Leitsatz (amtlich)

Die Zustimmung zum Beginn des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist kann auch konkludent erklärt werden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 VVG).

 

Normenkette

VVG § 9 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

OLG Zweibrücken (Entscheidung vom 25.07.2022; Aktenzeichen 1 U 153/21)

LG Frankenthal (Pfalz) (Entscheidung vom 15.07.2021; Aktenzeichen 3 O 312/20)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beschluss des 1. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 25. Juli 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung der Klageanträge

- auf Auskunft über das zum Zeitpunkt des Widerrufs vorhandene Deckungskapital des Vertrages einschließlich Überschussanteilen und über den zu diesem Zeitpunkt berechneten ungezillmerten Rückkaufswert des Vertrages einschließlich Überschussanteilen

- auf Feststellung, dass die Beklagte infolge des Widerrufs vom 16. Mai 2020 zur Auszahlung des zu diesem Zeitpunkt berechneten ungezillmerten Rückkaufswerts einschließlich der Überschussanteile nebst Zinsen verpflichtet ist

- auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines nach erfolgten Auskünften zu beziffernden Betrages nebst Zinsen

- und auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von vorgerichtlich angefallenen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 2.289,72 € nebst Zinsen

zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 110.000 € festgesetzt.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Die Parteien streiten um die Rückabwicklung eines Rentenversicherungsvertrages.

Rz. 2

Die Klägerin beantragte am 8. Mai 2008 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten den Abschluss einer fondsgebundenen Rentenversicherung (sogenannte "Rürup-Rente"). Vorgesehener Versicherungsbeginn war der 1. März 2008. Auf der ersten Seite des Antrags hieß es:

"Mit dem 3. Tag nach der Unterzeichnung des Antrags bieten wir für den Fall des Todes oder einer durch einen Unfall verursachten Berufsunfähigkeit vorläufigen Versicherungsschutz im Rahmen der hierfür geltenden Bedingungen, die mit Ihrer Antragsdurchschrift verbunden sind."

Rz. 3

Der mit "Widerrufsrecht" überschriebene Abschnitt des Antrags oberhalb der Unterschriftszeile lautete wie folgt:

"Sie haben das Recht, Ihre Vertragserklärung innerhalb von 30 Tagen ohne Angabe von Gründen in Textform (z.B. Brief, Fax, E-Mail) zu widerrufen. Die Frist beginnt am Tag, nachdem Ihnen der Versicherungsschein, die Vertragsbestimmungen einschließlich unserer Versicherungsbedingungen sowie die Vertragsinformationen gemäß § 7 Abs. 2 VVG und diese Belehrung in Textform zugegangen sind. Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Der Widerruf ist zu richten an […]

Widerrufsfolgen

Im Falle eines wirksamen Widerrufs endet Ihr Versicherungsschutz und wir erstatten Ihnen den Teil Ihres Beitrags, der auf die Zeit nach Zugang des Widerrufs entfällt. Den Teil Ihres Beitrags, der auf die Zeit bis zum Zugang des Widerrufs entfällt, können wir einbehalten und dafür nur einen gegebenenfalls vorhandenen Rückkaufswert einschließlich der Überschussanteile nach § 169 VVG zahlen, wenn Sie zugestimmt haben, dass der Versicherungsschutz vor Ablauf der Widerrufsfrist beginnt. Haben Sie eine solche Zustimmung nicht erteilt oder beginnt der Versicherungsschutz erst nach der Widerrufsfrist, erstatten wir Ihnen Ihren gesamten Beitrag. Den jeweiligen Betrag erstatten wir Ihnen unverzüglich, spätestens 30 Tage nach Zugang des Widerrufs."

Rz. 4

Die Rechtsvorgängerin der Beklagten nahm den Antrag an und stellte am 28. Mai 2008 den Versicherungsschein aus. Die Klägerin nahm die Beitragszahlung auf und zog aus dem Vertrag steuerliche Vorteile. Am 1. August 2008 leistete sie nach Vereinbarung mit der Beklagten eine einmalige Sonderzahlung in Höhe von 5.500 €. Am 29. September 2009 stimmte die Klägerin geänderten Versicherungsbedingungen zu. Ab dem 1. August 2015 wurden die monatlichen Beiträge auf Antrag der Klägerin auf 25 € reduziert. Am 31. Dezember 2019 betrug das Fondsguthaben 85.619,18 €. Mit E-Mail vom 16. Mai 2020 erklärte die Klägerin den Widerruf und forderte die Beklagte erfolglos unter anderem zur Rückzahlung der erbrachten Leistungen auf.

Rz. 5

Die Klägerin hat im Wege der Stufenklage von der Beklagten Auskunft - bezogen auf die Zeit vom 1. März 2008 bis zum Zugang des Widerrufs am 16. Mai 2020 - über die in Abzug gebrachten Abschluss- und Vertriebskosten, Verwaltungskosten und Risikokosten, die tatsächlich investierten Beträge, die volle Höhe der auf den Vertrag zum 16. Mai 2020 entfallenden Bewertungsreserven sowie das zum Zeitpunkt des Zugangs des Widerrufs vorhandene Deckungskapital und den zu diesem Datum berechneten ungezillmerten Rückkaufswert, jeweils einschließlich Überschuss-anteilen, verlangt. Des Weiteren hat sie die Feststellung begehrt, dass sich der Versicherungsvertrag infolge des Widerrufs in ein Rückabwicklungsschuldverhältnis umgewandelt hat, aus dem die Beklagte die Herausgabe der empfangenen Leistungen und der damit gezogenen Nutzungen schuldet, hilfsweise dass die Beklagte zur Auszahlung des am 16. Mai 2020 vorhandenen ungezillmerten Rückkaufswertes einschließlich Überschussanteilen verpflichtet ist. Außerdem hat sie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines nach erfolgter Auskunft zu beziffernden Betrages nebst Zinsen verlangt. Schließlich hat sie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen beantragt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen.

Rz. 6

Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 7

Die Revision hat zum Teil Erfolg. Sie führt zur teilweisen Aufhebung der Berufungsentscheidung und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Rz. 8

I. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, dass der im Jahr 2020 erklärte Widerruf des Versicherungsvertrages nicht mehr wirksam habe erfolgen können, so dass dahinstehen könne, ob etwaige Ansprüche der Klägerin verwirkt seien. Dahinstehen könne, ob darüber zu belehren sei, dass im Falle eines Widerrufs ohne Zustimmung zum Beginn des Versicherungsschutzes vor Ablauf der Widerrufsfrist neben der Rückerstattung der Prämien auch eine Erstattung von Nutzungen durch den Versicherer geschuldet sei. Soweit die erteilte Widerrufsbelehrung hinsichtlich der Widerrufsfolgen fehlerhaft erfolgt sein sollte, handele es sich um einen derart marginalen Fehler, dass sich dies auf den Lauf der Widerrufsfrist nicht auswirke. Dass der Klägerin dies nicht mitgeteilt worden sei, schränke sie in ihrer Möglichkeit, das Widerrufsrecht auszuüben, nicht ein.

Rz. 9

Der Klägerin stehe der Auskunftsanspruch auch deshalb nicht zu, weil sie nicht über das erforderliche Auskunftsinteresse verfüge. Sie habe dem Beginn des Versicherungsschutzes vor Ablauf der Widerrufsfrist jedenfalls konkludent zugestimmt, sodass sich die Rückabwicklung des Vertrages auch im Falle des - wie nicht - wirksamen Widerrufs nach §§ 9, 152 VVG richte. Eine solche konkludente Zustimmung liege hier in dem Umstand, dass die Parteien nicht nur einen Versicherungsbeginn bereits zwei Monate vor Antragstellung vereinbart hätten, sondern die Beklagte im Versicherungsantrag ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass (teilweise) ein vorläufiger Versicherungsschutz bereits drei Tage nach Antragsunterzeichnung erfolge. Informationen über den danach zur Bezifferung des hypothetischen Rückabwicklungsanspruchs maßgeblichen Rückkaufswert könne sich die Klägerin aus den von der Beklagten übermittelten Informationen nebst jährlichen Standmitteilungen selbst verschaffen.

Rz. 10

II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nur teilweise stand.

Rz. 11

1. Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Auskunftsklage zum Teil bereits mangels Auskunftsinteresse unbegründet ist, da sich eine eventuelle Rückabwicklung des Vertrages nach § 9 Abs. 1, § 152 Abs. 2 VVG richtete und die Beklagte daher zu den allein für eine Rückabwicklung nach § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. in Verbindung mit § 346 BGB relevanten Daten keine Auskunft schuldet.

Rz. 12

a) Die Klägerin hat zugestimmt, dass der Versicherungsschutz vor Ende der Widerrufsfrist beginnt.

Rz. 13

(1) Die Zustimmung ist zwar nicht ausdrücklich, wohl aber konkludent erfolgt.

Rz. 14

(a) Eine Zustimmung zu einem vorzeitigen Beginn des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist ist nur konkludent erfolgt, wenn der vereinbarte Versicherungsbeginn - wie hier - noch vor dem Zeitpunkt der Antragstellung liegt und der Versicherungsnehmer über das grundsätzliche Bestehen eines Widerrufsrechts informiert ist (vgl. Knops in Bruck/Möller, VVG 10. Aufl. § 9 Rn. 15; Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, PK-VersR 4. Aufl. § 9 Rn. 17; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann, VVG 4. Aufl. § 9 Rn. 14; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 7. Aufl. § 9 Rn. 8; a.A. BeckOK-VVG/Brand, § 9 Rn. 14 [Stand: 1. August 2023]). Die Klägerin hat durch ihre Unterschrift auf dem Antrag, der einen entsprechenden Versicherungsbeginn vorsah, ausdrücklich nur ihren Willen zu einem Beginn des Versicherungsschutzes am 1. März 2008 und damit vor Antragstellung erklärt; dagegen hat sie nicht zum Ausdruck gebracht, sich auch darüber klargeworden zu sein, dass der Versicherungsschutz (folglich) vor Ende der Widerrufsfrist beginnt. Die Angaben im Antrag zur Gewährung vorläufigen Versicherungsschutzes sind in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung, da es sich dabei um einen auf gesonderter vertraglicher Grundlage beruhenden Versicherungsschutz außerhalb des hier in Rede stehenden Hauptvertrages handelt (vgl. Senatsurteil vom 26. April 2006 - IV ZR 248/04, VersR 2006, 913 Rn. 20).

Rz. 15

(b) Aus diesem Antrag folgt aber konkludent, dass sich die Klägerin des vorzeitigen Beginns des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist bewusst und damit einverstanden war.

Rz. 16

(aa) Voraussetzung für die Annahme einer konkludenten Zustimmungserklärung ist, dass der Versicherungsnehmer über das Widerrufsrecht belehrt wurde oder der Versicherer aufgrund anderer Umstände davon ausgehen konnte, diesem sei sein Widerrufsrecht bekannt gewesen. Andernfalls bringt der Versicherungsnehmer aus Sicht des Erklärungsempfängers nicht schlüssig zum Ausdruck, dass er mit dem Versicherungsbeginn vor Ablauf der Widerrufsfrist einverstanden ist (Senatsurteil vom 13. September 2017 - IV ZR 445/14, BGHZ 216, 1 Rn. 23).

Rz. 17

(bb) Entgegen der Ansicht der Revision ist die Klägerin in einer für diesen Zweck ausreichenden Weise über ihr Widerrufsrecht belehrt worden. Rechtsfehlerfrei hat es das Berufungsgericht ausreichen lassen, dass die Klägerin durch die in dem Antragsformular enthaltene Widerrufsbelehrung vor Abgabe ihrer Vertragserklärung über ihr Widerrufsrecht informiert war. Unerheblich ist hierfür, ob sich der Versicherungsnehmer durch diese Belehrung auch aller Rechtsfolgen des Widerrufs bewusst war. Es genügt die Kenntnis des Versicherungsnehmers vom Bestehen eines fristgebundenen Widerrufsrechts. Die im Rahmen des § 9 Abs. 1 VVG geforderte Kenntnis des Versicherungsnehmers von seinem Widerrufsrecht soll diesem nicht die sachgerechte Entscheidung über den Widerruf ermöglichen. Diesem Zweck dient bereits § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG, wonach die Widerrufsfrist nicht zu laufen beginnt, wenn der Versicherer den Versicherungsnehmer nicht auch ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen des Widerrufs belehrt hat. Für § 9 Abs. 1 VVG ist dagegen nur eine grundsätzliche Kenntnis von der Existenz des Widerrufsrechts und der dazu laufenden Frist erforderlich, um dem Verhalten des Versicherungsnehmers entnehmen zu können, dass er vor Ablauf dieser Frist mit dem Versicherungsschutz beginnen will.

Rz. 18

(2) Die ganz überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur geht auch zu Recht davon aus, dass der Versicherungsnehmer seine Zustimmung zu einem vorzeitigen Versicherungsschutz vor Ende der Widerrufsfrist im Ausgangspunkt - d.h. vorbehaltlich einer richtlinienkonformen Auslegung von § 9 Abs. 1 VVG - ebenfalls konkludent erklären kann (vgl. OLG Frankfurt a.M. VersR 2017, 1070 Rn. 27 f.; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. § 9 Rn. 16; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 7. Aufl. § 9 Rn. 8; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann, VVG 4. Aufl. § 9 Rn. 13; MünchKomm-VVG/Eberhardt, 3. Aufl. § 9 Rn. 23; HK-VVG/Schimikowski, 4. Aufl. § 9 Rn. 11 f.; Marlow/Spuhl, Das Neue VVG kompakt 4. Aufl. § 9 Rn. 139; Wandt/Ganster, VersR 2008, 425, 432; Funck, VersR 2008, 163, 166; BeckOK-VVG/Brand, § 9 Rn. 13 [Stand: 1. August 2023]; Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, PK-VersR 4. Aufl. § 9 Rn. 13, 17; vgl. Dörner/Staudinger, WM 2006, 1710, 1714; a.A. wohl Knops in Bruck/Möller, VVG 10. Aufl. § 9 Rn. 7, 15).

Rz. 19

(a) Für dieses Ergebnis sprechen zunächst der Wortlaut von § 9 Abs. 1 VVG und der systematische Vergleich dieser Vorschrift mit § 8 Abs. 3 Satz 2 VVG. Während das Erlöschen des Widerrufsrechts gemäß dieser Regelung einen "ausdrücklichen" Wunsch des Versicherungsnehmers nach einer vollständigen Vertragserfüllung voraussetzt, findet sich eine entsprechende Einschränkung in § 9 Abs. 1 VVG nicht. Von dessen weitem Wortlaut wird vielmehr auch eine konkludente Zustimmung umfasst.

Rz. 20

(b) Die Entstehungsgeschichte bestätigt diese Auslegung. So hat sich der Gesetzgeber bei der Schaffung von § 9 VVG bewusst für die Beibehaltung der inhaltsgleichen Regelungen des § 48c Abs. 5 VVG in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) und gegen eine Übernahme des zwischenzeitlich von der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vorgeschlagenen § 9 VVG-E (vgl. Abschlussbericht der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 19. April 2004, S. 200 f.) entschieden (vgl. BT-Drucks. 16/3945, 62). Anders als § 9 Abs. 1 Satz 1 VVG setzte § 9 Abs. 2 Satz 1 des Kommissionsentwurfs voraus, dass der Versicherungsnehmer dem Beginn des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist "ausdrücklich" zugestimmt hat. Die Nichtaufnahme dieses Zusatzes in § 9 Abs. 1 Satz 1 VVG zeigt, dass der Gesetzgeber auch die konkludente Zustimmung zu einem vorzeitigen Versicherungsschutz vor Ende der Widerrufsfrist genügen lassen wollte. Explizit bestätigt hat der Gesetzgeber dies im Rahmen der Begründung des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie zur Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht (BT-Drucks. 16/11643, 149 f.).

Rz. 21

(3) Ob der Entschluss des Gesetzgebers, für eine Zustimmung des Versicherungsnehmers nach § 9 Abs. 1 VVG auch eine konkludente Erteilung ausreichen zu lassen, im Einklang mit Art. 7 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG (ABl. EG L 271/16 vom 9. Oktober 2002 - Fernabsatzrichtlinie II) steht, bedarf keiner Entscheidung. Unabhängig von dem Vorliegen eines Fernabsatzgeschäftes könnte § 9 Abs. 1 VVG insoweit nicht abweichend von seinem Regelungsgehalt richtlinienkonform ausgelegt werden (a.A. BeckOK-VVG/Brand, § 9 Rn. 13 [Stand: 1. August 2023]; Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, PK-VersR 4. Aufl. § 9 Rn. 17; Dörner/Staudinger, WM 2006, 1710, 1714).

Rz. 22

(a) Bei § 9 Abs. 1 VVG handelt es sich um die inhaltsgleiche Nachfolgeregelung zu § 48c Abs. 5 VVG a.F., mit dem Art. 7 der vorgenannten Richtlinie umgesetzt werden sollte (vgl. Gesetzentwurf zur Änderung der Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen, BT-Drucks. 15/2946, 30 f.). Art. 7 Abs. 3 Satz 2 Fernabsatzrichtlinie II sieht vor, dass der Anbieter von einem Verbraucher eine Zahlung gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie nicht verlangen kann, wenn er vor Ende der Widerrufsfrist gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers mit der Vertragsausführung begonnen hat.

Rz. 23

(b) In der Literatur ist umstritten, ob Art. 7 Abs. 3 Satz 2 Fernabsatzrichtlinie II fordert, dass die Zustimmung des Verbrauchers zu einer Vertragsausführung schon vor Ende der Widerrufsfrist ausdrücklich sein muss (bejahend: BeckOK-VVG/Brand, § 9 Rn. 13 [Stand: 1. August 2023]; Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, PK-VersR 4. Aufl. § 9 Rn. 13, 17; Dörner/Staudinger, WM 2006, 1710, 1714; ablehnend: Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. § 9 Rn. 16; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG 7. Aufl. § 9 Rn. 8; Heinig/Makowsky in Looschelders/Pohlmann, VVG 4. Aufl. § 9 Rn. 13; HK-VVG/Schimikowski, 4. Aufl. § 9 Rn. 11; Wandt/Ganster, VersR 2008, 425, 432).

Rz. 24

(c) Die Frage nach der Auslegung der Richtlinie kann hier dahinstehen, weil sie nicht entscheidungserheblich ist. Es wäre nach deutschem Recht nicht möglich, eine eventuelle europarechtliche Vorgabe, nach der die Fernabsatzrichtlinie II fordert, dass der Verbraucher einer Vertragsausführung gerade auch im Hinblick auf deren Beginn vor Ende der Widerrufsfrist ausdrücklich zustimmt, im Wege richtlinienkonformer Auslegung oder Rechtsfortbildung von § 9 Abs. 1 VVG in nationales Recht umzusetzen.

Rz. 25

Wie oben ausgeführt wird vom Wortlaut des § 9 Abs. 1 VVG auch eine konkludente Zustimmung des Versicherungsnehmers zu einem vorzeitigen Beginn des Versicherungsschutzes vor Ende der Widerrufsfrist erfasst. Dies ist zugleich Ausdruck eines eindeutigen Regelungswillens des nationalen Gesetzgebers. Sein Ziel war es, mit § 9 VVG "unter Beachtung der Vorgaben der Fernabsatzrichtlinie II" die Rechtsfolgen des Widerrufs zu bestimmen (vgl. BT-Drucks. 16/3945, 62). Dabei ist der Gesetzgeber aber mit der unveränderten Übernahme von § 48c Abs. 5 VVG a.F. bewusst teilweise vom Vorschlag der VVG-Kommission abgewichen (vgl. BT-Drucks. aaO). Dieser sah - wie ausgeführt - eine ausdrückliche Zustimmung vor; auch die Kommission ging dabei davon aus, so den Vorgaben der Fernabsatzrichtlinie II gerecht zu werden (vgl. Abschlussbericht der Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts vom 19. April 2004, S. 27, 298, 299 f.). Da der Gesetzgeber im Bewusstsein dieser Abweichung vom Kommissionsvorschlag annahm, mit § 9 VVG einen "angemessenen Schutz" der Interessen des Versicherungsnehmers zu gewährleisten (vgl. BT-Drucks. aaO), kann seine Regelung nicht als planwidrig unvollständige Umsetzung der Richtlinie angesehen werden. Die Entscheidung des Gesetzgebers kann angesichts dessen nicht im Wege richtlinienkonformer Auslegung oder Rechtsfortbildung geändert werden (vgl. zur Grenze auch Senatsurteile vom 24. Juni 2020 - IV ZR 275/19, VersR 2020, 1030 Rn. 24 f.; vom 28. Juni 2017 - IV ZR 440/14, BGHZ 215, 126 Rn. 24 f. m.w.N.). Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zu dieser Frage ist daher nicht geboten. Selbst wenn das nationale Umsetzungsrecht hinter den Anforderungen der einschlägigen europäischen Richtlinien zurückbleiben sollte, ist der Gerichtshof nicht um Vorabentscheidung nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zu ersuchen, wenn das nationale Recht im Privatrechtsverkehr nicht richtlinienkonform ausgelegt oder fortgebildet werden kann; die Frage nach der Auslegung des Richtlinienrechts ist für das deutsche Gericht dann nicht entscheidungserheblich (vgl. Senatsurteil vom 28. Juni 2017 aaO Rn. 22).

Rz. 26

b) Das Berufungsgericht ist danach zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Auskunft zu den Verwaltungs- und Risikokosten sowie den investierten Beträgen und den Bewertungsreserven hat, da diese Angaben für eine Rückabwicklung ohne Bedeutung sind, die sich hier nach § 9 Abs. 1 Satz 2, § 152 Abs. 2 Satz 2 VVG richtete, falls ihre übrigen Voraussetzungen gegeben sein sollten. Ein Auskunftsinteresse hinsichtlich der Abschluss- und Vertriebskosten besteht ebenfalls nicht, da diese zur Bezifferung eines Zahlungsanspruchs der Klägerin nicht erforderlich sind. Der Rückkaufswert bestimmt sich gemäß § 152 Abs. 2 VVG nach § 169 VVG, jedoch nach dem ungezillmerten Deckungskapital ohne Verrechnung der Abschluss- und Vertriebskosten (vgl. Senatsurteil vom 11. Oktober 2023 - IV ZR 41/22, VersR 2023, 1504 Rn. 54).

Rz. 27

c) Den Antrag auf Auskunft über den Rückkaufswert - und dementsprechend das Deckungskapital - konnte das Berufungsgericht dagegen nicht mit der gegebenen Begründung zurückweisen.

Rz. 28

Nach § 242 BGB trifft den Schuldner im Rahmen einer Rechtsbeziehung ausnahmsweise eine Auskunftspflicht, wenn der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen ist und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben kann. Die Zubilligung des Auskunftsanspruchs hat unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen (vgl. Senatsurteil vom 27. September 2023 - IV ZR 177/22, VersR 2023, 1514 Rn. 30 m.w.N.). Zu der zwischen den Parteien streitigen Frage, ob die Klägerin den Rückkaufswert zum für eine Rückabwicklung maßgeblichen Zeitpunkt aus den ihr bereits übermittelten Informationen selbst entnehmen kann, hat das Berufungsgericht keine wirksamen Feststellungen getroffen, da nicht ersichtlich ist, von welchem Zeitpunkt es bei seiner nicht näher begründeten Annahme, die Klägerin vermöge den Rückkaufswert anhand der ihr vorliegenden Informationen einschließlich der jährlichen Standmitteilungen zu bestimmen, ausgegangen ist. Das wäre - falls die Voraussetzungen einer Rückabwicklung im Übrigen vorliegen - nachzuholen.

Rz. 29

d) Abweisungsreif war danach auch bereits der Hauptantrag auf Feststellung eines Rückabwicklungsverhältnisses, das die Anwendbarkeit von § 357 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. in Verbindung mit § 346 BGB voraussetzt.

Rz. 30

2. Zu Unrecht ist das Berufungsgericht aber davon ausgegangen, dass die Klage auch im Übrigen unbegründet ist, weil der Widerruf verfristet gewesen sei. Die Widerrufsfrist begann gemäß § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG nicht zu laufen, weil die Beklagte die Klägerin nicht ordnungsgemäß über das Widerrufsrecht belehrt hatte.

Rz. 31

a) Wie der Senat nach Erlass der Berufungsentscheidung mit Urteil vom 11. Oktober 2023 (IV ZR 40/22, VersR 2023, 1512 Rn. 12 ff.) entschieden und im Einzelnen begründet hat, gehört zur ordnungsgemäßen Belehrung im Sinne von § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VVG für den Fall, dass der Versicherungsschutz nicht vor dem Ende der Widerrufsfrist beginnt, neben dem Hinweis auf die Rückgewähr empfangener Leistungen auch der Hinweis auf die herauszugebenden gezogenen Nutzungen; daran fehlt es hier. Der Hinweis kann nur dann entbehrlich sein, wenn zum Zeitpunkt der Belehrungserteilung bereits alle Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von § 9 Abs. 1, § 152 VVG vorgelegen hätten und deshalb eine Herausgabe von Nutzungen nach §§ 346 ff. BGB nicht mehr hätte geschuldet werden können (Senatsurteil vom 11. Oktober 2023 aaO Rn. 16). Das ist hier nicht der Fall. Die Anwendung von § 9 Abs. 1, § 152 Abs. 2 VVG kommt nur in Betracht, wenn der Versicherungsnehmer einem vorzeitigen Beginn des Versicherungsschutzes zugestimmt hat (Senatsurteil vom 11. Oktober 2023 aaO Rn. 17 m.w.N.). Dies setzt jedoch auch den tatsächlichen Beginn des Versicherungsschutzes vor dem Ende der Widerrufsfrist voraus. Beginnt der Versicherungsschutz nicht vor Ende der Widerrufsfrist, so findet § 9 VVG keine Anwendung (Senatsurteil vom 11. Oktober 2023 aaO). Nach § 37 Abs. 2 VVG beginnt der Versicherungsschutz grundsätzlich erst, wenn der Versicherungsnehmer die einmalige oder die erste Prämie gezahlt hat. Ob das für den hier in Rede stehenden Vertrag vor Ende der Widerrufsfrist der Fall sein würde, stand zur Zeit der Belehrungserteilung im Antragsformular noch nicht fest. Schließlich hat der Senat auch entschieden, dass die fehlende Belehrung über den möglichen Nutzungsherausgabeanspruch nicht nur ein geringfügiger Belehrungsfehler ist, der einer Ausübung des Widerrufsrechts nach § 242 BGB entgegenstünde (Senatsurteil vom 11. Oktober 2023 aaO Rn. 24).

Rz. 32

b) Danach kann offenbleiben, ob die Widerrufsbelehrung aus weiteren Gründen nicht geeignet war, die Widerrufsfrist in Gang zu setzen.

Rz. 33

III. Das angefochtene Urteil ist daher teilweise aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat bisher dahinstehen lassen, ob besonders gravierende Umstände des Einzelfalls vorliegen, aufgrund derer die Geltendmachung des Widerspruchsrechts ausnahmsweise Treu und Glauben widersprechen könnte (vgl. Senatsurteil vom 15. März 2023 - IV ZR 40/21, VersR 2023, 631 Rn. 25). Dies wird im Rahmen der ihm obliegenden tatrichterlichen Würdigung festzustellen sein.

Prof. Dr. Karczewski     

Dr. Brockmöller     

Dr. Bußmann

Dr. Götz     

Piontek     

 

Fundstellen

Haufe-Index 16191237

NJW 2024, 1189

WM 2024, 350

JZ 2024, 150

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