Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtskraft des Verweisungsbeschlusses

 

Orientierungssatz

Einzelfall der Bestimmung des zuständigen Gerichts (hier: Arbeitsgericht) nach einem fehlerhaften Verweisungsbeschluß eines Landgerichts, der weder eine Begründung enthielt noch den Parteien zugestellt worden war.

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 18.12.1991; Aktenzeichen 18 Ca 7992/91)

 

Gründe

I.Der Kläger macht mit seiner vor dem Landgericht Stuttgart erhobenen Klage Vergütungsansprüche für Warentransporte geltend, die er mit Fahrzeugen des Beklagten für diesen durchführte. Nach übereinstimmenden Vortrag beider Parteien war der Kläger als "Subunternehmer" tätig.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Stuttgart wurden die Parteien nach Stellung der Anträge "darauf hingewiesen, daß der Kläger wenn nicht als Arbeitnehmer, so doch als arbeitnehmerähnliche Person tätig gewesen sein dürfte mit der Folge, daß die ausschließliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts gegeben ist (§ 5 ArbGG)". Nachdem der Beklagte die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gerügt und der Kläger hilfsweise den Antrag gestellt hatte, die Sache an das Arbeitsgericht Stuttgart zu verweisen, erging am 6. November 1991 folgender Beschluß:

Das Landgericht Stuttgart erklärt sich für unzu-

ständig und verweist den Rechtsstreit an das

sachlich und örtlich ausschließlich zuständige

Arbeitsgericht Stuttgart.

Dieser Beschluß wurde den Parteien nicht zugestellt. Die Akten wurden dem Arbeitsgericht Stuttgart übersandt. Dies sandte sie am 14. November 1991 zurück mit dem Hinweis, die Akte könne erst nach Rechtskraft des Beschlusses vom 6. November 1991 abgegeben werden. Mit weiterem Schreiben vom 19. November 1991 übersandte das Landgericht Stuttgart die Prozeßakte erneut an das Arbeitsgericht Stuttgart, da "Gründe für die Rücksendung ... - auch unter Berücksichtigung des neuen § 17 b GVG - nicht erkennbar" seien.

Mit Beschluß vom 27. November 1991 beraumte das Arbeitsgericht Stuttgart Kammerverhandlung an und wies daraufhin, "daß die Sache nach Ansicht des Vorsitzenden mangels Zustellung und Begründung des landgerichtlichen Verweisungsbeschlusses und folglich fehlender Rechtskraft ... nicht beim Arbeitsgericht anhängig geworden ist". Der Kläger vertrat dagegen die Ansicht, der Verweisungsbeschluß sei rechtskräftig geworden, da keine der Parteien sofortige Beschwerde eingelegt hätte. Im Kammertermin vom 18. Dezember 1991 erging nach Erörterung der Sach- und Rechtslage der Beschluß, die Sache "entsprechend § 36 ZPO zur Klärung der Zuständigkeitsfrage dem Bundesarbeitsgericht" vorzulegen.

II.Zuständig ist das Arbeitsgericht Stuttgart. 1.Die Voraussetzungen für die Durchführung des Bestimmungsverfahrens nach § 36 Nr. 6 ZPO sind erfüllt. Diese Vorschrift ist auch bei einem negativen Kompetenzkonflikt von Gerichten verschiedener Gerichtsbarkeiten anwendbar (BAGE 44, 246 = AP Nr. 34 zu § 36 ZPO). Das Gesuch um Bestimmung des zuständigen Gerichts kann von einer Partei oder durch ein Gericht gestellt werden. Das Bundesarbeitsgericht ist vorliegend für die beantragte Bestimmung zuständig, weil es in dem Zuständigkeitsstreit zwischen dem Arbeitsgericht und dem Landgericht zuerst um die Bestimmung angegangen worden ist (vgl. BAG Beschluß vom 29. September 1976 - 5 AR 232/76 - AP Nr. 20 zu § 36 ZPO, zu II 1 der Gründe, m.w.N.; BGHZ 44, 14, 15).

Allerdings hat das Arbeitsgericht Stuttgart die Sache dem Bundesarbeitsgericht nur deshalb vorgelegt, weil es der Ansicht war, der Verweisungsbeschluß sei wegen fehlender Zustellung und Begründung noch nicht rechtskräftig geworden. Es hat sich damit also nur für zur Zeit unzuständig erklärt. Möglicherweise hätte es die Übernahme nach Zustellung und Ablauf der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde nicht mehr abgelehnt. Doch auch in diesem Sonderfall eines negativen Kompetenzkonfliktes ist § 36 Nr. 6 ZPO von seinem Sinn und Zweck her entsprechend anwendbar, da die Ablehnung einer Entscheidung einer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbaren Rechtsverweigerung gleichkäme (BAGE 23, 167, 169 = AP Nr. 8 zu § 36 ZPO).

2.Der Verweisungsbeschluß des Landgerichts Stuttgart ist inzwischen rechtskräftig geworden.

a)Gemäß § 17 b Abs. 1 Satz 1 GVG n.F. wird der Rechtsstreit (erst) nach Eintritt der Rechtskraft des Verweisungsbeschlusses mit Eingang der Akten bei dem im Beschluß bezeichneten Gericht anhängig. Die Rechtskraft des Verweisungsbeschlusses tritt aber nach § 705 ZPO vor Ablauf der für die Einlegung des zulässigen Rechtsmittels bestimmten Frist nicht ein. § 705 ZPO ist auch auf Beschlüsse anwendbar, die mit der sofortigen Beschwerde (§ 577 ZPO) anfechtbar sind (vgl. nur Zöller/Stöber, ZPO, 17. Aufl., § 705 Rz 1).

Dazu gehören auch Verweisungsbeschlüsse gemäß § 17 a Abs. 2 GVG n.F., gegen die nach § 17 a Abs. 4 Satz 3 GVG n.F. die sofortige Beschwerde nach den Vorschriften der jeweils anzuwendenden Verfahrensordnung gegeben ist. Nach § 577 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist die Beschwerde binnen einer Notfrist von zwei Wochen einzulegen, die mit der Zustellung der Entscheidung beginnt. Bei unterbliebener oder wirkungsloser oder nicht datierbarer Zustellung sind jedoch die §§ 516, 552 ZPO analog anzuwenden, so daß die Beschwerdefrist spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung zu laufen beginnt (h.M. vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, ZPO, 50. Aufl., § 577 Anm. 2 b; Hans OLG Hamburg, Beschluß vom 29. Dezember 1982 - 8 W 309/82 - MdR 1983, 410).

b)Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus folgendes: Der am 6. November 1991 verkündete Verweisungsbeschluß ist den Parteien zu keiner Zeit formgerecht zugestellt worden. Eine Heilung dieses Mangels kommt nicht in Betracht (§ 187 Satz 2 ZPO). Das Landgericht durfte daher die Akten dem Arbeitsgericht Stuttgart weder sofort nach Erlaß des Verweisungsbeschlusses noch nach Rückgabe übersenden. Es hätte vielmehr den Beschluß begründen und die Zustellung veranlassen müssen. Erst nach Ablauf der Beschwerdefrist hätte es die Akten übersenden dürfen. Das Arbeitsgericht Stuttgart konnte die Akten daher ohne Verstoß gegen § 17 a Abs. 2 Satz 3 GVG n.F., wonach Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das verwiesen worden ist, bindend sind, an das Landgericht zurücksenden.

Die Rechtskraft ist auch nicht dadurch eingetreten, daß der Kläger der mit Beschluß vom 27. November 1991 geäußerten Rechtsansicht des Arbeitsgerichts widersprach und die Meinung vertrat, der Verweisungsbeschluß sei rechtskräftig geworden, da keine Partei sofortige Beschwerde eingelegt hätte. Es ist anerkannt, daß die Rechtskraft entgegen dem Wortlaut des § 705 Satz 1 ZPO vor Ablauf der Rechtsmittelfrist dann eintritt, wenn beide Parteien auf Rechtsmittel verzichten (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 20. Aufl., § 705 Rz 9; BGHZ 4, 314 = NJW 1952, 705). Ein einseitiger Verzicht reicht auch dann nicht aus, wenn die andere Partei nicht beschwert ist (OLG Karlsruhe, Beschluß vom 6. November 1970 - 10 W 86/70 - NJW 1971, 664). Ein beiderseitiger Rechtsmittelverzicht liegt hier nicht vor. Zwar kann ein Rechtsmittelverzicht auch durch schlüssiges Verhalten (konkludent) erklärt werden. Das kann aber nur dann angenommen werden, wenn die Handlung bei objektiver Betrachtung (BGH Beschluß vom 8. Juli 1981 - IV b ZB 660/80 - BB 1982, 151) unzweideutig erkennen läßt, daß die Partei auf das Rechtsmittel verzichten wollte. Daran fehlt es hier. Weder der Kläger noch der Beklagte haben mit hinreichender Deutlichkeit auf Rechtsmittel verzichtet.

Da der Verweisungsbeschluß noch nicht rechtskräftig war, die Voraussetzungen des § 17 b Abs. 1 Satz 1 GVG also schon deshalb noch nicht vorlagen, hat das Arbeitsgericht Stuttgart am 18. Dezember 1991 zu Recht die Übernahme der Sache verweigert.

Hätte das Bundesarbeitsgericht unmittelbar danach entschieden, so hätte es gleichwohl nicht das Landgericht Stuttgart als zuständiges Gericht bestimmen können. § 36 Nr. 6 ZPO ist im vorliegenden Fall, in dem es um die Frage geht, ob der Verweisungsbeschluß bereits rechtskräftig ist, nur entsprechend anwendbar. Die Vorschrift kann nicht dazu führen, daß anstelle der in § 17 a Abs. 4 GVG vorgesehenen Instanzen das nach § 36 Nr. 6 ZPO zuständige Gericht entscheidet. Das Bundesarbeitsgericht hätte also in diesem Fall nur feststellen können, daß der Rechtsstreit wegen fehlender Rechtskraft des Verweisungsbeschlusses noch immer vor dem Landgericht Stuttgart anhängig ist.

Eine solche Feststellung kommt aber nicht mehr in Betracht. Denn der Verweisungsbeschluß des Landgerichts Stuttgart vom 6. November 1991 ist nach Verkündung des Beschlusses vom 18. Dezember 1991 rechtskräftig geworden. Mangels Zustellung begann die Zweiwochenfrist des § 577 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung, also am 6. April 1992. Da der 20. April 1992 ein Feiertag war, endete sie mit dem 21. April 1992 (§ 222 Abs. 2 ZPO).

Wie sich bereits aus den §§ 516, 552 ZPO ergibt, wonach die Rechtsmittelfrist spätestens mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung beginnt, hindert die fehlende Begründung den Eintritt der Rechtskraft nicht.

3.Der Verweisungsbeschluß bindet das Arbeitsgericht Stuttgart, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist.

Rechtskräftige Verweisungsbeschlüsse sind für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, bindend. Dies ergibt sich aus § 48 Abs. 1 ArbGG n.F., § 17 a Abs. 2 Satz 3 GVG n.F. Die bindende Wirkung ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch in Bestimmungsverfahren des § 36 Nr. 6 ZPO zu beachten (vgl. statt vieler: BAG Beschluß vom 11. Januar 1982 - 5 AR 221/81 - AP Nr. 27 zu § 36 ZPO). Nur so kann der Zweck des § 17 a Abs. 2 Satz 3 GVG n.F. erreicht werden, unnötige und zu Lasten der Parteien gehende Zuständigkeitsstreitigkeiten zu vermeiden.

Auch fehlerhafte Verweisungsbeschlüsse sind grundsätzlich bindend. Lediglich eine offensichtlich gesetzwidrige Verweisung kann diese Bindungswirkung nicht entfalten (BAG Beschluß vom 29. September 1976 - 5 AR 232/76 - AP Nr. 20 zu § 36 ZPO, zu II 2 der Gründe; zum neuen Recht Beschlüsse vom 24. März 1992 - 5 AS 3/92 - sowie vom 26. März 1992 - 5 AS 7/91 - beide n.v.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 17. Aufl., § 36 Rz 25, 28; a.A. zum neuen Recht Zöller/Gummer, aaO, GVG § 17 a Rz 13). Offensichtlich gesetzwidrig ist ein Verweisungsbeschluß dann, wenn er jeder Rechtsgrundlage entbehrt, willkürlich gefaßt ist oder auf der Versagung rechtlichen Gehörs gegenüber den Verfahrensbeteiligten oder einem von ihnen beruht (BAG Beschluß vom 22. Januar 1992 - 5 AS 9/91 - n.v., zu II 3 a der Gründe; BGHZ 71, 69, 72 f. = NJW 1978, 1163, 1164).

Offensichtlich gesetzwidrig ist der Verweisungsbeschluß des Landgerichts Stuttgart jedoch nicht. Der Verweisungsbeschluß ist zwar entgegen § 17 a Abs. 4 Satz 2 GVG n.F., auf den § 48 Abs. 1 ArbGG n.F. verweist, nicht begründet worden. Dies ist aber nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Beschluß vom 23. August 1989 - 5 AS 10/89 - n.v.) zumindest dann unschädlich, wenn sich der Verweisungsgrund aus der Akte ergibt. Das ist hier der Fall. Das Landgericht ging erkennbar von seiner kurz zuvor geäußerten Rechtsansicht aus, daß das Arbeitsgericht deshalb zuständig ist, weil der Kläger Arbeitnehmer oder arbeitnehmerähnliche Person ist.

Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Reinecke

 

Fundstellen

Dokument-Index HI439684

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