Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten. Absehen von der Bestellung eines besonderen Vertreters. keine offensichtliche Haltlosigkeit des Vorbringens. absoluter Revisionsgrund
Orientierungssatz
1. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht von der Bestellung eines Betreuers abgesehen hat (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 23/11 R = SozR 4-1500 § 72 Nr 2).
2. Ausnahmen von der Vertreterbestellung sind zulässig, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (vgl BSG vom 28.5.1957 - 3 RJ 98/54 = BSGE 5, 176), was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Kläger nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (vgl BSG vom 15.11.2012 - B 8 SO 3/11 R aaO).
Normenkette
SGG § 160a Abs 1 S. 1, § 160 Abs 2 Nr. 3, § 72 Abs 1, § 71 Abs 1; BGB § 104 Nr 2; SGG § 202; ZPO § 547 Nr 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerden des Klägers werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2012 - L 4 SO 128/12, L 4 SO 177/12, L 4 SO 124/12, L 4 SO 179/12 und L 4 SO 130/12 - und vom 24. April 2013 - L 4 SO 304/12 und L 4 SO 333/12 - sowie die Beschlüsse vom 1. November 2012 - L 4 SO 98/12 und L 4 SO 100/12 -, vom 25. Februar 2013 - L 4 SO 208/12 -, vom 4. März 2013 - L 4 SO 204/12, L 4 SO 209/12 und L 4 SO 313/12 - und vom 22. April 2013 - L 4 SO 306/12 - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Der Kläger begehrt höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) und die Übernahme von Kosten für verschiedene vom Beklagten abgelehnte weitere Hilfen (Kosten für eine Putz-/Haushaltshilfe, Bekleidungsbeihilfe, Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung, die Übernahme von Kosten des ADAC-Rechtsschutzes und der ADAC-Mitgliedsbeiträge, von Stromkosten, von Kosten für Essen auf Rädern und die Übernahme von Kosten für eine Medikamentenzuzahlung).
Der 1958 geborene, nicht unter Betreuung stehende Kläger, der an einer paranoiden Persön-lichkeitsstörung und einer rezidivierenden depressiven Störung leidet, ist voll erwerbsgemindert und bezieht Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII. Seine Anträge auf höhere Grundsicherungsleistungen und verschiedene weitere Leistungen lehnte der Beklagte ab. Die hiergegen beim Sozialgericht Gießen erhobenen Klagen (insgesamt 14 Verfahren) blieben ohne Erfolg.
Das hiergegen jeweils angerufene Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es von einer partiellen Geschäftsunfähigkeit des Klägers ausgehe. Die Berufungen des Klägers hat es sodann als unzulässig verworfen (Urteile vom 26.9.2012 und vom 24.4.2013 sowie Beschlüsse vom 1.11.2012, vom 25.2.2013, vom 4.3.2013 und vom 22.4.2013). Die Berufungen seien wegen der partiellen Geschäftsunfähigkeit bereits unzulässig. Der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger bedürfe es nicht. Die Berufungen seien in der Sache offensichtlich haltlos.
Mit den Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision in den bezeichneten Urteilen und Beschlüssen, die der Senat zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat, rügt der Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Das LSG habe zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 SGG abgesehen, weil auch in der Sache keine offensichtlich haltlose Rechtsverfolgung vorliege.
II. Die durch den vom Senat bestellten besonderen Vertreter des Klägers eingelegten Beschwerden wegen der Nichtzulassung der Revision sind zulässig; sie genügen hinsichtlich der geltend gemachten Verfahrensfehler den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Da die gerügten Verfahrensmängel auch vorliegen, konnten die angefochtenen Urteile und Beschlüsse gemäß § 160a Abs 5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die angefochtenen Entscheidungen beruhen auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den bereits in den Klage- und Berufungsverfahren prozessunfähigen Kläger abgesehen hat. Der Kläger war dadurch im Verfahren nicht wirksam vertreten (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass die Urteile und Beschlüsse des LSG auf ihm beruhen.
Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine solche partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
Eine solche partielle Prozessunfähigkeit im Hinblick auf die Führung von sozialgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten liegt nach den überzeugenden Feststellungen des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. U. in dem vom LSG beigezogenen psychiatrischen Gutachten vom 27.5.2012 zur Frage der Schuldfähigkeit wegen begangener Beleidigungen gegenüber Richtern und dem vom LSG selbst in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachten vom 9.1.2010 vor, wie der Senat im Einzelnen in dem zwischen den Beteiligten ergangenen Beschluss vom 8.4.2014 (B 8 SO 48/13 B) ausgeführt hat; hierauf wird im Einzelnen Bezug genommen.
In den Berufungsverfahren durfte nicht davon abgesehen werden, einen besonderen Vertreter für den partiell prozessunfähigen Kläger zu bestellen. Steht - wie vorliegend - die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und - wie hier - das Amtsgericht von der Bestellung eines Betreuers abgesehen hat (im Einzelnen zuletzt BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung dann für zulässig erachtet worden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 f), was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, der Kläger nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht von sich gibt oder wenn sein Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10).
Ein solches haltloses Begehren liegt aber nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass die (soweit ersichtlich erstmals) im Klagewege geltend gemachten Ansprüche des Klägers auf höhere bzw ergänzende Grundsicherungsleistungen ein haltloses Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz darstellen. Dass die geltend gemachten Ansprüche aus Sicht des LSG nicht bestehen, macht allein ein Vorbringen nicht haltlos. Es ist damit nicht von vornherein völlig ausgeschlossen, dass zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§ 106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: BSGE 74, 77 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 49 ff; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 92 RdNr 12 mwN) ein besonderer Vertreter oder ein von diesem bestellter Prozessbevollmächtigter in der Lage ist, im wohlverstandenen Interesse des Klägers sachdienliche Klageanträge mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren.
Das LSG wird ggf auch über die Kosten der Beschwerdeverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen
Dokument-Index HI13372354 |