Entscheidungsstichwort (Thema)

Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Beitritt. Finanzvorschriften. Eigenmittel. Grundrechte. Charta der Grundrechte. Niederlassungsfreiheit. Freier Dienstleistungsverkehr. Grundsätze, Ziele und Aufgaben der Verträge. Rechtsangleichung. Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union. Verpflichtung zur Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch abschreckende und wirksame Maßnahmen. Pflicht, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Mehrwertsteuer. Schwerer Mehrwertsteuerbetrug. Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Urteil eines Verfassungsgerichts, mit dem eine nationale, die Gründe für die Unterbrechung dieser Frist regelnde Bestimmung für ungültig erklärt wurde. Systemische Gefahr der Straflosigkeit. Schutz der Grundrechte. Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und der Bestimmtheit des Strafgesetzes. Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior). Grundsatz der Rechtssicherheit. Nationaler Schutzstandard für die Grundrechte. Pflicht der Gerichte eines Mitgliedstaats, Urteile des Verfassungsgerichts und/oder des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht unangewendet zu lassen. Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Urteile. Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts

 

Normenkette

AEUV Art. 325 Abs. 1; Richtlinie 2006/112/EG; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 49; SFI-Übereinkommen Art. 2 Abs. 1

 

Beteiligte

Lin

C. I.

C. O.

K. A.

L. N.

S. P.

 

Tenor

1.Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995, im Anhang des Rechtsakts des Rates vom 26. Juli 1995,

sind dahin auszulegen, dass

die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem im nationalen Recht geschützten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, auch wenn diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, bei denen es um schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt werden.

Dagegen sind die genannten Bestimmungen dahin auszulegen, dass

die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, einen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandard unangewendet zu lassen, der es gestattet, die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Rechtssachen durch Verfahrenshandlungen, die vor einer solchen Feststellung der Ungültigkeit vorgenommen wurden, auch im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile in Frage zu stellen.

2.Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind und deshalb die aus diesen Entscheidungen resultierende Rechtsprechung nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, da den betreffenden Richtern sonst ein Disziplinarverfahren droht, auch wenn sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass die Rechtsprechung gegen Bestimmungen des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung verstößt.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-107/23 PPU [Lin](

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov, Rumänien) mit Entscheidung vom 22. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

C. I.,

C. O.,

K. A.,

L. N.,

S. P.,

Beteiligter:

Statul român,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias, der Richter J.-C. Bonichot, S. Rodin, F. Biltgen, N. Piçarra, N. Jääskinen und J. Passer sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 2023,

...

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