Entscheidungsstichwort (Thema)

Verpflichtung zur Übernahme der Kosten für Einmalwindeln

 

Beteiligte

7. März 1990 … Klägerin und Revisionsbeklagte

Allgemeine Ortskrankenkasse Berlin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I

Streitig ist die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für Einmalwindeln.

Die im Jahre 1908 geborene Klägerin, als Rentnerin Mitglied der Beklagten, lebt im Seniorenheim. Dort werden nur Personen aufgenommen, die ihren Haushalt nicht mehr selbständig führen können, aber weder dauernder ärztlicher Aufsicht noch ständiger Pflege bedürfen. Sie sollen im allgemeinen in der Lage sein, die Verrichtungen des täglichen Lebens allein zu bewältigen.

Die Klägerin leidet ua an Harninkontinenz. Deshalb verordnete ihr behandelnder Arzt am 17. Februar 1987 200 Stück Flockenwindeln pro Monat. Durch Bescheid vom 6. März 1987 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab mit der Begründung, die Verordnung der Flockenwindeln stehe nicht in direktem Zusammenhang mit der Behandlung einer Krankheit, die Windeln dienten vielmehr der Pflege. Widerspruch und Klage gegen diesen Bescheid blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1987, Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 1988). Auf die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 8. März 1989 unter Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils und der Bescheide der Beklagten diese verurteilt, entsprechend der Verordnung des behandelnden Arztes der Klägerin die Kosten für 200 Flockenwindeln pro Monat zu übernehmen. Zur Begründung führt das LSG aus, bei den Flockenwindeln handele es sich um "andere Hilfsmittel" iS von § 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 33 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V). Von wesentlicher Bedeutung sei, daß die Klägerin ohne die Windeln nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Die Notwendigkeit eines Hilfsmittels im krankenversicherungsrechtlichen Sinne sei zu bejahen, wenn es der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse diene. Zu den elementaren Grundbedürfnissen gehöre auch der Kontakt zu anderen Mitmenschen. Bei den Windeln handele es sich nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision. Sie rügt die Verletzung der §§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c, Abs 2, 182b RVO, jetzt §§ 27 Nr 3, 33 SGB V und trägt dazu vor, nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (Urteil vom 13. Mai 1982 - 8 RK 8/81 = SozR 2200 § 182b Nr 24) kämen Einmalwindeln nur als Hilfsmittel für einen inkontinenten Kranken in Betracht, der nicht in der Lage sei, sich bemerkbar zu machen. Die Klägerin hingegen könne auf eine Verschmutzung durch unkontrollierten Urinaustritt etwa mit einem Wäschewechsel angemessen reagieren. In Betracht kämen weiter intensive Pflegemaßnahmen. Das LSG sei auch der Frage nicht nachgegangen, ob die Verwendung waschbarer, wiederverwendbarer Stoffwindeln einen gleichwertigen Schutz biete und weniger aufwendig sei. Der Hinweis auf die Verordnung des behandelnden Arztes genüge nicht, weil sich dieser über die im Kassenarztrecht geltenden Hilfsmittelrichtlinien hinweggesetzt habe.

Die Beklagte beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. März 1989 - L 9 Kr 86/88 - aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 1988 - S 73 Kr 316/87 - zurückzuweisen,hilfsweise,den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landessozialgericht Berlin zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das angefochtene Urteil des LSG ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte ist verpflichtet, die der Klägerin entstandenen und noch entstehenden Kosten für die Beschaffung von Einmalwindeln zu übernehmen. Nach § 182b RVO (jetzt § 33 Abs 1 SGB V) hat ein Versicherter Anspruch auf Ausstattung mit Hilfsmitteln, die erforderlich sind, eine körperliche Behinderung auszugleichen, soweit sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Ein Hilfsmittel muß zum Ausgleich eines körperlichen Funktionsdefizits geeignet und notwendig sein, wobei es genügt, wenn es die beeinträchtigte Körperfunktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt (Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl, Stand 15. Mai 1988, § 182b Anm 2 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Weiter muß ein Hilfsmittel zur Befriedigung von Grundbedürfnissen des Lebens - gesunde Lebensführung, allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens, geistige Betätigung und Erweiterung des durch die Behinderung eingeschränkten Freiraumes - dienen (BSG vom 12. Oktober 1988 - 3/8 RK 36/87 = SozR 2200 § 182b Nr 37). Unter diesen Voraussetzungen hat das BSG im Urteil vom 13. Mai 1982 (8 RK 8/81 = SozR 2200 § 182b Nr 24) in Fällen mongoloider Harn- und Stuhlinkontinenz den Anspruch auf Gewährung stark saugender Einmalwindeln bejaht.

Entgegen der Ansicht der Beklagten sind diese Voraussetzungen auch im vorliegenden Fall erfüllt. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG leidet die Klägerin an Harninkontinenz. Die kassenärztlich verordneten Einmalwindeln haben dann die Eigenschaft eines Hilfsmittels, wenn sie nicht nur hygienischen oder pflegerischen Zwecken dienen, sondern die Klägerin in die Lage versetzen, Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen. Hierzu gehört auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Dem LSG ist darin zu folgen, daß die Klägerin ohne die Windeln keine Möglichkeit hätte, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, weil die unkontrollierte Harnabgabe einen abstoßenden Geruch erzeugen und dadurch eine Ablehnung der Klägerin durch ihre Mitmenschen bewirken würde. Hierbei kann die Klägerin nicht auf die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen verwiesen werden, weil nicht ersichtlich ist, wie die Wirkungen des unkontrollierten Harnabganges durch ständige Pflegeleistungen während des Kontaktes der Klägerin mit anderen Menschen verhindert oder unverzüglich beseitigt werden könnten.

Die Einmalwindeln sind auch keine Gegenstände des täglichen Bedarfs. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG werden die von der Klägerin benötigten Windeleinlagen von gesunden Menschen ihres Alters nicht benötigt. Bei der Klägerin dienen die Windeln im übrigen nicht dem Zweck, die Pflege zu erleichtern, sondern die sonst notwendige Pflege gerade zu vermeiden.

Das LSG hat im vorliegenden Fall festgestellt, daß die Einmalwindeln wirtschaftlich sind und sich dabei auf die Sachkompetenz des verordnenden Kassenarztes gestützt. Hierbei bewegte sich das LSG im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), die von der Beklagten nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen worden ist. Die Beklagte bezweifelt lediglich die Richtigkeit der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit durch den behandelnden Kassenarzt. Soweit das LSG die Wirtschaftlichkeit von Einmalwindeln im Vergleich zu Stoffwindeln offengelassen hat, haben seine Ausführungen allgemeinen Charakter. Es ist durchaus möglich, daß in vielen anderen Fällen oder sogar generell mehrfach benutzbare Stoffwindeln wirtschaftlicher und umweltverträglicher sind als Einmalwindeln. Im vorliegenden Fall lag jedoch eine kassenärztliche Verordnung vor, die dem LSG ausreichen durfte.

Nach allem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Haufe-Index 517909

BSGE, 245

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