Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung. Berufungsbegründungsfrist. Telefax. Wiedereinsetzung von Amts wegen. fristlose Kündigung wegen behaupteter unzulässiger Manipulationen bei Abrechnung von für Eigenbedarf entnommenen Waren. Darlegungs- und Beweislast bei von Arbeitnehmer vorgetragenem Rechtfertigungsgrund. Prozeßrecht

 

Orientierungssatz

Die Wiedereinsetzung kann nach § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO auch ohne Antrag gewährt werden, wenn Tatsachen offenkundig sind, die darauf schließen lassen, daß die Partei ohne ihr Verschulden oder ein ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ihres Prozeßbevollmächtigten gehindert war, die Frist einzuhalten.

Bei einer Rechtsmittelbegründung per Telefax muß bis 24.00 Uhr des letzten Tages der Begründungsfrist ein unterschriebener Schriftsatz beim Gericht eingangen sein, der eine ausreichende Rechtsmittelbegründung enthält.

Wenn erst nach 23.30 Uhr am letzten Tag der Frist versucht worden ist, eine mehr als 100-seitige Berufungsschrift an das Gericht zu faxen, so ist regelmäßig nicht offenkundig, daß unverschuldet bis 24.00 Uhr nur ein Teil des Schriftsatzes, nicht jedoch die letzte Seite mit der Unterschrift übermittelt worden ist.

 

Normenkette

ArbGG § 66 Abs. 1 S. 2; ZPO § 234 Abs. 3, § 236 Abs. 2 S. 2, § 85 Abs. 2, § 234 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Hamburg (Teilurteil vom 05.04.2001; Aktenzeichen 7 Sa 18/00)

ArbG Hamburg (Urteil vom 15.12.1999; Aktenzeichen 19 Ca 425/99)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 5. April 2001 – 7 Sa 18/00 – aufgehoben, soweit es hinsichtlich der Feststellungsanträge der Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 15. Dezember 1999 – 19 Ca 425/99 – stattgegeben hat.

In diesem Umfang wird die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen.

Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsinstanz bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen zwei durch den Beklagten ausgesprochene fristlose Kündigungen.

Die Klägerin war seit 15. September 1995 auf Grund des Arbeitsvertrages vom 17. Juli 1995 bei dem Beklagten als Apothekerin beschäftigt. Ab Dezember 1996 nahm sie auch Aufgaben im Bereich des Einkaufs für die Apotheke wahr; sie führte dabei ua. Verhandlungen mit den Lieferanten. Zuletzt erhielt die Klägerin eine monatliche Vergütung von DM 6.100,00 brutto.

Jeder Mitarbeiter der Beklagten – so auch die Klägerin – führte für sich in der Vergangenheit ein sogenanntes Konto-B-Buch. Dort trugen die Mitarbeiter selbständig jeweils die von ihnen aus dem Lager der Apotheke entnommenen Waren mit dem dazugehörigen Einkaufspreis ein. Gewöhnlich wurde zum Monatsende von dem Mitarbeiter der Gesamtpreis ermittelt und in die Kasse der Apotheke bezahlt. Ob dabei grundsätzlich auch die Möglichkeit bestand, daß ein Mitarbeiter sich unter bestimmten Voraussetzungen Gutschriften für vom Lieferanten erhaltene Waren eintragen konnte, um sie sodann mit dem Wert der entnommenen Waren zu verrechnen, ist zwischen den Parteien streitig. Das Konto-B-Buch der Klägerin lag stets, für die Mitarbeiter und den Beklagten frei zugänglich, in einem offenen Regal in der Apotheke. Dort trug die Klägerin im Laufe des Arbeitsverhältnisses für sich neben verschiedenen Entnahmen insgesamt Gutschriften im Wert von DM 5.811,65 ein, die sie entsprechend verrechnete. Unter dem Datum des 17. Juni 1999 enthält das Konto-B-Buch einen Gutschrifteintrag über DM 2.542,00 mit dem Vermerk “20 × Accutrend Sensor Set”; es handelte sich dabei um Diabetiker-Meßgeräte. Der dazugehörige Lieferschein enthält den Hinweis, die Lieferung sei im Rahmen des Kundenservices kostenlos.

Als sich das persönliche Verhältnis zwischen den Parteien verschlechterte, schlossen sie am 21. September 1999 einen Abwicklungsvertrag. Dieser sah eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Dezember 1999 und eine Abfindungszahlung des Beklagten in Höhe von DM 24.400,00 vor. Am 23. September 1999 übergab der Beklagte der Klägerin einen “Anhang” zum Abwicklungsvertrag vom 21. September 1999. Hierin sollte sich die Klägerin mit einer Kürzung der vereinbarten Abfindung einverstanden erklären für den Fall, daß sie mehr als 2 Wochen “aus nervlichen Gründen” der Arbeit fernbleiben sollte. Die Klägerin hat diesen “Anhang” nicht unterzeichnet. Am 27. September 1999 sprach der Beklagte der Klägerin eine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus. Zur Begründung gab er die Gutschriften der Klägerin im Konto-B-Buch an, von denen er nunmehr Kenntnis erhalten habe; die Rabatte der Lieferanten hätten nicht der Klägerin zugestanden, sondern seien für die Apotheke bestimmt gewesen. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1999 kündigte der Beklagte der Klägerin erneut fristlos.

Die Klägerin hat das Vorliegen von Kündigungsgründen bestritten. Sie hat behauptet, es sei ihr gestattet gewesen, bei Lieferung kostenloser, zusätzlicher Ware diese für sich zum Einkaufspreis als “Guthaben” in das Konto-B-Buch einzutragen. So sei sie auch bei der Eintragung vom 17. Juni 1999 verfahren. Die weitere, bei dem Beklagten beschäftigte Einkäuferin Frau A. habe dies ebenfalls so praktiziert. Sie habe nur die Waren entnommen, die sich aus ihrem Konto-B-Buch ergäben.

Die Klägerin hat, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, beantragt,

  • festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung vom 27. September 1999 nicht aufgelöst worden ist,
  • festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung des Beklagten vom 27. Oktober 1999 nicht aufgelöst worden ist.

Der Beklagte hat zur Stützung seines Klageabweisungsantrags behauptet, er habe zu keinem Zeitpunkt die Praxis der Klägerin hinsichtlich der Gutschriften bei kostenlosen Zusatzlieferungen genehmigt oder bestätigt. Vielmehr habe er erst am 26. September 1999 durch Fotokopien des Konto-B-Buches der Klägerin Kenntnis davon erlangt. Bei den Gutschriften, die die Mitarbeiterin A. vorgenommen habe, habe es sich ausschließlich um persönliche Geschenke der Lieferanten gehandelt. Schließlich habe die Klägerin über die Apotheke Tierarzneimittel im Werte von DM 19.950,60 sowie andere Waren im Werte von DM 2.071,55 bestellt, nach Lieferung ohne Bezahlung entnommen und für eigene Zwecke verbraucht.

Mit Urteil vom 15. Dezember 1999 hat das Arbeitsgericht ua. der Feststellungsklage stattgegeben. Die Berufungsbegründungsfrist für den Beklagten hat das Landesarbeitsgericht bis zum 10. April 2000 verlängert. Am 10. April 2000 ging per Telefax eine Berufungsbegründung ein. Der Empfang des über 100-seitigen Schriftsatzes beim Landesarbeitsgericht erfolgte allerdings ab Seite 66 erst am 11. April 2000 nach 0.00 Uhr, so daß auch die letzte Seite des Schriftsatzes mit der Unterschrift nach dem Akteninhalt erst am 11. April 2000 beim Landesarbeitsgericht eingegangen ist. Durch Teilurteil vom 5. April 2001 hat das Landesarbeitsgericht auf die Berufung des Beklagten das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich der Feststellungsanträge abgeändert und insoweit durch Teilurteil die Klage abgewiesen. Mit ihrer vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter. Über eine Widerklage des Beklagten hat das Landesarbeitsgericht noch nicht entschieden.

 

Entscheidungsgründe

  • Die Revision ist begründet. Die Berufung des Beklagten ist wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nach § 66 Abs. 1 ArbGG unzulässig. Die nach § 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG verlängerte Berufungsbegründungsfrist lief am 10. April 2000 ab. Der Berufungsbegründungsschriftsatz hätte deshalb bis zum 10. April 2000 24.00 Uhr beim Landesarbeitsgericht eingehen müssen. Dies war nicht der Fall.
  • Eine Berufungsbegründung per Telefax erfordert, daß die Aufzeichnung von dem automatisch arbeitenden Empfangsgerät des Gerichts bis 24.00 Uhr des letzten Tages der Begründungsfrist abgeschlossen ist (Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge ArbGG 4. Aufl. § 66 Rn. 7 mwN). Eine Berufungsbegründungsschrift muß insbesondere vom Rechtsmittelführer eigenhändig unterschrieben sein. Die Begründung einer Berufung erfolgt durch Einreichung eines Schriftsatzes bei dem Rechtsmittelgericht (§ 519 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Er muß den allgemeinen Vorschriften über vorbereitende Schriftsätze entsprechen (§ 519 Abs. 5 ZPO). Zu diesen gehört § 130 Nr. 6 ZPO, der die Unterschrift desjenigen fordert, der als Bevollmächtigter für die Partei handelt. Diese Vorschrift ist zwingend (BAG 5. Juli 1990 – 8 AZB 16/89 – BAGE 65, 255 mwN). Bei einer Begründung per Telefax bedeutet dies, daß neben einem Schriftsatz, der eine ausreichende Begründung enthält, jedenfalls die letzte Seite der Berufungsbegründung mit der Unterschrift bis 24.00 Uhr des letzten Tages der Begründungsfrist beim Gericht eingegangen sein muß. Nach dem Akteninhalt ist dies nicht geschehen. Bis 24.00 Uhr am 10. April 2000 war nur ein – allerdings größerer – Teil der Berufungsbegründung übermittelt, es fehlte aber insbesondere die Übermittlung der letzten Seite mit der erforderlichen Unterschrift.
  • Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf Antrag kann schon deshalb nicht mehr erfolgen, weil die Jahresfrist zur Wiedereinsetzung nach § 234 Abs. 3 ZPO abgelaufen ist.
  • Die Wiedereinsetzung kann zwar nach § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO auch ohne Antrag gewährt werden, wenn wie hier die versäumte Prozeßhandlung, die Berufungsbegründung, innerhalb der Antragsfrist nachgeholt worden ist. Dies setzt jedoch voraus, daß Tatsachen offenkundig sind (s. etwa BGH 24. Mai 2000 – III ZB 8/00NJW-RR 2000, 1590; Zöller/Greger ZPO 23. Aufl. § 236 Rn. 5 mwN), die darauf schließen lassen, daß der Beklagte ohne sein Verschulden oder ein ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden seiner Prozeßbevollmächtigten verhindert war, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Dafür sprechen nach dem Akteninhalt keine hinreichenden Anhaltspunkte. Wenn erst nach 23.30 Uhr am letzten Tag der Frist versucht worden ist, eine mehr als 100-seitige Berufungsbegründungsschrift an das Gericht zu faxen, so kann es auf den verschiedensten Ursachen beruhen, daß die Übermittlung nicht bis 24.00 Uhr vollständig gelungen ist. Insbesondere ist der Akte nicht zu entnehmen, weshalb, als sich die Übersendung des ganzen Schriftsatzes offenbar verzögerte, nicht wenigstens die Absendung der letzten Seite mit der Unterschrift so rechtzeitig erfolgt ist, daß sie vor 24.00 Uhr beim Gericht eingehen konnte.

    • Nachdem der Senat auf die Verspätung der Berufungsbegründung hingewiesen hat, hat der Beklagte zwar den genaueren Hergang der Absendung der Berufungsbegründung näher dargelegt. Auch dieser neue Sachvortrag kann jedoch die Wiedereinsetzung nicht rechtfertigen. Es kann dahinstehen, ob das weitere Vorbringen des Beklagten zur Wiedereinsetzung auch ohne anwaltliche Versicherung der sachbearbeitenden Rechtsanwältin ausgereicht hätte, eine Wiedereinsetzung auf Antrag zu begründen. Eine solche ist, wie bereits dargelegt, schon wegen Fristablaufs nicht mehr möglich. Es kann auch zu Gunsten des Beklagten davon ausgegangen werden, daß zur Verwirklichung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes die Voraussetzungen an eine Wiedereinsetzung von Amts wegen nicht überspannt werden dürfen, wenn dem Berufungsgericht die Fristversäumnis zunächst nicht aufgefallen ist und deshalb die Wiedereinsetzungsfrist abgelaufen ist. Im vorliegenden Fall kann jedoch auch eine großzügige Auslegung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung von Amts wegen (vgl. dazu BAG 2. Juli 1981 – 2 AZR 324/79 – BAGE 35, 364) nicht zur Berücksichtigung des neuen Sachvorbringens des Beklagten führen. Es findet sich in der Akte keinerlei Anhaltspunkt dafür, daß, wie der Beklagte nunmehr vorträgt, eine Angestellte des Anwaltsbüros die Fristversäumnis verschuldet und diesen Fehler der unterzeichnenden Anwältin verschwiegen hat, so daß uU selbst von deren Mitverschulden nach den Gesamtumständen nicht ausgegangen werden kann.
    • Der neue Sachvortrag aus dem Schriftsatz vom 8. März 2002 schließt auch nicht aus, daß ein dem Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnender Organisationsmangel darin liegt, daß offenbar nicht durch entsprechende Belehrung sichergestellt worden ist, bei verspätetem Beginn des Faxversands kurz vor Fristablauf den problemlos möglichen Weg des Einwurfs eines überlangen und deshalb für einen Faxversand in einer halben Stunde kaum geeigneten Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten des Gerichts zu wählen (zum Maßstab der Sorgfaltspflichten des Anwalts BGH 1. April 1998 – XII ZB 26/98 – NJW-RR 1998, 1361). Es kommt damit nicht mehr darauf an, daß auch das nachgeschobene Vorbringen zu einer wirksamen Ausgangskontrolle anhand der Sendeprotokolle unter den besonderen Umständen des Falles nicht ausreicht, ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten auszuschließen.
    • Würde die Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO nicht ohnehin dazu führen, daß das weitere, neue Vorbringen aus dem Schriftsatz vom 25. Juni 2002 nicht mehr zu berücksichtigen ist, würde jedenfalls die zweiwöchige Frist des § 234 Abs. 1 ZPO einer Verwertung entgegenstehen.

Rost, Bröhl, Eylert, Claes, Bartz

 

Fundstellen

ARST 2003, 264

NZA 2003, 573

AP, 0

EzA-SD 2002, 14

EzA

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