Leitsatz (amtlich)

a) Nach § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht grundsätzlich die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Ob das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet, der nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO ausnahmsweise eine Zurückverweisung an das Gericht des ersten Rechtszugs ermöglicht, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen.

b) Sieht der Geschäftsverteilungsplan keine Spezialzuständigkeit einer Zivilkammer nach § 348 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e ZPO vor, ist bei einer Entscheidung durch den Einzelrichter nicht schon wegen des Umstands, dass Arzthaftungssachen grundsätzlich vom voll besetzten Spruchkörper zu verhandeln sind, ein Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter gegeben.

 

Normenkette

ZPO § 141 Abs. 1, §§ 448, 348 Abs. 1 Buchst. e, § 538 Abs. 1, 2 S. 1 Nr. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 03.11.2011; Aktenzeichen 22 U 179/10)

LG Darmstadt (Urteil vom 04.10.2010; Aktenzeichen 1 O 478/08)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten zu 1) und 3) wird das Urteil des 22. Zivilsenats in Darmstadt des OLG Frankfurt vom 3.11.2011 aufgehoben, soweit zu deren Nachteil entschieden worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Die Klägerin leidet seit der Entbindung ihrer Tochter am 16.7.2005 unter dem sog. Sheehan-Syndrom (postpartale Hypophysenvorderlappeninsuffizienz). Sie führt dies auf einen postpartalen Blutschock zurück, der durch eine rechtzeitige Gabe weiterer Bluttransfusionen nach einer Plazentalösungsstörung hätte vermieden werden können. Sie macht die Beklagten zu 1) bis 5), welche als gynäkologische bzw. anästhesistische Belegärzte im Krankenhaus tätig waren, für ihre Schädigung verantwortlich.

Rz. 2

Das LG hat die auf Schmerzensgeld, Schmerzensgeldrente, Verdienstausfall und Feststellung von Zukunftsschäden gerichtete Klage abgewiesen, weil die Klägerin die Gabe weiterer Blutkonserven abgelehnt habe. Das OLG hat auf die Berufung der Klägerin das landgerichtliche Urteil aufgehoben und auf den Hilfsantrag der Klägerin hin die Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen. Hiergegen richtet sich die vom erkennenden Senat zugelassene Revision der Beklagten zu 1) und 3) (nachfolgend: Beklagte), die ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgen.

 

Entscheidungsgründe

I.

Rz. 3

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückzuverweisen, weil dessen Verfahren an wesentlichen Mängeln leide und deshalb in zweiter Instanz eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig wäre (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO).

Rz. 4

Die Feststellung des LG, die Klägerin habe die Gabe weiterer Blutkonserven abgelehnt, sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LG hätte seine Überzeugung nicht allein auf die Parteivernehmung des Erstbeklagten nach § 448 ZPO stützen dürfen, weil keine Umstände vorlägen, die den für die Anwendung des § 448 ZPO erforderlichen "Anfangsbeweis" begründeten. Die Feststellung sei auch nicht im Wege einer Umdeutung der Parteivernehmung in eine Parteianhörung nach § 141 ZPO verfahrensfehlerfrei zustande gekommen. In diesem Falle wäre es nach den Grundsätzen des sog. Vier-Augen-Gespräches erforderlich gewesen, die Klägerin ebenfalls persönlich anzuhören. Wenn das LG der Auffassung gewesen sein sollte, eine Vier-Augen-Situation habe nicht vorgelegen, weil der Ehemann der Klägerin anwesend gewesen sei, hätte es gem. § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO klären müssen, ob dessen Zeugenvernehmung beantragt werde.

Rz. 5

Ein Verfahrensfehler liege auch darin, dass der Rechtsstreit mit seinen besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art durch den Einzelrichter statt durch die Kammer entschieden worden sei. Auch wenn der Geschäftsverteilungsplan des LG keine Spezialzuständigkeit für das Sachgebiet "Streitigkeiten über Ansprüche aus Heilbehandlungen" vorsehe, hätte der Einzelrichter ihn nach § 348 Abs. 3 Nr. 1 ZPO der Kammer zur Übernahme vorlegen müssen.

II.

Rz. 6

Die Revision hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Sache verfahrensfehlerhaft auf der Grundlage des § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO an das LG zurückverwiesen. Dies rügt die Revision mit Recht.

Rz. 7

1. Nach § 538 Abs. 1 ZPO hat das Berufungsgericht grundsätzlich die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Es darf gem. § 538 Abs. 2 ZPO die Sache nur ausnahmsweise an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, u.a. soweit das Verfahren im ersten Rechtszuge an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwendige Beweisaufnahme notwendig ist und eine Partei die Zurückverweisung beantragt (§ 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). In diesem Fall kommt eine Zurückverweisung nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine Instanz beendende Entscheidung sein kann. Ob ein solcher Mangel vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen, auch wenn das Berufungsgericht ihn nicht teilt (vgl. BGH, Urt. v. 10.12.1996 - VI ZR 314/95, NJW 1997, 1447; v. 13.7.2010 - VI ZR 254/09, VersR 2010, 1666 Rz. 8; BGH, Urt. v. 1.2.2010 - II ZR 209/08, NJW-RR 2010, 1048 Rz. 11; v. 14.6.2012 - IX ZR 150/11, NJW-RR 2012, 1207 Rz. 14 m.w.N.). Hiernach begründet es keinen Fehler im Verfahren der Vorinstanz, wenn das Berufungsgericht Parteivorbringen materiell-rechtlich anders beurteilt als das Erstgericht (vgl. BGH, Urt. v. 13.7.2010 - VI ZR 254/09, a.a.O., Rz. 15; BGH, Urt. v. 1.2.2010 - II ZR 209/08, a.a.O., Rz. 14; v. 14.6.2012 - IX ZR 150/11, a.a.O.). Ein Verfahrensfehler kann in einem solchen Fall auch nicht mit einer Verletzung der richterlichen Hinweis- und Fragepflicht (§ 139 ZPO) begründet werden. Eine unrichtige Rechtsansicht des Erstrichters darf nicht auf dem Umweg über eine angebliche Hinweispflicht gegenüber den Parteien in einen Verfahrensmangel umgedeutet werden, wenn auf der Grundlage der Auffassung des Erstgerichts kein Hinweis geboten war. Das Berufungsgericht muss vielmehr auch insoweit bei Prüfung der Frage, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, den Standpunkt des Erstgerichts zugrunde legen (BGH, Urt. v. 10.12.1996 - VI ZR 314/95, a.a.O., 1448; v. 13.7.2010 - VI ZR 254/09, a.a.O.; BGH, Urt. v. 14.6.2012 - IX ZR 150/11, a.a.O.).

Rz. 8

2. Nach diesen rechtlichen Maßstäben scheidet im Streitfall eine Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht schon deswegen aus, weil das erstinstanzliche Verfahren nicht an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine Instanz beendende Entscheidung sein kann.

Rz. 9

a) Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt nicht darin, dass das LG seine Überzeugung auf die Parteivernehmung des Beklagten zu 1) gestützt hat.

Rz. 10

Nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen reichte die Gabe von lediglich drei Erythrozytenkonzentraten nicht aus. Bei dieser Sachlage oblag es den Beklagten, darzulegen und zu beweisen, dass ein Behandlungsfehler dennoch nicht vorlag, weil die Klägerin die Gabe weiterer Blutkonserven abgelehnt hat. Unter diesen Umständen war es nicht verfahrensfehlerhaft, den Beklagten zu 1) gem. § 448 ZPO dazu zu vernehmen, ob es zu einer Verweigerung weiterer Bluttransfusionen seitens der Klägerin gekommen ist, nachdem das LG die Parteien darauf hingewiesen hatte, dass eine solche Vernehmung beabsichtigt sei, und den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hatte, ohne dass die Klägerin hiergegen Einwände erhoben hätte. Der Grundsatz der Waffengleichheit, der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf Gewährleistung eines fairen Prozesses und eines wirkungsvollen Rechtsschutzes erfordern gem. Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass einer Partei, die - wie die Beklagten - für ein Vier-Augen-Gespräch keinen Zeugen hat, Gelegenheit gegeben wird, ihre Darstellung des Gesprächs in den Prozess persönlich einzubringen. Zu diesem Zweck ist die Partei gem. § 448 ZPO zu vernehmen oder gem. § 141 ZPO anzuhören (vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2004 - III ZR 369/03, juris Rz. 3; Urt. v. 27.9.2005 - XI ZR 216/04, NJW-RR 2006, 61, 63, jeweils m.w.N.; BVerfG, NJW 2008, 2170, 2171). Diese Grundsätze gelten auch, wenn es sich - wie hier - um ein Sechs-Augen-Gespräch handelt, bei dem der allein zur Verfügung stehende Zeuge als Ehemann im Lager der Prozessgegnerin steht.

Rz. 11

Die Entscheidung über die Vernehmung einer Partei nach § 448 ZPO obliegt dem Ermessen des Tatrichters und ist nur darauf nachprüfbar, ob die rechtlichen Voraussetzungen verkannt worden sind oder das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt worden ist. Dass bei der vorliegenden Konstellation der einen Partei ein Zeuge zur Seite steht, während die Gegenseite sich auf keinen Zeugen stützen kann, stellt eine Benachteiligung dar, die im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 448 ZPO berücksichtigt werden kann, zumal das Gericht einer Parteianhörung der benachteiligten Partei gem. § 141 ZPO die gleiche Bedeutung wie einer Aussage bei einer Vernehmung zumessen kann (BGH, Urt. v. 16.7.1998 - I ZR 32/96, VersR 1999, 994, 995; Beschl. v. 25.9.2003 - III ZR 384/02, NJW 2003, 3636).

Rz. 12

b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war es ohne einen - im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorliegenden - Antrag der Klägerin nicht erforderlich, diese nach der Vernehmung des Beklagten zu 1) ebenfalls persönlich anzuhören. Der Klägerin stand nämlich ihr Ehemann als Zeuge zur Verfügung. Dieser war nach der Aussage des Beklagten zu 1) bei dem Aufklärungsgespräch dabei. Dem ist die Klägerin nicht entgegengetreten, vielmehr hat sie in ihrer Berufungsbegründung nunmehr ihren Ehemann auch zur behaupteten Verweigerung weiterer Bluttransfusionen als Zeugen benannt. Es lag mithin im Hinblick auf die Klägerin nicht die Situation eines Vier-Augen-Gesprächs vor.

Rz. 13

c) Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens liegt auch nicht deswegen vor, weil das LG nicht gem. § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO geklärt hat, ob die Zeugenvernehmung des Ehemanns beantragt wird. Das LG hatte vor der Beweisaufnahme darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, durch Einvernahme des Beklagten zu 1) als Partei zu klären, "ob es zu einer Verweigerung weiterer Bluttransfusionen seitens der Klägerin und/oder ihres Ehemannes gekommen" sei, und der Klägerin hierzu ausdrücklich Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Unter diesen Umständen bestand keine Pflicht des Gerichts zu klären, ob der Ehemann der Klägerin als Zeuge benannt werden soll, weil bereits der Gegenstand der erst vier Monate später erfolgten Beweisaufnahme der anwaltlich vertretenen Klägerin Anlass gab, deren Ehemann ggf. als Zeugen zu benennen.

Rz. 14

d) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts rechtfertigt auch der Umstand, dass der Einzelrichter entschieden hat, nicht eine Zurückverweisung an das LG. Dessen Geschäftsverteilungsplan sieht keine Spezialzuständigkeit einer Zivilkammer für das Sachgebiet "Streitigkeiten über Ansprüche aus Heilbehandlungen" (§ 348 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e ZPO) vor. Aus der nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO maßgeblichen Sicht des Einzelrichters bestand auch kein Anlass, den Rechtsstreit nach § 348 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 ZPO der Kammer zur Übernahme vorzulegen. Danach war keine Sache gegeben, welche besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies. Es lag ein Sachverständigengutachten vor, welches sich zunächst auf die Frage beschränken konnte, ob weitere Bluttransfusionen geboten waren und die Nichtverabreichung weiterer Konserven für den Schaden kausal war. Zudem stellte sich die Frage, ob ein Behandlungsfehler deswegen entfiel, weil sich die Klägerin geweigert hatte, die Verabreichung weiterer Blutkonserven zuzulassen. Die Klärung dieser Frage bedurfte keiner besonderen Kenntnisse im Arzthaftungsrecht, sondern entsprach der üblichen tatrichterlichen Würdigung. Alleine der Umstand, dass nach der Rechtsprechung des BGH Arzthaftungssachen grundsätzlich vom voll besetzten Spruchkörper zu verhandeln sind, reicht für die Annahme eines Verstoßes gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) im Hinblick auf die in § 348 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. e ZPO getroffene Regelung nicht aus.

Rz. 15

Gemäß § 348 Abs. 4 ZPO kann ein Rechtsmittel nicht auf eine unterlassene Vorlage an die Kammer gestützt werden. Dies bestätigt den Grundsatz, dass Entscheidungen eines unzuständigen Spruchorgans grundsätzlich hingenommen werden, um Streit über Zuständigkeitsfragen zu vermeiden (MünchKomm/ZPO/Deubner, 4. Aufl., § 348 Rz. 65 f.). Eine nicht mehr verständliche oder offensichtlich unhaltbare Missachtung der Zuständigkeitsnormen durch den Einzelrichter, die gegen das Willkürverbot verstoßen hätte und einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen könnte (vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2006 - VI ZR 4/06, BGHZ 170, 180 Rz. 5 zu § 526 Abs. 3 ZPO), liegt nicht vor. Der Hinweis des Berufungsgerichts auf die Rechtsprechung zu § 568 Satz 3 ZPO geht ins Leere, weil die dazu getroffenen Entscheidungen Fälle betrafen, in denen der Einzelrichter mit der Zulassungsentscheidung zugleich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bejaht hat, so dass er zwingend das Verfahren an das Kollegium hätte übertragen müssen, seine Entscheidung mithin objektiv willkürlich war und gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters verstieß (vgl. BGH, Beschl. v. 13.3.2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, 202 f.; v. 27.4.2010 - VIII ZB 81/09, juris Rz. 6; v. 22.11.2011 - VIII ZB 81/11, NJW-RR 2012, 125 Rz. 9).

Rz. 16

3. Nach alledem liegt eine rechtlich fehlerhafte Anwendung des § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO durch das Berufungsgericht vor. Das Berufungsurteil ist daher im Umfang der Anfechtung aufzuheben und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und eigenen Entscheidung in der Sache (§ 538 Abs. 1 ZPO) an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 4243007

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