (aF). Ergänzend gab er an, er habe von Januar bis September 1939 bei der Firma K. … (K.) in L., einer Fabrik für Küchenwagen, als Korrespondent gearbeitet, sei „lt. Tarif” entlohnt worden und habe Rentenversicherungsbeiträge zum polnischen Versicherungsträger ZUS entrichtet. Zur Glaubhaftmachung reichte er schriftliche Zeugenerklärungen ein. Nachdem der polnische Versicherungsträger der Beklagten auf Anfrage mitgeteilt hatte, daß Unterlagen über den Kläger für die streitige Zeit nicht ermittelt werden konnten, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8. April 1991 die Anerkennung dieses Zeitraums als Beitrags- bzw Beschäftigungszeit nach den Vorschriften des FRG ab, weil eine solche Zeit weder nachgewiesen noch ausreichend glaubhaft gemacht sei. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 4. September 1991).

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger die Anrechnung der Zeit von Januar bis September 1939 nach § 17 Abs 1 Satz 1 Buchst b FRG aF weiter geltend gemacht. Er hat sein Vorbringen hinsichtlich der Beschäftigung bei der Firma K. sowie der Entrichtung von Rentenversicherungsbeiträgen wiederholt, ergänzende Angaben gemacht und weitere schriftliche Zeugenerklärungen eingereicht. Nach weiterer Sachaufklärung hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 26. August 1992 die Klage abgewiesen: Unter Würdigung der widersprüchlichen Angaben des Klägers und der schriftlichen Zeugenerklärungen sei nicht glaubhaft gemacht, daß der Kläger im streitigen Zeitraum in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Von einer gerichtlichen Vernehmung der Zeugen in Israel habe die Kammer abgesehen.

Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Beweiswürdigung des SG angegriffen und in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) für den Fall, daß der Senat die vorhandenen Beweisunterlagen als nicht ausreichend für eine Glaubhaftmachung der streitigen Beitragszeiten ansehe, die gerichtliche Vernehmung der von ihm benannten Zeugen beantragt. Durch Urteil vom 26. Oktober 1993 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Anerkennung der Zeit von Januar bis Dezember (richtig: September) 1939 als Fremdbeitragszeit. Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Herstellung einer Versicherungsunterlage über die in Polen zurückgelegte Beitragszeit, dh auf Vormerkung dieser Zeit, sei § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO), zuletzt geändert durch Art 3 des Rentenanpassungsgesetzes 1990 vom 28. Mai 1990. Zwar sei die VuVo mit Wirkung vom 1. Januar 1992 aufgehoben worden (Art 41 Nr 1 iVm Art 42 Abs 1 des Renten-Überleitungsgesetzes vom 25. Juli 1991). Anstelle der VuVo sei § 286a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) getreten, der eine inhaltlich den Vorschriften der VuVo entsprechende Regelung enthalte. Die Vorschriften der VuVO seien aber nach § 300 Abs 2 SGB VI weiterhin anzuwenden. Da der Kläger die Anerkennung einer in L. zurückgelegten Beitragszeit begehre, komme gemäß § 17 Abs 1 Satz 1 Buchst b FRG aF § 15 FRG unabhängig davon zur Anwendung, ob er die persönlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Fremdrentenrechts erfülle. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift ständen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt seien, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Dabei genüge es für die Feststellung der Beitragsentrichtung im Ausland, daß sie glaubhaft gemacht sei, also nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich sei (vgl § 4 Abs 1 und 2 FRG). Im Gegensatz zum SG gehe der Senat davon aus, daß der Kläger in der von ihm angegebenen Zeit von Januar bis September 1939 eine Tätigkeit bei der Firma K. in L. ausgeübt habe. Es sei jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich, daß für den Kläger während seiner Tätigkeit bei der Firma K. Beiträge zur polnischen Rentenversicherung entrichtet worden seien. Die überwiegenden Anhaltspunkte sprächen vielmehr dafür, daß der Kläger nach polnischem Recht nicht versicherungspflichtig gewesen sei. Aufgrund der Angaben des Klägers und schriftlicher Zeugenerklärungen beständen erhebliche Zweifel, daß der Kläger sich bei der Firma K. in einem ordentlichen Beschäftigungsverhältnis befunden habe; die überwiegenden Anhaltspunkte sprächen dafür, daß es sich um eine Tätigkeit als Praktikant oder Volontär zum Zwecke der Berufsvorbereitung gehandelt habe. Für diesen Personenkreis habe nach Art 6 Abs 3 Nr 3 des am 1. Januar 1934 in Kraft getretenen polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März 1933 nur Versicherungspflicht in der Unfallversicherung bestanden. Folglich bestehe keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, daß dennoch Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden seien. Das gleiche gelte auch für die Tätigkeit des Klägers im väterlichen Geschäft von 1935 bis 1939. Nach Art 6 Abs 3 Nr 2 des polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März 1933 sei auch die Versicherungspflicht von Verwandten des Arbeitgebers, die von ihm beschäftigt worden seien, aber nicht in einem entlohnten Arbeitsverhältnis gestanden hätten, auf die Unfallversicherung beschränkt gewesen. Der Senat habe keine Veranlassung gesehen, die vom Kläger benannten Zeugen gerichtlich vernehmen zu lassen. Zwar habe er in der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Beweisantrag gestellt, aber nicht vorgetragen, daß die Zeugen zu der Bekundung in der Lage seien, daß für ihn Beiträge zur polnischen Rentenversicherung entrichtet worden seien. Aus den von ihnen abgegebenen schriftlichen Erklärungen folge vielmehr, daß ausgeschlossen werden könne, daß sie zu der entscheidungserheblichen Frage der Entrichtung von Beiträgen zur polnischen Rentenversicherung Bekundungen machen könnten. Eine Vernehmung dieser Personen durch einen beauftragten Richter in Israel oder Polen könne voraussichtlich nichts Sachdienliches mehr ergeben.

Mit der vom Bundessozialgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen Rechts und trägt vor, das angefochtene Urteil sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das rechtliche Gehör des Klägers sei verletzt worden (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Das LSG sei entscheidungserheblich davon ausgegangen, daß es sich bei dem hier streitigen Beschäftigungsverhältnis um eine nicht auf Dauer angelegte Arbeit gehandelt habe. Diese Feststellung beruhe allein auf Vermutungen, ohne daß auch nur ein Zeuge dazu eine konkrete Aussage gemacht habe oder nach diesem Umstand befragt worden sei. Wenn das LSG von einem Sachverhalt ausgehe, der nicht dem Akteninhalt entspreche, hätte es den Kläger zu dieser Auffassung befragen oder ihm jedenfalls die Möglichkeit zur Stellungnahme geben müssen. Ferner seien für ihn die Anwendung und Auslegung des früheren polnischen Sozialversicherungsrechts geschehen, ohne daß dazu ein rechtlicher Hinweis gegeben und in der mündlichen Verhandlung auch nur andeutungsweise mitgeteilt worden sei, daß das LSG gedenke, in dieser Weise zu verfahren. Für das LSG sei es von entscheidender Bedeutung gewesen, die Tätigkeit des Klägers als Praktikant oder Volontär zum Zwecke der Berufsvorbereitung zu würdigen, obwohl auch darüber weder ein sachlicher noch ein rechtlicher Hinweis vorgelegen habe. Weiterhin habe das LSG dann festgestellt, daß Praktikanten oder Volontäre nach Art 6 Abs 3 Nr 3 des ab 1. Januar 1934 in Kraft getretenen polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März 1933 nur der Versicherungspflicht in der Unfallversicherung unterlegen hätten, so daß mangels Versicherungspflicht Beiträge zur polnischen Rentenversicherung nicht entrichtet worden seien. Hätte das LSG mitgeteilt, daß es sich auf diese Vorschrift für seine Entscheidung stütze, hätte er, der Kläger, die Möglichkeit gehabt, dazu Stellung zu nehmen und vorzutragen, daß die Auffassung des LSG offenkundig der damaligen polnischen Rechtslage widerspreche. Die von ihm herangezogene Vorschrift regele lediglich die Versicherungspflicht in der Unfallversicherung für Praktikanten und Volontäre, wenn sie Schüler oder Absolventen von Berufsschulen und Akademien gewesen seien und die Beschäftigung ausschließlich zu dem Zweck ausgeübt hätten, sich nach den gesetzlichen Bestimmungen oder den Vorschriften der betreffenden Lehranstalt praktisch für ihren Beruf vorzubereiten. Dazu fehle durch das LSG jede Sachverhaltsermittlung, so daß für den Kläger die Grundnorm des Art 2 Abs 2a des Gesetzes vom 28. März 1933 Anwendung finde. Danach unterlägen der vollen Versicherungspflicht, und damit auch in der Rentenversicherung, „Lehrlinge aller Art, Volontäre und Praktikanten”. Auf diese Fehleinschätzung der polnischen Rechtslage hätte das LSG im Rahmen des rechtlichen Gehörs aufmerksam gemacht werden können, so daß jedenfalls die jetzt vorliegende Begründung nicht für eine Abweisung des klägerischen Begehrens hätte herangezogen werden dürfen. Schließlich werde als weiterer Verfahrensfehler die Verletzung des § 103 SGG gerügt. Das LSG habe den in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auf gerichtliche Vernehmung der vom Kläger benannten Zeugen nicht ablehnen dürfen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 26. Oktober 1993 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte schließt sich dem Antrag des Klägers an.

Sie trägt vor, nach den bisherigen Feststellungen sei das LSG aufgrund der Angaben des Klägers und der schriftlichen Zeugenerklärungen davon ausgegangen, daß ein Beschäftigungsverhältnis nicht glaubhaft gemacht sei. Wegen der vom Kläger gerügten Verfahrensmängel werde das LSG indessen erneut prüfen müssen, ob der Kläger in der Zeit von Januar bis September 1939 während seiner Beschäftigung in L. … nach polnischem Rentenversicherungsrecht beitragspflichtig gewesen sei. Dabei seien in rechtlicher Hinsicht nicht nur das vom LSG herangezogene Sozialversicherungsgesetz für Arbeiter vom 28. März 1933 (Dz. U. 1933, Nr. 51, Pos. 396), sondern auch das polnische Sozialversicherungsgesetz für Angestellte (AV-Verordnung) vom 24. November 1927 (Dz. U. 1927, Nr. 106, Pos. 911) und eine Entscheidung des obersten polnischen Verwaltungsgerichts vom 2. März 1936 (Az 9656/34) zu berücksichtigen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision ist in dem Sinne begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Das angefochtene Urteil leidet an einem Verfahrensmangel. Die Rüge des Klägers, das LSG habe ihn vor seinem Urteil verfahrensfehlerhaft nicht auf die entscheidungserhebliche Anwendung des polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März 1933 sowie die Subsumierung des Sachverhalts unter die Vorschriften dieses Gesetzes hingewiesen, greift durch.

Gemäß § 62 SGG und Art 103 des Grundgesetzes ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Diese Pflicht bezieht sich nicht nur auf entscheidungserhebliche Tatsachen, sondern auch auf rechtliche Gesichtspunkte, die bisher nicht erörtert worden sind, später aber zur tragenden Grundlage des Urteils gemacht werden. Eine Überraschungsentscheidung, mit der ein Beteiligter nicht zu rechnen brauchte, ist unzulässig. Dies gilt insbesondere auch, wenn ein Gericht überraschend ausländisches Recht anwenden will (vgl Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, § 62 RdNrn 7 ff mwN). So verhält es sich hier. Für den Kläger war vor der Entscheidung des LSG nicht erkennbar, daß sein Vorbringen unter den Voraussetzungen polnischer Rechtsvorschriften geprüft und der streitige Anspruch unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt mit einer grundlegend anderen Begründung als im erstinstanzlichen Urteil verneint werde.

Das angefochtene Urteil beruht auf dem vorgenannten Verfahrensmangel. Der Kläger hat schlüssig dargelegt, daß er in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vor der Entscheidung des LSG Ausführungen gemacht hätte, wenn ihm die Möglichkeit bewußt gewesen wäre, daß die Klage in Anwendung des polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März 1933 als unbegründet angesehen werde.

Die vom LSG zur Grundlage seiner Entscheidung gemachten einschlägigen Vorschriften des polnischen Sozialversicherungsgesetzes sind auch entscheidungserheblich. Ob sich hiernach allerdings das Klagebegehren weiterhin als unbegründet erweist, wird das LSG unter Würdigung des neuen Vorbringens des Klägers – ggf nach einer prozeßrechtlichen Regeln entsprechenden Beweisaufnahme – prüfen müssen.

Der dem LSG unterlaufene Verfahrensfehler der Verletzung rechtlichen Gehörs führt nach alledem zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache.

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob die weiteren Revisionsrügen des Klägers (Verletzung des § 103 SGG) durchgreifen und zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen würden.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173976

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