Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Auslieferung eines Unionsbürgers an einen Drittstaat. Person, die die Unionsbürgerschaft nach Verlegung ihres Lebensmittelpunkts in den ersuchten Mitgliedstaat erworben hat. Anwendungsbereich des Unionsrechts. Nur für Inländer geltendes Auslieferungsverbot. Beschränkung der Freizügigkeit. Rechtfertigung durch die Vermeidung der Straflosigkeit. Verhältnismäßigkeit. Unterrichtung des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt. Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaats und des Herkunftsmitgliedstaats, den ersuchenden Drittstaat um Übermittlung der Strafakte zu ersuchen. Fehlen

 

Normenkette

AEUV Art. 18, 21

 

Beteiligte

Generalstaatsanwaltschaft Berlin

BY

 

Tenor

1. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie auf den Fall eines Unionsbürgers anwendbar sind, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, sich aber im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und Gegenstand eines von einem Drittstaat an diesen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchens ist, auch wenn der Unionsbürger seinen Lebensmittelpunkt in diesen anderen Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt verlegt hat, als er noch nicht den Status eines Unionsbürgers hatte.

2. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der gesuchte Unionsbürger besitzt, der Gegenstand eines von einem Drittstaat an einen anderen Mitgliedstaat gerichteten Auslieferungsersuchen ist, von diesem anderen Mitgliedstaat über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens unterrichtet worden ist, keiner dieser beiden Mitgliedstaaten verpflichtet ist, den ersuchenden Drittstaat darum zu ersuchen, ihm eine Kopie der Strafakte zu übermitteln, damit der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, die Möglichkeit der Übernahme der Strafverfolgung prüfen kann. Sofern er den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit die gesuchte Person besitzt, ordnungsgemäß über das Vorliegen des Auslieferungsersuchens, über sämtliche rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte, die der ersuchende Drittstaat im Rahmen des Auslieferungsersuchens übermittelt hat, sowie über jede Änderung der Situation der gesuchten Person, die für die etwaige Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls gegen diese Person relevant ist, informiert hat, kann der ersuchte Mitgliedstaat die gesuchte Person ausliefern, ohne abwarten zu müssen, dass der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, eine förmliche Entscheidung erlässt, mit der er auf die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, der zumindest denselben Sachverhalt betrifft wie das Auslieferungsersuchen, gegen die gesuchte Person verzichtet, wenn dieser Mitgliedstaat einen solchen Haftbefehl nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausstellt, die ihm der ersuchte Mitgliedstaat hierfür unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls gewährt hat.

3. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass der von einem Drittstaat um die Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, ersuchte Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, die Auslieferung abzulehnen und die Strafverfolgung selbst zu übernehmen, wenn ihm dies nach seinem nationalen Recht möglich ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2019, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von

BY,

Beteiligte:

Generalstaatsanwaltschaft Berlin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl, der Richter S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter C. Lycourgos, I. Jarukaitis und N. Jääskinen,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von BY, vertreten durch Rechtsanwalt K. Peters,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, R. Kanitz, F. Halabi und A. Berg als Bevollmächtigte,
  • von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, SC,
  • der griechischen Regierung, vertreten durch V. Karra, A. Magrippi und E. Tsaousi als Bevollmächtigte,
  • der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina, V. Soņeca und L. Juškeviča als Bevollmächtigte,
  • der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und M. Augustin als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevoll...

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