Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsratsanhörung vor Kündigung von Heimarbeitern

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Vor der Kündigung des Rechtsverhältnisses eines Heimarbeiters, der hauptsächlich für den Betrieb arbeitet, ist der Betriebsrat nach § 102 BetrVG anzuhören.

2. Verletzt der Arbeitgeber seine Pflicht zur ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats, ist die Kündigung des Heimarbeitsverhältnisses nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.

3. Berücksichtigt der Arbeitgeber bei der Auswahl der zu kündigenden Heimarbeiter soziale Gesichtspunkte, so hat er dem Betriebsrat die entsprechenden Daten aller Heimarbeiter mitzuteilen, die er in die Auswahlentscheidung einbezogen hat.

 

Normenkette

BetrVG §§ 6, 102

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 20.10.1993; Aktenzeichen 11 (16) Sa 886/93)

ArbG Wuppertal (Entscheidung vom 14.04.1993; Aktenzeichen 3 Ca 717/93)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über den Fortbestand ihres Heimarbeitsverhältnisses.

Die Beklagte gab der 1952 geborenen Klägerin seit November 1989 ständig Aufträge als Heimarbeiterin. Die Klägerin erhielt für ihre Heimarbeit im Jahr 1992 durchschnittlich 2.000,00 DM monatlich. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Das älteste Kind ist schwerbehindert. Der Grad der Behinderung beträgt 100.

Im Januar 1993 entschloß sich die Beklagte, einen Teil der Heimarbeit in den Betrieb zurückzuverlagern. Zu diesem Zweck sollten von den damals bestehenden 40 Heimarbeitsverhältnissen 10 beendet werden. Am 18. Januar 1993 leitete die Geschäftsführung dem Betriebsratsvorsitzenden die schriftliche Mitteilung über die beabsichtigte ordentliche Kündigung des Heimarbeitsverhältnisses der Klägerin zu. Der Betriebsratsvorsitzende unterzeichnete nach der Betriebsratssitzung am Morgen des 20. Januar 1993 die vorgedruckte Stellungnahme, daß keine Bedenken bestünden. Die Beklagte kündigte zum 15. Februar 1993. Das auf den 20. Januar 1993 datierte Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 25. Januar 1993 zu.

Mit der am 8. Februar 1993 eingegangenen Klageschrift hat die Klägerin den Fortbestand ihres Heimarbeitsverhältnisses gerichtlich geltend gemacht. Sie hat die Anhörung des Betriebsrats für nicht ordnungsgemäß gehalten.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt

festzustellen, daß das Heimarbeitsverhältnis der

Klägerin durch die Kündigung vom 20. Januar 1993

nicht beendet worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, ihre Personalreferentin E habe dem Betriebsrat mündlich die Auswahlgrundsätze erläutert und vor Absendung des Kündigungsschreibens den Eingang der Stellungnahme des Betriebsrats abgewartet.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung ist vom Landesarbeitsgericht nach Beweisaufnahme durch Vernehmung der Personalreferentin E zurückgewiesen worden. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin weiterhin ihren Feststellungsantrag. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist begründet. Denn die Kündigung des Heimarbeitsverhältnisses durch die Beklagte ist nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG rechtsunwirksam.

1. Bei der Kündigung des Heimarbeitsverhältnisses der Parteien war das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG zu beachten.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gelten auch die in Heimarbeit Beschäftigten, die in der Hauptsache für den Betrieb arbeiten, als Arbeiter i.S. des BetrVG. Die Klägerin war hauptsächlich für den Betrieb der Beklagten tätig. Deshalb war die Beklagte nach § 102 Abs. 1 Satz 1 und 2 BetrVG gegenüber dem Betriebsrat verpflichtet, vor der Kündigung den Betriebsrat ordnungsgemäß zu hören.

2. Die Beklagte hat ihre betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten aus § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verletzt. Die Kündigung ist deshalb nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.

a) Im Unterschied zum früheren Recht (vgl. zu § 66 Abs. 1 BetrVG 1952: BAG Urteile vom 15. September 1956 - 1 AZR 258/54 -, 14. Oktober 1965 - 2 AZR 466/64 - und 27. März 1969 - 2 AZR 422/68 - AP Nr. 1, 27 und 30 zu § 66 BetrVG 1952) enthält der seit 1972 geltende § 102 Abs. 1 BetrVG ausdrücklich eine besondere zivilrechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung (grundlegend: BAGE 26, 27, 33 f. = AP Nr. 2 zu § 102 BetrVG 1972, zu I 4 b bb der Gründe). Diese gilt für alle dem Betrieb angehörenden Arbeitnehmer. Sie hängt nicht von dem Bestehen eines arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes ab. Auf die Ansicht der Revision, die Klägerin sei Arbeitnehmerin im Sinne von § 1 KSchG gewesen, kam es somit nicht an.

b) Die Kündigung ist nicht schon deshalb unwirksam, weil nach der Behauptung der Revision der Arbeitgeber vor Abschluß des Anhörungsverfahrens gekündigt hat.

Nach der Überzeugung des Landesarbeitsgerichts hat die Zeugin E das Kündigungsschreiben erst nach Erhalt der Stellungnahme des Betriebsrats abgefaßt. Das Revisionsgericht ist nach § 561 Abs. 2 ZPO an die nicht angegriffene Feststellung gebunden.

c) Die Beklagte hat jedoch die Anforderungen, die die Rechtsprechung an die Unterrichtungspflicht über die Kündigungsgründe stellt, nicht vollständig erfüllt.

aa) Der Arbeitgeber hat den subjektiv als maßgebend erachteten Sachverhalt, aus dem er seinen Kündigungsentschluß ableitet, so genau und vollständig zu umschreiben, daß der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in die Lage versetzt wird, die Stichhaltigkeit der Gründe zu überprüfen, um sich über die eigene Stellungnahme schlüssig zu werden (BAG Urteil vom 18. Mai 1995 - 2 AZR 920/93 - AP Nr. 64 zu § 102 BetrVG 1972, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Das gilt auch, wenn der Betriebsrat vor Kündigungen, die nicht dem Kündigungsschutzgesetz unterfallen, anzuhören ist (BAG, aaO, zu II 3 der Gründe).

bb) Nach den von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist davon auszugehen, daß die Personalreferentin E mündlich über die von der Beklagten zugrundegelegten Auswahlkriterien "alleinstehend, Unterhaltspflichten für Kinder oder festes Einkommen des Ehemannes" unterrichtet hat. Die Angabe dieser Auswahlgrundsätze war erforderlich. Denn wenn ein Arbeitgeber eine Auswahl zwischen mehreren Personen trifft, zählen die dabei subjektiv zugrundegelegten Kriterien notwendigerweise zum Kündigungsgrund. Erst durch sie wird der Kündigungsentschluß personalisiert (BAGE 42, 151 = AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung). Das gilt auch, wenn keine Auswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorzunehmen ist, sondern der Arbeitgeber ausschließlich Billigkeitsgesichtspunkte berücksichtigt (BAG Urteil vom 26. Oktober 1995 - 2 AZR 1026/94 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

cc) Wird vom Arbeitgeber eine Auswahl anhand von subjektiven Kriterien getroffen, so hat der Arbeitgeber nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dem Betriebsrat zusätzlich auch die von ihm berücksichtigten persönlichen Verhältnisse der in seine Auswahlentscheidung einbezogenen Arbeitnehmer mitzuteilen. Nur dann kann der Betriebsrat überprüfen, ob der Arbeitgeber tatsächlich auch seinen eigenen Auswahlkriterien Rechnung getragen hat (BAG Urteil vom 26. Oktober 1995 - 2 AZR 1026/94 -).

Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts. Er wendet sie auch auf die Kündigung von Heimarbeitsverhältnissen an. Denn weder das Heimarbeitsgesetz noch das Betriebsverfassungsgesetz lassen zu, daß an den Umfang der Unterrichtungspflicht des Arbeitgebers bei der Anhörung des Betriebsrats vor der Kündigung von Heimarbeitern geringere Anforderungen gestellt werden.

Die Unterrichtung des Betriebsrats durch die Beklagte genügt nicht diesen Anforderungen. Nach ihrem Vorbringen und den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte lediglich ihre Auswahlkriterien und das Ergebnis ihrer Auswahlentscheidung mitgeteilt. Sie hat es unterlassen, die ihrer Entscheidung zugrunde liegenden persönlichen Verhältnisse der 30 ungekündigten Heimarbeiterinnen anzugeben. Die darlegungspflichtige Beklagte hat somit nicht vorgetragen, sie habe dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung die Nachprüfung ihrer Auswahlentscheidung ermöglicht.

3. Der Rechtsstreit muß entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zur weiteren Sachaufklärung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden. Die Beklagte hat zwar in der Revisionsverhandlung mangelnde Sachaufklärung durch das Landesarbeitsgericht gerügt. Ihre Rüge genügt jedoch nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 554 Abs. 3 Nr. 3 ZPO. Bei Verfahrensrügen, die auf eine Verletzung des § 139 ZPO gestützt werden, ist anzugeben, welche Fragen das Berufungsgericht hätte stellen müssen und was im einzelnen darauf erwidert worden wäre (BAGE 13, 340, 344 = AP Nr. 37 zu § 233 ZPO; BAG Urteil vom 7. Oktober 1987 - 5 AZR 116/86 - AP Nr. 15 zu § 611 BGB Persönlichkeitsrecht). Das ist nicht geschehen. Die Beklagte hat nicht angegeben, welcher Sachvortrag bei entsprechendem gerichtlichem Hinweis in der Berufungsinstanz erfolgt wäre.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Dörner Friedrich Düwell

Hammer Schwarz

 

Fundstellen

Haufe-Index 441776

BAGE 00, 00

BAGE, 245

BB 1996, 592

BB 1996, 592-593 (LT1-3)

DStR 1996, 976 (K)

BuW 1996, 229-230 (KT)

BetrVG, (19) (LT1-3)

ARST 1996, 80 (LT1-3)

NZA 1996, 380

NZA 1996, 380-381 (LT1-3)

AP § 102 BetrVG 1972 (LT1-3), Nr 74

AP, 0

AR-Blattei, ES 910 Nr 34 (LT1-3)

DSB 1996, Nr 4, 17 (S)

EzA-SD 1996, Nr 5, 11-13 (LT1-3)

EzA § 102 BetrVG 1972, Nr 88 (LT1-3)

Mitbestimmung 1997, Nr 1, 61 (L1-3)

RDV 1996, 188-189 (LT1-2)

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