Entscheidungsstichwort (Thema)

Freistellung nach dem ArbWeitBiG NW und Lohnzahlungspflicht

 

Leitsatz (redaktionell)

Erfüllt der Arbeitgeber auf Antrag des Arbeitnehmers den gesetzlichen Anspruch auf Arbeitnehmerweiterbildung, indem er den Arbeitnehmer von der Arbeit freistellt, und besucht der Arbeitnehmer daraufhin die Veranstaltung, so hat der Arbeitgeber für die Zeit der Freistellung die Vergütung zu entrichten. Auf den Inhalt der Bildungsveranstaltung kommt es nicht an.

 

Orientierungssatz

Thema der Bildungsveranstaltung: Übungen in freier Rede.

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 14.04.1988; Aktenzeichen 4 (9) Sa 2089/86)

ArbG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 19.09.1986; Aktenzeichen 5 Ca 335/86)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Fortzahlung von Arbeitsentgelt nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (AWbG NW).

Der Kläger ist seit 1974 bei der Beklagten als Kraftfahrer beschäftigt. Am 25. Oktober 1985 teilte er der Beklagten schriftlich mit, in der Zeit vom 2. Dezember bis 6. Dezember 1985 an einer Bildungsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema "Übungen zur freien Rede" teilnehmen zu wollen.

Die Beklagte wies in ihrer Antwort vom 15. November 1985 darauf hin, daß sie das Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz für verfassungswidrig halte. Weiter erklärte sie wörtlich:

Ihr Antrag auf bezahlte Freizeit nach dem AWbG

ist der erste in unserem Unternehmen. In Anbe-

tracht der vorstehend geschilderten Unsicherheit

über die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes

haben wir die für uns zuständigen Arbeitgeberver-

bände um Rat ersucht.

Die Empfehlungen der Arbeitgeberverbände an uns

gehen dahin, Sie zwar für die genannte Veranstal-

tung freizustellen, ihnen aber für diesen Zeit-

raum ... zunächst kein Entgelt zu zahlen.

Wir unterstellen zunächst, daß sie den Zeitpunkt

ihrer Freistellung von der Arbeit gemäß § 5

Abs. (2) AWbG mit Herrn Z bzw. ihren Ar-

beitskollegen des Fuhrparks abgestimmt haben und

bitten Sie um Ihr Verständnis dafür, daß wir eine

evtl. Nachzahlung des in Frage stehenden Arbeits-

entgeltes unverzüglich vornehmen werden, sobald

das Bundesverfassungsgericht über die Verfas-

sungsbeschwerde gegen das Arbeitnehmerweiterbil-

dungsgesetz entschieden hat.

Der Kläger besuchte die Bildungsveranstaltung. Mit der vorliegenden Klage macht er die Fortzahlung des Entgelts einschließlich der Mehrarbeitsvergütung geltend.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.033,13 DM

brutto nebst 4 % Zinsen von 520,80 DM seit dem

13. Februar 1986 und von 512,33 DM seit dem

25. April 1986 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger weiter sein erstinstanzliches Ziel. Er rügt die rechtsfehlerhafte Anwendung der Vorschriften des AWbG NW sowie des § 286 ZPO. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Er hat gegen die Beklagte einen Anspruch nach § 7 AWbG NW i. V. mit § 1 Abs. 1 FeiertagslohnzahlungsG.

I. Das Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen gewährt den Arbeitnehmern ebenso wie das Bundesurlaubsgesetz (BAGE 39, 53 = AP Nr. 4 zu § 7 BUrlG Übertragung; BAGE 59, 154, 161 = AP Nr. 22 zu § 11 BUrlG) und das Hessische Bildungsurlaubsgesetz (Senatsurteil vom 9. Februar 1993 - 9 AZR 648/90 - zur Veröffentlichung vorgesehen) einen gesetzlich bedingten Freistellungsanspruch. Das ergibt sich aus § 1 Abs. 1 AWbG NW, wonach die Arbeitnehmerweiterbildung über die Freistellung von der Arbeit erfolgt. Soweit das Landesarbeitsgericht im Gesetz Formulierungen wie "Bildungsurlaub gewähren, erteilen, genehmigen" vermißt und daraus folgert, es bedürfe keiner Handlung des Arbeitgebers, um den Anspruch des Arbeitnehmers zu verwirklichen, verkennt es den Inhalt des AWbG NW. Dieses Gesetz gewährt Arbeitnehmern ebensowenig wie das Bundesurlaubsgesetz oder die Bildungsurlaubsgesetze der Länder ein Selbstbeurlaubungsrecht. Wenn die Voraussetzungen des Gesetzes vorliegen, bedarf es einer Handlung des Arbeitgebers, um den Anspruch des Arbeitnehmers zu erfüllen. Der Arbeitgeber muß die Freistellung erklären. Das verdeutlicht § 5 Abs. 2 AWbG NW, wonach der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, die Erfüllung eines unstreitig bestehenden Anspruchs zu verweigern, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen (Gamillscheg, Anm. zu EzA § 7 AWbG NW Nr. 1).

II. Erfüllt der Gläubiger den Anspruch, indem er auf Antrag des Arbeitnehmers die Freistellung nach dem AWbG für einen bestimmten Zeitraum zum Besuch einer Bildungsveranstaltung erklärt, so hat der Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 1, § 7 AWbG NW den Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts, das er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte, wenn er der Arbeit ferngeblieben ist und die Veranstaltung besucht hat. Auf deren Inhalt kommt es dann ebensowenig an wie darauf, daß der Arbeitgeber die gesetzlichen Leistungsverweigerungsrechte hatte oder geltend machen konnte, die Veranstaltung sei nicht gemäß den Bestimmungen des Weiterbildungsgesetzes (WbG NW) durchgeführt worden, § 9 Satz 1 AWbG NW.

III. Die Beklagte hat den Kläger auf seinen Antrag nach dem AWbG freigestellt. Das wird durch ihre Erklärungen zur angeblichen Verfassungswidrigkeit des AWbG NW und den Hinweis auf § 5 Abs. 2 AWbG NW deutlich. Die Beklagte wollte damit sicherstellen, daß die dort genannten Hindernisse für die Freistellung nicht vorlagen. Nach Abgabe der gesetzlich geschuldeten Freistellungserklärung und tatsächlich erfolgter Freistellung ergibt sich die Zahlungsverpflichtung der Beklagten aus § 1 Abs. 1 und § 7 AWbG NW.

Das Bestehen der Pflicht wird nicht durch die Erklärung der Beklagten verhindert, sie handele auf Empfehlung ihres Arbeitgeberverbandes und werde zunächst kein Entgelt zahlen, aber eine eventuelle Nachzahlung unverzüglich vornehmen, sobald das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde gegen das Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz entschieden habe. Diese Erklärung hat keine Rechtswirkungen. Der Hinweis auf den nach ihrer Auffassung ungewissen Ausgang des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht über die von dem Landesverband der Arbeitgeberverbände erhobene Verfassungsbeschwerde begründet für die Beklagte in bezug auf ihre Lohnzahlungspflicht weder ein Leistungsverweigerungsrecht, noch konnte sie damit ihre Lohnzahlungspflicht ganz ausschließen. Die Beklagte hat den Kläger nicht etwa unter einer Bedingung oder unter einem Vorbehalt von der Arbeitspflicht befreit, sondern ihn ohne weiteres für den Besuch der Veranstaltung "Übungen zur freien Rede" freigestellt. Mit ihrer Erklärung, den Kläger entsprechend den Empfehlungen der Arbeitgeberverbände freizustellen, hat die Beklagte die nach dem Gesetz notwendigen Handlungen für die Arbeitsbefreiung des Klägers zum Besuch der Bildungsveranstaltung vom 2. - 6. Dezember 1985 vorgenommen. Sie hat damit das für die Erfüllung des Anspruchs Erforderliche getan. Mit dem Besuch der Bildungsveranstaltung ist der mit der Freistellungserklärung beabsichtigte Erfolg eingetreten, der Anspruch des Klägers auf Arbeitnehmerweiterbildung war für das Jahr 1985 damit erfüllt.

IV. Der Zinsanspruch beruht auf § 284 Abs. 1, § 288 Abs. 1 BGB, die Kostenentscheidung auf § 91 ZPO.

Dr. Leinemann Dr. Reinecke Dörner

Dr. Jesse Trümner

 

Fundstellen

Haufe-Index 441770

BAGE 73, 135-138 (LT1)

BAGE, 135

BB 1993, 1735

EBE/BAG 1993, 143-144 (LT1)

EzB AWbG Nordrhein-Westfalen § 7, Nr 45 (LT1)

NZA 1993, 1087

NZA 1993, 1087-1088 (LT1)

SAE 1994, 54-55 (LT1)

ZAP, EN-Nr 954/93 (S)

AP § 1 BildungsurlaubsG NRW (LT1), Nr 2

AR-Blattei, ES 130 Nr 10 (LT1)

EzA § 7 AWbG Nordrhein-Westfalen, Nr 9 (LT1)

MDR 1993, 1089 (LT1)

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